Predigt im Morgengottesdienst zum Bachfest zu Lukas 15,1–11

  • 16.06.2024 , 3. Sonntag nach Trinitatis
  • Prof. Dr. Dr. Andreas Schüle

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Liebe Gemeinde,

Sie kennen diese Situation möglicherweise auch: Ein Termin drängt, man muss los. Aber
auf einmal ist der Geldbeutel nicht mehr da. Überall, wo ich ihn normalerweise hinlege, ist
er nicht. Ich beginne Taschen umzudrehen, mache mir Sorgen, dass ich ihn vielleicht wirklich verloren habe und jetzt alle Karten sperren lassen muss. Ich bin auf mich selbst sauer, weil das ja nicht das erste Mal ist. Im Frust beginne ich auch schon, den Dackel zu verdächtigen, dass der etwas damit zu tun hat. Irgendwo taucht der Geldbeutel dann doch wieder auf. Ich bin erleichtert, immer noch ein bisschen genervt wegen der verlorenen Zeit. Aber dann geht es auch weiter, und die Episode ist schnell vergessen – bis zum nächsten Mal.

Von ähnlich alltäglichen Begebenheiten erzählen auch die beiden Geschichten unseres Predigt­textes. Es geht um ein entlaufenes Schaf und ein verlegtes Silberstück. Aber diese Geschichten gehen anders aus als meine, nämlich mit seltsam übertriebenem Jubel. Der Schäfer und die Frau schlagen geradezu Saltos, als das Schaf wieder eingefangen und das Silberstück sich wieder eingefunden hat. Wenn ich auch so hätte handeln wollen, nachdem der blöde Geldbeutel wieder aufgetaucht war, hätte ich die halbe Nachbarschaft zusam-
men­trommeln und am besten unten auf dem Thomaskirchhof ein riesiges Freudenfest veranstalten müssen. Und alle wären gekommen und hätten gesagt: Oh wie toll, dass dein Geldbeutel wieder da ist!

Das Eigenartige an den Geschichten, die Jesus erzählt, ist, dass sie auf den ersten Blick harmlos, gar ein wenig naiv erscheinen. Aber wenn man sie dann ins eigene Leben hinein übersetzt, merkt man, dass da etwas nicht stimmt. An einem bestimmten Punkt brechen diese Geschichte aus dem Alltäglichen aus. Der Schäfer dieser Geschichte tut eigentlich etwas sehr Unvernünftiges und lässt die gesamte Herde allein, um das eine verlorene Schaf zu finden. Weil mir das schon immer seltsam vorkam, habe ich einmal einen realen Schäfer gefragt, ob er das auch so machen würde. Der fand diese Geschichte eher seltsam, weil die Sicherheit der Herde eigentlich immer an oberster Stelle steht. Er hätte gewartet, bis sich jemand anderes um die Herde kümmert, und sich dann auf die Suche nach dem verlorenen Schaf gemacht.

Und auch das zweite Beispiel von der Frau, die ein Silberstück verlegt hat, ist doch reichlich merkwürdig. Wenn ich schon so schusselig bin und mein Geld nicht sicher verwahren kann, dann hänge ich das nicht noch an die große Glocke. Das wird damals nicht anders gewesen sein als heute. Aber nein, diese Frau veranstaltet ein Freudenfest um das verlegte und dann wiedergefundene Silberstück.

Diese Verfremdungen und Übertreibungen wollen ganz gezielt irritieren. Da geschehen Dinge, die in der „realen“ Welt unvernünftig, übertrieben oder gar absurd erscheinen. Aber, das ist die Pointe, für Gott ist genau das normal. So ist Gott. Gott hält sich nicht an das, was „man“ üblicherweise tut. Gott hält sich nicht an Etikette, für Gott gibt es auch, wie das auf neudeutsch heißt, keine „best practice“, sondern es zählt das Verlorene, das gefunden werden muss. Das ist Grund zur Hoffnung. Und es ist egal, ob das Verlorene etwas besonders Wertvolles und Wichtiges war. Ob ein Schaf unter Tausenden oder ein Silberstück aus der Bank von England – Gott bringt zurück, was verloren war. Wo Rettung geschieht, wo aus Angst Freude wird – und mag es noch so unbedeutend scheinen – da freut sich, wie es in unserem Predigttext heißt, der gesamte Himmel.

Liebe Gemeinde, beim Nachdenken über unseren Predigttext fiel mir schlagartig ein Wort ein, das 1999 zum Unwort des Jahres erklärt wurde. Es kam auf im damals tosenden Kosovokrieg. Es ging darum, wie viele Opfer der Einsatz von NATO-Truppen kosten dürfe, um diesen Krieg zu beenden. Wie viel „Kollateralschaden“, so der Begriff, war akzeptabel? Dieses gebildet klingende Wort „Kollateralschaden“, das damals sogar von respektablen Medien aufgesogen wurde, sollte kalkulierte Verluste rechtfertigen. Manchmal muss man bereit sein, etwas zu opfern – ein Schaf, einen Silbergroschen, ein Menschenleben, vielleicht die Existenz eines ganzen Volkes – damit die großen Ziele erreichbar bleiben. So werden Kriege, so wird Barbarei gerechtfertigt – damals und ja, auch heute.

Aber die zynische Logik der „Kollateralschäden“ greift sehr viel weiter. Die Kalkulation mit Verlusten, die man in Kauf nimmt, ist Tagesgeschäft. Wie viele Menschen muss man entlassen, damit ein Unternehmen weiterbestehen kann? Wie lange darf man billigend wegschauen, wenn Menschen mitten in unserer Gesellschaft durchs Raster fallen, weil das Sozialgefüge nicht mehr stimmt? Während der Pandemie wurde entschieden, wer „system­relevant“ war; und wenn man nicht dazugehörte, dann konnte das existenzielle Folgen haben. Man konnte das Schaf sein, das eben niemand mehr suchte. Irgendwie haben wir das schon wieder verdrängt oder wollen es nicht mehr wissen. Der Hannoversche Landebischof Ralf Meister schlug damals vor, „Systemrelevanz“ zum Unwort des Jahres 2020 zu machen – zu Recht. Denn das ist nur die andere Seite der Medaille, auf der „Kollateralschaden“ steht; es klingt zur zivilisierter, professioneller …

Nun geht es mir nicht darum, liebe Gemeinde, mit dem Finger auf die Schlechtigkeiten der Welt zu zeigen Aber es scheint mir doch wichtig zu verstehen, dass die Logik des kalkulierten Verlusts –des sich Trennens von Dingen oder auch von Menschen, die nicht mehr wichtig sind, des sich Abwendens, wo man keine Geduld und kein Interesse mehr investiert – tief im menschlichen Dasein, in unserer DANN, angelegt zu sein scheint. Die Evolutionsforschung spricht davon, dass sich der kalkulierte Verlust überlebenstechnisch bewährt hat. Man muss ja irgendwie durchkommen, und dabei kann man nicht alles mitnehmen.

Aber gerade wenn man sich dessen bewusst ist, beginnen die Beispiele unseres Predigttexts in ihrer ganzen Eigentümlichkeit zu leuchten. Denn da wird behauptet, dass es eben nicht nur den kalkulierten Verlust, die Kollateralschäden und die Systemrelevanzen gibt, sondern die genuine Freude am Wiederfinden, an Rettung, an Heilwerden. Auch das ist real, auch das ist in uns drin, und zwar weil Gott so ist – weil Gott das eine Wesen ist, das nichts verlieren muss, um sein zu können. Weil Gott so ist, wie er ist, gibt es Hoffnung für alles Verlorene. 

Das bringt uns zur Kantate, die wir gerade gehört haben und die auf unseren Predigttext hin geschrieben wurde. Vielleicht haben Sie das gar nicht bemerkt, weil in der Kantate tatsäch­lich an keiner einzigen Stelle von Schafen, Silberstücken – oder gar Geldbeuteln – die Rede ist. Und dennoch denkt die Kantate die Bilder des Verlorenen auf eine bestimmte Weise zu Ende. Und zwar setzt sie uns an die Stelle des Verlorenen, macht uns zum Schaf und zum Silberstück. Denn ja, manchmal ist das Leben so, dass man den Weg verliert, naiv wie ein Schaf in etwas hineinrennt und zu spät begreift, dass man in einem Sumpf gelandet ist, aus dem man alleine nicht wieder herauskommt. Sein Leben verlieren – körperlich oder sozial – ist Teil der realen Härte, denen jeder Mensch ausgesetzt ist. Und ja, irgendwann einmal werden wir es auch ganz verlieren, dieses Leben. Genau das beklagt die Kantate. Aus der Tiefe, da wo alles Verlorene ist, ruft sie zu Gott in der Hoffnung, dass Gott so ist, wie Jesus in seinen Gleichnissen sagt: Barmherzig sucht und rettet er auch den noch, der sich verloren hat – und darüber ist Freude im Himmel.

Und es gibt auch die andere Erfahrung, nämlich dass ich verloren werde, so ahnungs- und schuldlos wie ein verlegtes Geldstück. Menschen werden verlegt, werden durchgereicht, weil sie nicht mehr angesagt, nicht mehr hip sind. Es gehört nicht viel dazu, aussortiert zu werden, vor allem wenn man nicht mehr mitmachen will oder kann. Das ist weder fair noch gerecht. Und so klagt die Kantate von den Resterampen unserer ach so zivilisierten Medien- und Konsumgesellschaften zu Gott, dass er der gerechte Richter sein möge, der sucht und rettet, was verlorengegeben wurde.

Er lässt nach Tränen und nach Weinen

Die Freudensonne wieder scheinen

Das Trübsalswetter ändert sich

Die Feinde müssen plötzlich fallen

Und ihre Pfeile rückwärts prallen.

 

So besingt es die letzte Arie der Kantate und riskiert das Vertrauen darauf, dass Gott so ist, wie er zu sein versprochen hat.

Weil Gott so ist, wie er ist, weil er nichts verlorengibt, darum gibt es Hoffnung. Weil Gott mit verschwenderischer Selbstlosigkeit wiederbringt, was keiner mehr gesucht hat, darum hat auch mein kleines Leben eine Chance. Weil Gott sich freut und der Himmel jubelt über das, was gerettet und geheilt wurde, darum legt sich ein Glanz auf die Welt, den man manchmal spüren kann.

Und weil das so ist, lohnt es – mitten in einer verlorenen Welt – sich Gott in die Arme zu werfen.

Amen.