Predigt über 1. Johannes 4,7-12

  • 03.09.2023 , 13. Sonntag nach Trinitatis
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Predigt über 1. Johannes 4,7-12 am 13. Sonntag nach Trinitatis, 3. September 2023

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Ihr Lieben, lasst uns einander lieb haben; denn die Liebe ist von Gott, und wer liebt, der ist aus Gott geboren und kennt Gott. 8 Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist Liebe. 9 Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen. 10 Darin besteht die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sünden. 11 Ihr Lieben, hat uns Gott so geliebt, so sollen wir uns auch untereinander lieben. 12 Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen.

Liebe Gemeinde,

was für ein bewegter und bewegender Text! Als wir ihn letzten Dienstag im Bibelkreis besprochen haben, war etwas Erstaunliches zu beobachten. Am Anfang haben alle, die sich zu Wort meldeten, ungefähr diese Bewegung gemacht (fließend-kreisende Bewegung vor dem Körper): „Die Liebe ist von Gott“ – und sie ist wie ein großer Kraftstrom, der durch uns hindurchfließt und sich weiterverschenkt. Gott selbst ist diese Liebe, heißt es zu Anfang. Gott ist dynamisch. Er ist nicht zu sehen, aber zu spüren. „Niemand hat Gott jemals gesehen“, heißt es. Aber wo wir „lieben, bleibt Gott in uns und seine Liebe in uns ist vollkommen…“ Was für eine Botschaft, wie großartig und  unglaublich  - aber auch verstörend! Denn in einem waren wir uns einig und wir sind keine Pessimistinnen und Fatalisten in dieser Runde: Was unsere Fähigkeit zu Lieben betrifft, empfanden wir uns alle als sehr unvollkommen. Wie kann Gottes Liebe in uns vollkommen sein, wenn wir nur zu sehr unvollkommenen Liebesleistungen und Liebestaten fähig sind? Siehe die Geschichte vom Barmherzigen Samariter, bei der wir uns, wenn wir ehrlich sind, viel öfter auf der Seite des Priesters und Leviten wiederfinden dürften als auf der des Samariters. Und, Stichwort Nächsten -und Feindesliebe: Kann ich jemanden wie Putin lieben und ist das nicht eine unendliche Zumutung und gehöre ich, wenn ich daran scheitere, nach diesem Text zu denen, die Gott eben nicht kennen, weil sie dazu nicht in der Lage sind? In diesem Text gibt es nun mal keine Einschränkungen für die zu Liebenden -  dass das hier alles nur für die eigene Gemeinde oder die eigene Blase gilt. Stoff für mehrere Stunden, auch für mehrere Stunden Predigt…

Wie ist es nun mit der Liebe? Sprachlich ist es im Deutschen schon ein Kreuz mit diesem Wort, weil es so vieles abdecken muss. Und wir hören dabei vielleicht als erstes: lieb sein, freundlich sein. Auch unter Christenmenschen: um des lieben Friedens willen. Oder dass Liebe etwas ist, was mit großen Gefühlen verbunden ist: für den Partner, die Mutter. Und wenn einem nicht zu lieben zumute ist, dann liebt man eben nicht, man kann einfach nicht. Und wenn das Gefühl weg ist, kann man dann noch von Liebe sprechen? Kann man als Paar noch zusammenbleiben, wenn dieses Gefühl gänzlich weg ist? All das schwingt und klingt mit bei diesem geschundenen Wort Liebe, mit dem wir alles Mögliche bezeichnen – nur oft nicht das, was hier gemeint sein dürfte. Schauen wir – und fühlen wir – tiefer.

„Lasst uns einander lieb haben“, heißt es zu Beginn. Wenn man so aufgefordert wird, heißt das offenbar: Ich muss mich dazu immer wieder motivieren, es liebt sich nicht von selbst. Es passt dazu, dass ich mich selbst oft als lieblos empfinde. Dass ich fühle, ich scheitere schlicht an diesem Gebot der Nächstenliebe und wünsche mir oft, vielleicht nur den Übernächsten lieben zu müssen. Wenn ich das hinkriegen könnte, wäre es schon gut. Ich sage aber immer - den Konfirmanden und auch hier von der Kanzel habe ich es schon oft gesagt: Man muss seinen Nächsten nicht mögen. Das wird nicht verlangt von Jesus und nirgends in der Bibel. Ich muss ihn nicht mögen. Aber lieben. Das macht es vielleicht etwas leichter. Oder auch nicht? Auf jeden Fall hilft es nicht, auszuweichen auf Begriffe wie den anderen achten, respektieren usw. Ja, das alles kann und soll man ja auch, aber das ist es nicht. Das ist noch nicht Liebe. Und es bringt mich auch nicht weiter. Bleiben wir bei dem Beispiel, Sie können sich auch einen anderen Menschen vorstellen, den Sie furchtbar finden: Kann ich einen Putin achten oder respektieren? Nein, das kann ich nicht. Nicht aus mir selbst heraus und ich will es auch nicht. Und lieben, wenn ich ihn nicht mögen muss? Hier ist der 1. Johannesbrief klar und geht in eins mit vielen anderen Stellen in der Bibel: Wenn Gott die Welt geliebt hat, dann gilt seine Liebe jedem Menschen. Jedem. Er ist geliebt, weil er Mensch ist. Und der Mensch an sich, der geliebte Mensch, wird immer unabhängig von seiner Tat gesehen, es ist nicht sein Verhalten, dass ihn liebenswert macht, sondern diese Liebe ist immer schon da, bevor wir etwas tun. Und wenn ich mir das vorstelle: jeder/jede ist von Gott geliebt, ja, er hat uns zuerst geliebt, wie es hier heißt. Wenn ich mir das bewusst mache bei der Frage, ob ich diesen merkwürdigen oder furchtbaren Menschen lieben kann, dann hat das Folgen, wie ich mit ihm umgehe. Jeder Mensch ist geliebt, weil er ein Mensch ist. Diese Würde kann ihm niemand nehmen. Ja, darf ihm niemand nehmen. Was für ein Gespür dafür hatten die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes, als sie das vornan gesetzt haben: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Wie tief saß das, was man gerade erlebt hatte, wohin es führt, wenn das außer Kraft gesetzt wird, wenn diese Würde einzelnen und ganzen Menschengruppen abgesprochen wird. Ich kann auch einen Putin nicht einfach in einem Flugzeug vom Himmel abschießen, vergiften, erschießen lassen, wie er das so zu tun pflegt. Und ich kann einen Menschen immer nur für eine Tat ver- bzw. beurteilen, für das, was er gemacht hat – aber nicht für sein Menschsein an sich. Deshalb kann es christlich begründet auch keine Todesstrafe geben, weil sie einen Menschen vernichtet und nicht seine Tat bestraft. Die Bibel unterscheidet zwischen Mensch und Tat, theologisch gesprochen, Gott unterscheidet zwischen Sünde und Sünder. Zu lieben – das heißt zunächst den anderen einfach nur als Menschen zu sehen mit seiner unveräußerlichen Würde. Und als solcher geliebt wie ich – da gibt es keinen Unterschied, auch wenn mir das überhaupt nicht schmeckt. Aber alles andere lässt uns am Ende immer wieder aufeinander losgehen. Wo dieser Blick auf den anderen sich verliert, passiert es irgendwann.

Wie einfach. Und wie schwer. Denn es mag Situationen geben, wo ich überlegen sollte, ob ich mich jetzt nicht über diese Tatsache hinwegsetzen muss. Ob ich schuldig werden muss an der Liebe, um noch größere Schuld abzuwenden – oder um paradoxerweise gerade so dem Liebesgebot gerecht zu werden. Das war die Frage, vor der Oberst Stauffenberg, Dietrich Bonhoeffer und andere standen -und bis heute stehen, die die Chance haben, einem skrupellosen Massenmörder nahe zu kommen. Für sie wurde und mag ein Satz ein paar Verse nach unserem Predigttext dann wichtig werden: „Furcht ist nicht in der Liebe“. Und genauso die Worte Jesu aus dem Johannesevangelium: „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“  Um der Liebe willen sich gegen die Liebe zu versündigen. Es kann einem passieren, so entscheiden zu müssen bzw. genauer: zu diesem Schluss für sich zu kommen. Und dann gilt: „Furcht ist nicht in der Liebe“.

Das sind natürlich Extremsituationen. Und es ist eine riesengroße fließende Bewegung der verschiedensten Liebes- und Lebensthemen, die ich hier in Ansätzen ausgebreitet habe. Und jedes, jedes ist mindestens eine eigene Predigt wert und es soll ja auch nur etwas anstoßen zum Weiterdenken für sich. Was ist es mit der Liebe - auf den entscheidenden Punkt in diesem Text müssen wir aber noch kommen. Auf das, was all diese Liebe antreibt, was sie fließen lässt, was sie zugleich auch gründet und bewegt und fortführt bis über den jüngsten Tag hinaus, wenn man so will. Es ist in klare Worte gefasst: „Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingebornen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen.“ In Jesus bekommt die Liebe ihr Gesicht, ihre Hände, ihre Füße, ihr Fundament und auch ihre Bewegung. In dem, was er gesagt und getan hat, ist zu erkennen: Niemand wird aufgegeben. Die Blinden müssen sich nicht mit ihrer Blindheit abfinden, die Lahmen nicht mit ihrer Lahmheit, die Verkrümmten werden aufgerichtet, den Verirrten und Alleingelassen die Tür zur Gemeinschaft wieder geöffnet. Dieser Weg war und ist bis heute für all diejenigen unerträglich, deren Macht davon abhängig ist, dass alles so bleibt: dass die Schwachen schwach und die Starken stark bleiben, die Ängstlichen ängstlich und so weiter. Diesen konsequenten Weg der Liebe, den sie hassen, hat Jesus am Ende das Leben gekostet. Aber er hat ihn nicht aufgegeben, diesen Weg. Im Gegenteil, seine Liebe war größer als seine Angst vor dem Tod. Sie hat ihn bezwungen. Die Liebe, die Menschen heilt, sie aufbaut und frei sein lässt zu einem Leben in Würde. In Jesus wurde deutlich, dass Gott mit dieser Liebe zu uns Menschen nicht nachlässt. Nie. Daher ist Gott selbst diese Liebe. Unendlich, unsterblich.

Und wir können uns als diejenigen verstehen, die Anteil daran bekommen, so dass wir den Mächten des Todes in unserer Welt aufrecht begegnen und ihnen ins Auge blicken können. Wir sind nicht dazu verurteilt, ihnen hilflos ausgeliefert zu sein. Wer liebt, wird auch friedlich für diese Liebe kämpfen und streiten und Konflikten nicht ausweichen, wo das infrage gestellt wird: dass in jedem Menschen Gottes Liebe vollkommen ist. Wo die Würde eines Menschen verachtet wird. Wo wir gleichgültig wegsehen, wo das geschieht. Vielleicht kann man sogar sagen: der biblische Gegensatz zu Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit. Weil wir das, was Gott in uns legt, wo Gott quasi durch uns hindurchfließt, nicht weiterfließen lassen, wo wir diese Bewegung nicht mehr mitmachen, sondern ihren Fluss bereits versickern lassen, während wir uns vielleicht noch einreden: Wir sind neutral, wir halten uns raus. Aber bei der Liebe gibt es das nicht, sie fließt hindurch durch jeden Menschen und wartet darauf, gezielt ausgegossen zu werden. Deshalb bedarf es immer wieder des Ansporns wie in dieser Gemeinde des 1. Johannesbriefes: „Lasst uns lieben.“ Immer wieder von Neuem damit beginnen. Nicht unser Gefühl ist angesprochen, sondern unser Wollen. Und dieser unglaubliche Satz möge uns immer und immer wieder motivieren: „Seine Liebe in uns ist vollkommen.“ Sie ist es und bleibt es, obwohl wir scheitern. Sie wird sich durchsetzen, wir müssen nicht verzweifeln, am wenigsten an uns selbst!

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org