Predigt im Gottesdienst zum Gedenken an die Reichspogromnacht

  • 09.11.2020
  • Prof. Dr. Matthias Morgenstern

Der Predigttext steht im 1. Buch Mose Kap. 32. Berichtet wird dort von der Heimkehr des Erzvaters Jakob, des Flüchtlings Jakob. Jakob war im Streit mit seinem Bruder Esau ins Zweistromland geflohen und kehrte nun in die Heimat zurück. Unterwegs überfiel ihn die Angst vor dem, was ihn zu Hause erwartete, die Angst vor Esau.

4Jakob aber schickte Boten vor sich her zu seinem Bruder Esau 5und befahl ihnen und sprach: So sprecht zu Esau: Jakob lässt dir sagen: Ich bin bisher bei Laban in der Fremde gewesen 6und habe Rinder und Esel, Schafe, Knechte und Mägde und habe ausgesandt, es dir, meinem Herrn, zu sagen, damit ich Gnade vor deinen Augen fände. 7Die Boten kamen zu Jakob zurück und sprachen: Wir kamen zu deinem Bruder Esau. Er zieht dir entgegen mit vierhundert Mann. 8Da fürchtete sich Jakob sehr und ihm wurde bange. Und er teilte das Volk, das bei ihm war, und die Schafe und die Rinder und die Kamele in zwei Lager 9und sprach: Wenn Esau über das eine Lager kommt und macht es nieder, so wird das andere entrinnen. 10Weiter sprach Jakob: Gott meines Vaters Abraham und Gott meines Vaters Isaak, der du zu mir gesagt hast: Zieh wieder in dein Land und zu deiner Verwandtschaft, ich will dir wohltun –11HERR, ich bin zu gering aller Barmherzigkeit und aller Treue, die du an mir getan hast; ich hatte nicht mehr als diesen Stab, als ich hier über den Jordan ging, und nun sind aus mir zwei Lager geworden.  12Errette mich von der Hand meines Bruders Esau; denn ich fürchte mich vor ihm, dass er komme und schlage mich, die Mütter samt den Kindern.  14Und er blieb die Nacht da…

 Was für eine Nacht! Was für eine Szene! Was für ein Gebet! Was für ein Flüchtling auf Wanderschaft!

HERR, ich bin zu gering aller Barmherzigkeit und aller Treue, die du an mir getan hast. Errette mich von der Hand meines Bruders!

Was hat Jakob nicht alles mitgemacht! Stress. Liebeskummer, Wirtschaftliche Krisen! Ein Familienstreit, in dem es um Gott ging und Gottes Segen, schließlich Eifersucht und Ehekrisen!

Die Mutter hatte die Zwillingsbrüder Jakob und Esau gegeneinander ausgespielt, der Vater, Isaak, hatte zum älteren Bruder Esau gehalten. Vor Esau hatte Jakob fliehen müssen – aufgrund schrecklicher Verwicklungen, aufgrund von Missverständnissen, Täuschungen und enttäuschten religiösen Erwartungen. Bei alledem war es um Gott gegangen, um Gottes Segen! Danach hatte Jakob bei seinem Onkel Laban im Osten gearbeitet. Er war ausgebeutet und betrogen worden – und hatte es schließlich zu einigem Wohlstand gebracht.

Familienprobleme. Frauengeschichten! Eine Beziehungskiste mit Rachel, in die er sich verliebt hatte. Dann die Heirat mit der Schwester Rachels, Lea. Wie furchtbar muss es (wenn wir einmal die Frauenperspektive einnehmen) für die ältere Schwester gewesen sein. Sie wusste: Immer, wenn Jakob bei ihr war, dachte er eigentlich an die andere. Und diese schreckliche Hochzeitsnacht, wie demütigend für Lea – Jakob wachte morgens auf, und die falsche Frau lag in seinem Bett.

Nun ist er auf dem Rückweg. Eigentlich ist er ein von vergangenen Krisen und Problem gezeichneter Mensch. So schaut er zurück auf die vergangenen Jahre. Als armer Flüchtling war er losgezogen. Nur seinen Wanderstab in der Hand. Dennoch hatte ihn Gott gesegnet. Er konnte es kaum glauben, wie Gott ihn in all diesen Jahren gesegnet hatte. Was war aus ihm geworden. Als junger Spund aus seiner Heimat vertrieben, war er nun ein Mann in den besten Jahren mit immerhin etwas Wohlstand.

Aber auf einmal war die Angst wieder da. Esau ist immer noch gefährlich! Es ist, als wäre alles wie früher. So sieht es in dieser Nacht aus, als Jakob betet:

HERR, ich bin zu gering aller Barmherzigkeit und aller Treue, die du an mir getan hast.

Was hast Du mir alles geschenkt! Doch nun rette mich bitte vor meinem Bruder.

In jüdischer Perspektive steht Jakob für das ganze Volk Israel. Die jüdische Auslegung hat diesen Auslegungstyp entwickelt, den wir typologische Auslegung nennen: Die Identifizierung mit einer biblischen Figur. Das bedeutet:

Wenn Juden den Jakob der Bibel sehen, von ihm hören, denken sie: Das ist Israel, das bin ich! Sie identifizieren sich mit ihm, dem Flüchtling.

Die Juden, die vor 82 Jahren die Reichspogromnacht in Leipzig erlebten, waren vor dem schrecklichen Jahr 1933 normale Menschen: glücklich oder unglücklich verheiratet; beruflich mit diesen und jenen Erfahrungen, Irrwegen oder auch Glückswegen, politisch engagiert oder auch nicht so engagiert, fröhliche oder auch nicht so fröhliche Zeitgenossen, eben normale Menschen mit ihren Begabungen, Zweifeln, gerade Wegen oder Umwegen auf der Lebensbahn. Jeder hat in seinem und ihrem Leben Sorgen und Probleme genug. Am 9. und 10. November 1938 war auf einmal klar. Es ging um ihre nackte Existenz.

„Errette mich von der Hand meines Bruders!“

Es gibt Situationen, da drängt alles hin zum Gebet. So nehmen Juden aller Zeiten in dieses Gebet Jakobs die Erfahrungen und Ängste ihrer jeweiligen Gegenwart mit hinein. Verfolgung, Flucht, Unsicherheit, Angst vor Esau, dem brutalen Bruder.

Esau, das war der erbitterte Feind, der hämisch auf Israel herabsah, als der erste Jerusalemer Tempel zerstört wurde. Das Brudervolk Israel wurde ins Babylonische Exil geführt (Obadja 11–12), und die Edomiter, die Nachkommen Esaus, standen feixend daneben. Esau, das war für die Weisen des Talmuds die Weltmacht Rom, die für die Zerstörung des zweiten Tempels verantwortlich war. Esau, das war für die Talmudgelehrten des Mittelalters das christliche gewordene Rom, das Christentum.

„Errette mich vor meinem Bruder Esau; denn ich fürchte mich vor ihm!“

Was für Erfahrungen gehören nicht alles mit hinein in dieses Gebet!

Gewalt und Entrechtung, die Gewalttaten des 9. und 10. November 1938, als auch in Leipzig in der Nacht Synagogen und jüdische Bethäuser brannten, Geschäfte und Wohnhäuser zerstört und ausgeraubt wurden.

Auch die große Synagoge der Jüdischen Gemeinde an der Gottschedstraße, Ecke Zentralstraße, die am 10. September 1855 eingeweiht worden war, ging in Flammen auf. Auch sie gehört hinein in dieses Gebet.

Auch die am Morgen des 10. November von der Gestapo in einer „Sonderaktion“ verhafteten Juden, in Leipzig waren es mehr als 500, gehören mit in dieses Gebet hinein. Viele wurden in die KZs Buchenwald und Sachsenhausen eingeliefert und dort wochenlang festgehalten. Sie alle gehören hinein in dieses Gebet. Durch Zerstörung, Verhaftungen und Pöbeleien, verbale und vor allem körperliche Gewalt und Folter sollte die Vertreibung der Juden aus Deutschland forciert werden.

„Errette mich vor meinem Bruder Esau; denn ich fürchte mich vor ihm!“

Die Reichspogromnacht markierte den Übergang von der Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung zur offenen und systematischen Verfolgung.

In den Akten aus dieser Zeit finde ich folgenden Befehl an eine SA-Gruppe:

„Sämtliche jüdische Geschäfte sind sofort von SA-Männern in Uniform zu zerstören. Jüdische Synagogen sind sofort in Brand zu stecken, jüdische Symbole sind sicherzustellen. Die Feuerwehr darf nicht eingreifen. Es sind nur Wohnhäuser arischer Deutscher zu schützen, allerdings müssen die Juden raus, da Arier in den nächsten Tagen dort einziehen werden.“[1]

Hinein in dieses Gebet gehört auch die schreckliche Tat vergangenes Jahr am Jom Kippur-Tag in Halle – jene Tat, die Juden in Deutschland wieder Todesangst und Schrecken eingejagt hat – mitsamt der Sorge, sie könnten – wie schon einmal vor 80 Jahren – wieder alleingelassen sein.

Errette mich von der Hand meines Bruders!“

Vielleicht ist ein Gebet die angemessenere sprachliche Form, um auf dieses Grauen zu reagieren als eine Gedenkrede, eine Betroffenheitsansprache eines Politikers.

In diesem gemeinsamen Gottesdienst hören wir diesen Text und beten ihn gemeinsam. Als Christen tun wir das aber in einer anderen Betroffenheit als es Juden tun. Wir wissen: Es waren in hoher Zahl Christen, jedenfalls getaufte Mitglieder der christlichen Gemeinde, die damals daneben standen, nicht eingriffen, sich sogar am Raubgut bereicherten und schuldig oder zumindest mitschuldig wurden. Sind wir – als Christen – Esau? Sind wir Edom?

Staunend nehmen wir wahr, dass diese biblische Geschichte dem feindlichen Bruder nicht abspricht, auf geheimnisvolle Weise dennoch Enkel Abrahams und Bruder Jakobs (=Israels) zu sein! Unser Staunen wird noch größer, wenn wir lesen, was danach im folgenden Kapitel steht: Dort wird nämlich von einer Versöhnung zwischen Jakob und Esau berichtet. Es heißt:

1Jakob hob seine Augen auf und sah seinen Bruder Esau kommen mit vierhundert Mann. Und er verteilte seine Kinder auf Lea und auf Rahel und auf die beiden Leibmägde  2und stellte die Mägde mit ihren Kindern vornean und Lea mit ihren Kindern dahinter und Rahel mit Josef zuletzt.  3Und er ging vor ihnen her und neigte sich siebenmal zur Erde, bis er zu seinem Bruder kam. 4Esau aber lief ihm entgegen und herzte ihn und fiel ihm um den Hals und küsste ihn und sie weinten

Diese Geschichte spricht tatsächlich von einer Versöhnung von Jakob und Esau. Esau lief seinem Bruder entgegen, umarmte ihn, küsste ihn und sie weinten! Auch Esau weinte. Die Brüder konnten sich versöhnen!

Der Midrasch, eine dichterische Auslegung des Bibeltextes, die entstand, als das römische Reich längst christlich geworden war, weist darauf hin, dass in den hebräischen Handschriften über dem Wort „er küsste ihn“ in merkwürdiger Weise Punkte stehen, die dort eigentlich nicht hingehören.

וַׄיִּׄשָּׁׄקֵ֑ׄהׄוּׄ

Er küsste ihn

Diese Punkte sind Teil einer Diskussion im Judentum über diesen Text. Die Punkte, so die Rabbinen, wollen andeuten, dass hinter diesem Wort noch etwas anderes steckt. Mit dem Kuss ist noch mehr gemeint. Einige Weisen sagten: Esaus Reue war gar nicht echt. Esau hat seine Emotionen nur geheuchelt. Eigentlich wollte er Jakob nicht küssen, sondern in den Hals beißen! Nein, sagte die andere Gruppe: Seine innere Bewegung war echt. Esau meint es ernst und wendet sich Jakob aus ganzem Herzen zu. (Genesis Rabba 78, 8). Für die Rabbinen im Talmud heißt das: Selbst nach den schrecklichen Gewalttaten Esaus, nach der Zerstörung des ersten und zweiten Tempels, ist eine Versöhnung wieder möglich. Wir glauben es Esau, dass seine Tränen echt sind. Samson Raphael Hirsch, der große jüdische Bibelausleger des 19. Jahrhunderts schreibt es so:

„Einen Kuss kann man heucheln, Thränen, die in solchen Augenblick ausbrechen, nicht. Dieser Kuss und diese Thränen lassen uns auch in Esau den Nachkommen Abrahams erkennen.“

Samson Raphael Hirsch hat es Esau, der christlichen Welt, geglaubt, dass die Tränen echt sind und nicht geheuchelt. Ob eine Versöhnung auch nach der Schoa, nach der Reichspogromnacht möglich ist? Dieser gemeinsame Gottesdienst mit dem Synagogenchor der Leipziger jüdischen Gemeinde, diese biblische Geschichte in ihrer jüdischen Auslegung, ist ein Angebot: Eine Option zu beten, zu weinen und sich künftig und in jeder Zukunft an die Seite Jakobs, die Seite Israels zu stellen. An die Seite derjenigen, die verleumdet und verfolgt werden. Amen.


[1] Brakelmann, 47.