Predigt im Online-Gottesdienst

  • 19.04.2020 , 1. Sonntag nach Ostern - Quasimodogeniti
  • Pfarrer i. R. Christian Wolff

Einen guten Morgen wünsche ich Ihnen allen aus der Thomaskirche Leipzig. Vor 524 Jahren, am Sonntag Quasimodogeniti 1496, auf Deutsch: Wie die Neugeborenen, wurde die gotische Thomaskirche, der Neubau des Langhauses, geweiht. Das Datum war kein Zufall. Denn am 1. Sonntag nach Ostern steht der Namenspatron dieser Kirche, der Jünger Thomas, im Mittelpunkt. Thomas zweifelte an der Auferstehung Jesu von den Toten. Er wollte einen Beweis – und legte deswegen seine Hand in die Wundmale Jesu. Diese Szene ist im Thomasfenster unserer Kirche dargestellt. Thomas ist der Anhänger Jesu, der die Spannung und den Zusammenhang zwischen Glauben und Wissen verkörpert. Insofern passt er genau in unsere Zeit. Viele Menschen sind derzeit verunsichert, weil ein nichtfassbarer Virus unser Leben auf den Kopf stellt. Wir suchen nach neuen Gewissheiten. Eine solche finden wir im Spruch für die neue Woche:

Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten.

 

Lesung

Wir hören das Evangelium aus Johannes im 20. Kapitel:

Es war Abend geworden an jenem Sonntag. Die Jünger waren beisammen und hatten aus Angst vor den führenden Juden die Türen abgeschlossen. Da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte: „Frieden sei mit euch!“ Dann zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Als die Jünger den Herrn sahen, kam große Freude über sie. … Als Jesus kam, war Thomas, genannt der Zwilling, einer aus dem Kreis der Zwölf, nicht dabei gewesen. Die anderen Jünger erzählten ihm: „Wir haben den Herrn gesehen!“ Thomas sagte zu ihnen: „Niemals werde ich das glauben! Da müsste ich erst die Spuren von den Nägeln an seinen Händen sehen und sie mit meinen Finger fühlen und meine Hand in seine Seitenwunde legen - sonst nicht!“ Eine Woche später waren die Jünger wieder im Haus versammelt, und Thomas war bei ihnen. Die Türen waren abgeschlossen. Jesus kam, trat in ihre Mitte und sagte: „Frieden sei mit euch!“ Dann wandte er sich an Thomas und sagte: „Leg deinen Finger hierher und sieh dir meine Hände an! Streck deine Hand aus und lege sie in meine Seitenwunde! Hör auf zu zweifeln und glaube!“ Da antwortete Thomas: „Mein Herr und mein Gott!“ Jesus sagte zu ihm: „Du glaubst, weil du mich gesehen hast. Freuen dürfen sich alle, die mich nicht sehen und trotzdem glauben!“

 Liebe Gemeinde,
 

was ist Fakt? Was ist bloße Meinung? Was ist eine auf wissenschaftliche Erkenntnis aufgebaute Überzeugung? In der Corona-Krise wird uns ein klares Unterscheidungsvermögen zwischen seriösen Untersuchungsergebnissen und religiösen oder politischen Verschwörungstheorien abverlangt. An Ostern vor 2000 Jahren war das nicht viel anders. Damals stellte sich die Frage: Ist die Auferstehung Jesu von den Toten eine sich in der Wirklichkeit vollziehende Tatsache oder ist sie doch nur eine äußerst bizarre Einbildung einiger verwirrter Geister? Bis heute bewegt das Aufeinandertreffen von Glaube und Wissen, von Wunder und Fakten die Gemüter. Viele unter uns werden eine Nähe zu Thomas, dem Jünger Jesu und Namenspatron unserer Kirche, spüren. Er wollte nicht wahrhaben, was die anderen Jünger ihm von der Auferstehung Jesu von den Toten berichteten:

Niemals werde ich das glauben! Da müsste ich erst die Spuren von den Nägeln an seinen Händen sehen und sie mit meinen Finger fühlen ...

so klagt Thomas die Fakten ein. Er will Gewissheit und Verlässlichkeit. Er will in der Welt der Tatsachen bestehen können. Darum bricht er, indem er mit seinem Zweifel in die Gruppe der anderen Jünger einbricht, gleichzeitig aus ihr aus.

 

Und er tut gut daran. Denn es besteht ja ein merkwürdiger Widerspruch: Da sind die Jünger dem Auferstandenen begegnet. Da sendet dieser sie in die Welt hinein - und doch schließen sie sich nach einer Woche wieder ein; fristen ihr Nischendasein. Ist das nicht genug Nahrung für einen noch ganz anderen Zweifel des Thomas - nämlich den, dass er am ängstlichen Verhalten der anderen Jünger nicht wirklich erkennen kann: Jesus ist auferstanden und hat dem Tod die Macht genommen. Zweifeln deswegen nicht viele Menschen an der Kraft des christlichen Glaubens, weil sie sich fragen: Wenn die Christen an die Auferstehung von den Toten, also an Wunder, glauben - warum sind sie dann gleichzeitig so kleingläubig und verzagt? Wenn sie schon das Unmögliche für möglich halten, warum passen sie sich dann immer so widerspruchslos den Gesetzmäßigkeiten dieser Welt an?

 

Doch dann, so berichtet der Evangelist Johannes, betritt Jesus noch einmal den Raum, in dem sich die Jünger aus Angst vor der Öffentlichkeit verbarrikadiert hatten - ungefragt, unerwartet, ohne anzuklopfen. Wieder bringt er die wichtigste Botschaft des Glaubens mit:

Friede sei mit euch!

Mitten in der Welt des Hasses, der Verfolgung, der gewalttätigen Auseinandersetzungen durchbricht Jesus die Mauern und liefert den Schlüssel, mit dem wir die Tür von innen öffnen, aufstoßen können und wieder Zugang nach draußen finden: Frieden.

 

Dieses Eindringen Jesu in die abgeschotteten Räume unserer Kirche, unserer Seele, unserer Herzen, unserer Welt - es ist eines der schönsten Geschenke, das wir dem Auferstandenen verdanken. Die Architekten, deren Schutzpatron der Heilige Thomas ist, haben von alters her im Kirchbau dem Eindringen des Auferstandenen in die geschlossenen Räume ein Sinnbild gegeben: das Fenster. Da, wo wir Maueröffnungen mit Fenstern schließen, werden diese durch Buntverglasung zum Einfallstor der Ewigkeit. Die Fenster lassen den Blick in die neue Welt Gottes zu - aber nur dadurch, dass das Licht von außen eindringt und so die Sicht in die Welt des Glaubens freigibt.

 

In diesem Sinn fällt auch mit dem Thomas-Fenster der auferstandene Christus in unsere Kirche ein und ist gegenwärtig - auch wenn wir alle Türen abschließen, wenn wir nur noch um uns selbst kreisen oder wie derzeit nicht in Kirchen zusammenkommen können. Damit wird das Wunder, dass Jesus in geschlossene Räume eintreten kann, gleichzeitig bestätigt und entzaubert. Es entpuppt sich als ein Vorgang, der so wundersam nicht ist, und macht aus unserer Kirche einen offenen, öffentlichen Raum. In ihm soll das herrschen und aus ihm soll das dringen, was Jesus bringt: Frieden. Auch den Frieden zwischen Glauben und Zweifel, zwischen Wunder und Vernunft, zwischen Verunsicherung und Gewissheit. Darum ist unsere Kirche auch jetzt geöffnet.

 

Auf diesem Hintergrund wird verständlich, warum sich Jesus zuerst dem zuwendet, der zu diesem Zeitpunkt innerlich am weitesten von ihm weg zu sein scheint: Thomas, der Zweifler.

Streck deine Hand aus und lege sie in meine Seitenwunde! Hör auf zu zweifeln und glaube!

Jesus scheint sich ganz auf die Seelenlage des Thomas einzulassen. Er will den Zweifel des Thomas mit den Tatsachen, den Fakten überwinden. Muss Thomas aber noch glauben, wenn er den Auferstandenen an seinen Wundmalen hat erkennen können? Gründet sich sein Bekenntnis

Mein Herr und mein Gott!

auf Glauben oder doch nur auf das Sehen und Erkennen, dessen Motor der Zweifel ist? Offensichtlich will die Geschichte uns sagen: Der Glaube kommt ohne das Wissen, ohne das Sehen nicht aus. Ja, wir tun gut daran, die Fakten ernst zu nehmen. Auch heute. Wir tun gut daran, den Glauben nicht zu einer Verschwörungstheorie verkommen zu lassen. Denn der Glaube ist nicht ein Gegensatz zum, sondern ein Mehr an Wissen. Er übersteigt das Wissen, ist höher als alle Vernunft. Mit ihm können wir uns die Wirklichkeit neu erschließen und unsere Hände in die Wundmale dieser Welt legen. So wird Glaube handgreiflich, wie im Thomasfenster dargestellt: teilen, zeigen, lieben, segnen. Solidarität üben, Orientierung gewinnen, Menschen in ihrer Schutzlosigkeit auffangen, mit erneuertem Selbstbewusstsein angstfrei geschlossene Räume verlassen und sich dem Nächsten zuwenden. Wer so glaubt, benötigt keine Garantien des Sehens. Amen.

 

Gebet

 

Gott, unser Vater,
im Licht der Auferstehung Jesu
können wir unser Leben neu sehen
und unsere Wirklichkeit erschließen:
Dein Geist,
der alles neu schafft,
erfüllt uns.
Dein Leben,
das keinem Verfall ausgesetzt ist,
erneuert unser Leben.
Deine Ziele des Friedens
und der Versöhnung
sind Quelle lebendiger Hoffnung.
Deine Kraft,
die in uns Schwachen mächtig ist,
verleiht uns auch in Angst und Not
Trost und Zuversicht.
Deine Obhut
wird uns auch in Momenten des Zweifels
und in Stunden der Verzweiflung
bewahren.
Schenke uns diese Gewissheit des Glaubens,
wenn wir mit Jesu Worten beten:

Vater unser im Himmel.
Geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe,
wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich
und die Kraft
und die Herrlichkeit
in Ewigkeit. Amen.

Und der Friede Gottes,
welcher höher ist als all unsere Vernunft
und eine Schutzmacht ist für unser Denken,
der bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus. Amen.

Pfarrer i. R. Christian Wolff
www.wolff-christian.de