Predigt im Gottesdienst zum Gedenken an die Reichspogromnacht am 9. November 2017

  • 09.11.2017
  • Rabbiner Dr. Walter Rothschild

Warum bin ich hier heute als Rabbiner eingeladen worden? Natürlich bin ich dankbar dafür, ohne Zweifel. Aber warum ich? Was soll ein Rabbiner zu den Ereignissen von 9. November 1938 in Deutschland und Österreich sagen? Wir machen zwar Gedenkfeiern in Synagogen und, wie gerade jetzt, in Orten, wo Synagogen früher standen, aber - hier, in einer Kirche?Das Judentum hat leider viel Erfahrung mit Zerstörung und Entweihung und Flucht und Exil. Der erste Tempel wurde 586 v.d.Z. zerstört und die überlebenden Juden nach Babylon verschleppt. Es entstand ein Versuch, das durch liturgische Poesie zu beschreiben und zu bearbeiten:''Ejcha joschwat badad ha-Ir rabati Am, hajitah kaAlmanah...'' ''Wie sitzt einsam die Stadt, die volkreiche, ist einer Witwe gleich geworden...'' steht in Klagelieder 1:1.Oder in Psalm 74:7 lesen wir: ''Schilchu baEsch Mikdaschecha, laAretz chillelu Mischkan-Sch'mecha.'' ''Sie stecken in Brand dein Heiligtum, entweihen zu Boden die Wohnung deines Namens...'' An dem Flusse Babylons haben sie geweint. (Ps. 137) Aber eine Hoffnung gab es, irgendwie, immer.Aber irgendwie war die Schoah etwas anderes als alle vorherigen Leidensperioden, und deswegen fällt es schwieriger, dieses Leid zu bearbeiten oder theologisch zu reagieren. Vielleicht ist das auch weil die Juden die jetzt hier sind nicht unbedingt den gleichen Schicksäle teilten von damals; viele kommen aus den GUS-Staaten, einige sind zum Judentum konvertiert, aber es fehlt an den Kontinuität. Sie waren nicht Augenzeugen und auch nicht die Kinder von (jüdischen) Augenzeugen. Man merkt das, jeden Tag, in jeder Gemeinde. Es gibt kaum deutsche Juden in Deutschland mehr.

Was damals 1938 zerstört worden ist, ist noch nicht geheilt und wird wahrscheinlich nie geheilt werden können.
Es hat mehrere jüdische Reaktionen auf diese Ereignisse gegeben,
Wie üblich in unseren Schriften, wie in 'Ejcha' ('Klagelieder') oder 'Ijjov' ('Hiob') oder den späteren Propheten, suchten einige fromme jüdische Denker eine Antwort in Selbst-Kritik - ''Wir hatten uns von Gott abgewendet, wir waren assimiliert, deswegen würden wir von Gott bestraft''. Dieser Antwort kann ich selber nicht akzeptieren, aber in den historischen theologischen Kontext kann ich ihn verstehen. Es passt zu rabbinische Reaktionen zu den 'Churban', der Zerstörung des zweiten Tempels und das Judentum in Erets Jisrael im Jahr 70ndZ - wobei die Rabbiner in den Talmud sagten, wir hatten uns gespaltet, und gegeneinander gekämpft, und deswegen ist es passiert.
Einige sagten im Gegensatz: ''Gott ist tot''; ''Gott hat uns nicht geholfen, wir werden Gott auch nicht mehr helfen, wir werden den Partnerschaftsvertrag, den Bund, den Brit kundigen. Wir werden ohne Gebet leben, wir werden keine jüdischen Partner suchen oder jüdische Familien gründen. Wir interessieren uns nicht mehr dafür. Schluss damit!'' Die wollten nicht weiter ''Baruch Atah Adonai, ohew et-Amo Jisrael'' sagen - ''Gelobt seist Du, Gott, der sein Volk Jisrael liebt.'' Es ist zu einem Minhag Germania, zu einem deutsch-jüdischen Brauch geworden, oder in vielen Teilen Europas, einen Satz im Tischgebet nicht mehr laut zu sagen. Sie konnten nicht weiterhin sagen: ''Na'ar hajiti, gam sakanti, welo ra'iti Tzaddik ne'esov, veSar'o mewakesch Lechem'' - ''Ich war jung, jetzt bin ich alt, und nie habe ich einen Gerechten gesehen, der hungerte, oder seine Kinder suchten etwas zu essen.'' (Psalm 37:25.) ''Aber das HABE ich doch gesehen!'' sagten sie.... und wollen ihn nicht sagen.

Eine andere Reaktion war natürlich ein verstärktes Gefühl für Zionismus. Und hier möchte ich sagen - wenn ich diese immer-wiederholte naive Frage höre, ''Darf man Israel nicht kritisieren?'' - habe ich bisher immer geantwortet, ''Ja, aber nur wenn Sie fairerweise andere Länder auch kritisieren''. Heute werde ich dazu hinzufügen, ''Ja, aber nur wenn Sie selber eine gerechte Gesellschaft in Ihrem Länder geschafft haben; Nur, wenn Sie selber Flüchtlinge in grossen Mengen 'ohne wenn und aber' aufnehmen und integrieren; Nur, wenn Sie selber bereit sind, mit Arabern und Muslimen in Frieden und Gleichberechtigung und gegenseitigem Respekt in Euren Städten zu leben; Und - (ich weiß, es klingt kontrovers, aber ich wohne nicht weit vom Breitscheidplatz in Berlin und alles ist dort vor weniger als einem Jahr passiert) - Nur, wenn Sie selber bereit sind, Terroristen zu erschießen, wenn nötig sogar BEVOR sie andere unschuldige Menschen umgebracht haben. Nur dann werde ich persönlich solche Kritik erlauben.''

Zionismus nimmt, wie zu erwarten ist, verschiedene Formen:
Es gibt einige Juden, die behaupten, Juden sollen nur nach den biblischen und anderen alten jüdischen Schriften leben;
Es gibt denen, die denken, ''Wir haben in der Diaspora einige wichtige Werte gelernt: Toleranz, Universalismus, Liberalismus, Pluralismus, Gleichberechtigung und diese sollen wir auch in unserer Staat behalten.''
Und es gibt denen, die sagen, ''Wir haben uns selber gerettet, nachdem Gott uns nicht gerettet hat; wir müssen nicht mehr an diesen Gott glauben, wir sollen nur ein Ende unseres Exils selber schaffen und wenn nicht in Frieden, dann zumindest in Sicherheit leben.'' Und wenn Europäer 'europäische Werte' verlangen - dann werden einige Israelis wütend. ''Nachdem, was wir und unsere Vorväter in Europa erlebt haben, verstehen wir nicht mehr, was diese 'europäischen Werte' eigentlich sind oder bedeuten sollen!''

Und dann gab es Juden, die suchten in anderen Menschen, in Humanismus und Sozialismus oder sogar Kommunismus, einen Weg vorwärts - aber nicht durch Gott. Ein neues Deutschland - ohne Gott.

Aber dann bleiben wir vor den existentiellen Fragen - Was wollte Gott uns sagen? Will Gott überhaupt wieder ein Judentum in Deutschland, in Europa haben? Sind wir, die versuchen, hier etwas wiederaufzubauen, und ich bin einer davon, eigentlich auf dem falschen Weg? Sollen wir endlich aufhören? Kann man noch an eine jüdische Zukunft hier glauben?
In früheren Zeiten haben wir Liturgien entwickelt - es brauchte Zeit, obwohl einige Gedichte, die direkt aus der Zeit der Kreuzzüge stammen, noch immer einen mächtigen aktuellen Eindruck machen. Wir hatten in 'Tischa B'Aw', den neunten Tag des Monats Aw, ein Gedenktag für die Zerstörungen - einen Fastentag, an dem man die Klagelieder Jeremias und viele spätere Gedichte, die 'Kinot' las. Mit der Schoah ist dieses noch nicht wirklich passiert. Zwar gibt es 'Jom HaSchoah' als 'Holocaust-Gedenktag' und viel Literatur über die Vernichtung der Juden Europas, Gedichte und Filme und Versuche, Gebete zu schreiben, aber die Auswirkungen der Schoah sind noch überall zu sehen. In ganzen Landstrichen, wo früher fast jedes Dorf eine kleine jüdische Gemeinde hatte, gibt es überhaupt keine Synagogen mehr. In Städten, die früher mehrere Synagogen hatten, gibt es jetzt nur eine.
In Leipzig gab es in 1938:
- Die grosse Gemeindesynagoge (liberal) (zerstört)
- Etz Chayim Synagoge (Orthodox) (zerstört)
- Die Brodyer - bis 1945 als Seifenfabrik benutzt - jetzt ist wieder die Synagoge der Gemeinde hier.
- Das Ariowitsch-Haus - auch als Synagoge benutzt, hat den Krieg überlebt.
- Die Trauerhallen an dem Neuen jüdischen Friedhof. (zerstört.)
- Dazu die Tiktiner Synagoge, (gegründet 1850, Kriegsverlust); Merkin-Synagoge, (gegründet 1830; Bochnia Synagoge, (Kriegsverlust); Jassyer Synagoge, (Kriegsverlust); Kolomea-Synagoge, (Kriegsverlust); Krakauer Synagoge, (Kriegsverlust); Ohel-Jacob-Synagoge, (gegründet 1922, Kriegsverlust); Verein-Mischnajos-Synagoge, (gegründet 1909, Kriegsverlust); Hindenburg-Synagoge (gegründet 1916/17, Kriegsverlust); Bethaus des Rabbiners Israel Friedmann, (gegründet um 1900, Gebäude erhalten);Ahwat-Thora-Synagoge, (gegründet 1907, Kriegsverlust); Lemberger Synagoge, (gegründet um 1830, Kriegsverlust); Bikur-Cholim-Synagoge, (Gebäude erhalten); Schaare-Zedek-Synagoge (gegründet 1922, Gebäude erhalten); Tifereth-Synagoge, (Kriegsverlust) und andere 'Schtiebels'.
Das macht ungefähr zwanzig Bethäuser oder Synagogen. Das waren andere Tage. Und die werden nie wieder kommen.
In ungefähr zwanzig Jahren, wie die Statistik des Zentralrates der Juden in Deutschland von 2016 zeigt, werden die Hälfte der gegenwärtigen Juden in Deutschland gestorben sein. Außer, sie leben alle bis 120! Um spezifischer zu sein, 2016 gab es in Deutschland 98.600 registrierte jüdische Gemeindemitglieder. 5.000 weniger als zehn Jahre früher. Ungefähr 46.000 sind schon 60 Jahre alt oder älter. In der Bundesrepublik gab es 2014 eine Bevölkerung von fast 81 MILLIONEN. Die Juden bilden also ungefähr 0.12% der Bevölkerung. Nach diesen Statistik gibt es gerade über 1.200 registrierte Juden in Leipzig, von denen 710 schon 60-plus sind.
Gemeinde Mitglieder 0-3 4-7 8-11 12-18 19-21 22-30 31-40 41-50 51-60 61-70 71-80 > 80
Leipzig 1.243 9 14 17 36 12 100 73 110 167 272 274 159
(Quelle: http://zwst.org/cms/documents/178/de_DE/Mitgliederstatistik-2016.pdf )

Es ging damals in 1938 nicht nur um Gebäude, sondern was diese Gebäude auch waren - Symbole. Die wurden nicht nur zerstört, sie wurden vorher regelrecht vergewaltigt. Die aufgehetzten, hasserfüllten aber oh-so-gehorsamen SA-Gruppen zerstörten die Inneneinrichtungen, die Ritualobjekte, die Torahrollen und Gebetbücher. In Schönebeck bei Magdeburg zum Beispiel hatten sie ein Schwein in den Talar des Kantors gekleidet, geschlachtet und aufgehängt.... man sieht eine fast erotische Lust, nicht nur zu zerstören, sondern zu entweihen, zu demütigen.... Es war ihnen nicht genug, jemanden einzusperren und zu verletzen, nur dafür, wer er war, nein, man musste ihn auch degradieren; Das Haar der Gefangenen wurde geschoren, sie wurden ihrer Menschenwürde beraubt, sie hatten fortan in den KZ's nur eine Nummer statt eines Namens.... In vielen Orten mussten die jüdischen Gemeinden dann das Geld aufbringen für den Abriss der Ruinen...... für die Zerstörung selbst bezahlen.
Vieles ging während des Krieges in Europa verloren. Viele Städte sind Asche und Trümmer geworden, sie wurden von Fliegerbomben oder Artilleriebeschuss beschädigt. Aber 1938 gab es noch keinen Krieg und die Täter waren Zivilisten. Nur einige Jahre später - vier, fünf Jahre später - lagen ganze Städte Deutschlands auch in Schutt und Asche. Und wie ist das zu verstehen? Nicht nur politisch oder militärisch, sondern theologisch?

Ich spende heute keinen Trost. Es ist zwar gut, dass wir versuchen, an etwas zu erinnern und etwas zu gedenken, aber was passiert ist, ist passiert. Was verloren gegangen ist, bleibt verloren. Die Fragen bleiben Fragen, und echte befriedigende Antworten gibt es nicht. Noch nicht. Es gibt die Frage, ''Was sei der Unterschied zwischen Gott und einem Historiker?'' Die Antwort lautet: ''Gott kann nicht mehr ändern, was schon passiert ist.'' Leider gelingt es den Menschen immer, die Vergangenheit schönzureden oder nur selektiv zu erinnern oder sie für ihre eigenen politischen Zwecke zu missbrauchen.
Gibt es echtes jüdisches Leben in Deutschland heute? Mit Spiritualität, Kreativität, mit Lernen und Humor? Ich denke: Nein. Nur einen Schein davon. Ich will diejenigen nicht beleidigen die versuchen, etwas aufzubauen, aber - wir reden von ein paar kleinen Lichtern in der großen Finsternis. Das Judentum hätte so viel zu den politischen und moralischen Debatten in unserer Gesellschaft beizutragen - aber es fehlen uns die Menschen, die das in aller Ehrlichkeit und aus den eigenen Wurzeln machen können.
Heute gedenken wir, was einmal war, und wir versuchen, daraus etwas zu lernen, aber ich muss Sie mahnen, nicht nur in die Vergangenheit zu blicken. Unsere Welt braucht Hilfe, auch heute.

''Osseh Schalom biMromaw, hu ja'asseh Schalom alejynu, we'al kol Joyrael, we'al kol B'nei Adam.'' ''Der, der Frieden schafft in der Höhe, möge er Frieden für uns, für ganz Israel und für alle Menschen schaffen.''
Es wird für ihn einfacher sein, natürlich, wenn wir lernen, (endlich) mitzumachen......
Schalom,
Rabbiner Dr. Walter Rothschild. (Berlin).