Predigt über 1. Mose 16,1-13

  • 18.04.2021 , 2. Sonntag nach Ostern - Miserikordias Domini
  • Prof. Dr. Andreas Schüle

Liebe Gemeinde,

als Leipziger und Leipzigerinnen schauen Sie vielleicht ab und an mal die Fernsehserie „In aller Freundschaft“ an, die immerhin auf dem MDR Gelände in der Südvorstadt produziert wird. Für diejenigen, die damit gar nichts anfangen können (oder es nicht zugeben wollen): Es handelt sich um eine Ärztesendung, dienstags um 21 Uhr in der ARD. Da sind Menschen in weißen Kitteln unterwegs, es geht immer so ein bisschen um Leben und Tod. Aber wie das so ist: Das eigentliche Thema sind die meist komplizierten zwischenmenschlichen Verhältnisse: wer gerade mit wem Stress hat; welche große Liebe gerade entflammt und welche erkaltet ist; wer gerade eine persönliche Krise durchläuft. Manchmal tauchen überraschend Menschen aus einem früheren Leben auf und bringen die Gegenwart durcheinander.

Solche Seifenopern, heute auch schicker ‚Daily Soaps‘ genannt, gab es und gibt es viele – Lindenstraße, Gute Zeiten/Schlechte Zeiten. Sie laufen über Jahre und manchmal Jahrzehnte. Es ist schon irgendwie interessant, dass Menschen nicht genug daran haben, mit ihren eigenen Lebenskrisen oder Lebenshöhen fertig zu werden, sondern all das noch einmal im Spiegel fiktionaler Charaktere und Geschichten betrachten. Und natürlich kann man im Fernsehen ungeniert die einen doof und die anderen toll finden. Man kann Schadenfreude und Sympathie so verteilen, wie man das möchte, und ist niemandem Rechenschaft schuldig. Und da es meistens dennoch irgendein Happy End gibt, kann man zumindest darauf hoffen, dass es das vielleicht auch im richtigen und im eigenen Leben gibt.

Sie werden sich jetzt wahrscheinlich fragen: Warum steigt er ausgerechnet mit ‚seichter Unterhaltung‘ in eine Predigt ein? Und das noch fünfzehn Meter vom Bach-Grab entfernt. Nun, es mag sehr unfromm sein, aber unser Predigttext hat durchaus etwas von einer antiken Seifenoper. Aber hören Sie selbst:

1 Sarai, Abrams Frau, gebar ihm kein Kind. Sie hatte aber eine ägyptische Magd, die hieß Hagar. 2 Und Sarai sprach zu Abram: Siehe, der HERR hat mich verschlossen, dass ich nicht gebären kann. Geh doch zu meiner Magd, ob ich vielleicht durch sie zu einem Sohn komme. Und Abram gehorchte der Stimme Sarais. 3 Da nahm Sarai, Abrams Frau, ihre ägyptische Magd Hagar und gab sie Abram, ihrem Mann, zur Frau, nachdem Abram zehn Jahre im Lande Kanaan gewohnt hatte. 4 Und er ging zu Hagar, die ward schwanger. Als sie nun sah, dass sie schwanger war, achtete sie ihre Herrin gering. 5 Da sprach Sarai zu Abram: Das Unrecht, das mir geschieht, komme über dich! Ich habe meine Magd dir in die Arme gegeben; nun sie aber sieht, dass sie schwanger geworden ist, bin ich gering geachtet in ihren Augen. Der HERR sei Richter zwischen mir und dir. 6 Abram aber sprach zu Sarai: Siehe, deine Magd ist unter deiner Gewalt; tu mit ihr, wie dir's gefällt. Da demütigte Sarai sie, sodass sie vor ihr floh. 7 Aber der Engel des HERRN fand sie bei einer Wasserquelle in der Wüste, nämlich bei der Quelle am Wege nach Schur. 8 Der sprach zu ihr: Hagar, Sarais Magd, wo kommst du her und wo willst du hin? Sie sprach: Ich bin von Sarai, meiner Herrin, geflohen. 9 Und der Engel des HERRN sprach zu ihr: Kehre wieder um zu deiner Herrin und demütige dich unter ihre Hand. 10 Und der Engel des HERRN sprach zu ihr: Ich will deine Nachkommen so mehren, dass sie der großen Menge wegen nicht gezählt werden können. 11 Weiter sprach der Engel des HERRN zu ihr: Siehe, du bist schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären, dessen Namen sollst du Ismael nennen; denn der HERR hat dein Elend erhört. … 13 Und sie nannte den Namen des HERRN, der mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht. Denn sie sprach: Gewiss hab ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat.

Was wir da vor Augen geführt bekommen, sind zerrüttete Familienverhältnisse, die gleichwohl mit guten Absichten beginnen – wie das oft so ist ... . Der Theologe Eberhard Jüngel hat einmal sehr schön gesagt: „Sarah meint es gut, Abraham findet’s gut, und Hagar tut es gut.“ Alle tun etwas, von dem sie meinen, dass es ein Problem löst. Aber wie das dann so ist, gute Absichten sind meistens besser als die Menschen, die sie ausführen.

Da ist also zunächst einmal das Problem: Abraham ist hochbetagt und hat keine Nachkommen. In der Welt unseres Textes ist das ein schwerwiegendes Manko. Es fehlt der Stammhalter, der die Familienlinie fortsetzt, und das trotz Gottes wiederholter Verheißung, dass Abraham einen Sohn bekommen würde. Aber irgendwie erweist sich diese Verheißung als Wanderdüne und löst sich nicht ein.

Da tritt Sarah auf den Plan. Wenn von allein nichts passiert, dann muss jemand das Heft in die Hand nehmen. Genau das tut sie und erweist dabei große Selbstlosigkeit. Wenn sie schon nicht die Mutter eines Kindes sein kann, dann soll wenigstens Abraham Vater sein dürfen – und zwar mit Hilfe ihrer Dienerin, Hagar. Alles dreht sich um Abrahams Sohn als sei das das Wichtigste auf der Welt. Nach Sarahs Bedürfnissen und Ängsten fragt niemand, auch sie selbst nicht. Die große Verheißung eines Nachkommen lässt vor allem sie wie eine Versagerin dastehen, weil sie ihren Part nicht erfüllt. Und diese Rolle nimmt sie an.

Ich stelle mir Sarah weder naiv noch verschüchtert vor. Im Gegenteil, sie weiß eigentlich immer, was gespielt wird, zeigt dabei aber eben eine enorme Leidensfähigkeit, jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt. Ihr Plan geht zunächst auf. Abraham zeugt mit Hagar den erhofften Sohn. Aber nun findet sie sich vollständig im Abseits vor. Hagar, die junge Frau und nun Mutter, läuft ihr den Rang ab. Und das ist dann doch mehr als Sarah ertragen kann, und so schlägt sie zurück: Sie lässt sich von Abraham freie Hand geben, ihre Dienerin zu demütigen und schließlich aus dem Haus zu werfen. Das Projekt ‚Nachkomme‘, das sie selber ersonnen hatte, endet im Desaster für alle Beteiligten.

Freilich scheitert Saras Plan auch an Hager, der ägyptischen Sklavin. Ihre fremdländische Herkunft wird mehrfach betont. Als Ausländerin hatte sie noch weniger Rechte als eine hebräische Sklavin. Sie steht ganz unten in der sozialen Hierarchie, und vielleicht war das auch ein bisschen Sarahs Kalkül. Hagar hätte, trotz Sohn, keine wirkliche Konkurrentin sein dürfen. Aber es kommt anders. Die ägyptische Sklavin wittert ihre Chance und lässt die Muskeln spielen. Dass sie schwanger ist, katapultiert sie vom Rand ins Zentrum des Geschehens. Für einen Moment ist sie diejenige, die die Verheißung wahr werden lässt. Dass Sarah ihr das überhaupt erst ermöglicht hat, scheint keine Rolle zu spielen. Aber am Ende verliert sie alles und bleibt einsam zurück.

Sie sehen, liebe Gemeinde, was wir hier erzählt bekommen, ist ein filmreifes Familiendrama. Es menschelt an allen Ecken und Enden, weil Menschen eben immer beides sind: selbstlos an der einen Stelle und egoistisch an der anderen, mal einfühlsam und dann wieder indifferent. Und genauso wenig wie wir heute, haben sich die Charaktere unsere Erzählung im Griff. Manchmal sieht man das Desaster, auf das man zusteuert, und kriegt trotzdem die Kurve nicht, weil man eben doch nicht der erste sein will, der nachgibt.

Aber was macht eigentlich Abraham bei alle dem? Erstaunlicherweise recht wenig. Der ganze ‚Hype‘ um den verheißenen Nachkommen lässt ihn ziemlich kalt. Es scheint fast so als müsse Gott ihm diese Verheißung erst so richtig schmackhaft machen. Und so lässt Abraham den Dingen ihren Lauf. Er spielt in Sarahs anfänglichem Plan mit, und er lässt sie auch gewähren, als diese sich der unerwünschten Nebenbuhlerin entledigt. In Abrahams Fall ist nicht das Problem, was er tut, sondern was er sein lässt. Er kümmert sich nicht, und auch das führt dazu, dass am Ende alle beschämt und beschädigt dastehen.

Wären wir jetzt in einer Familien-Soap unserer Tage, gäbe es am Ende doch noch irgendeine plötzliche Einsicht oder ein letztes tiefes Gespräch, das die Wende zum Guten bringt. Unsere Erzählung geht da einen eigenen Weg, den manche vielleicht auch für filmreif halten würden. Denn als letzter Akteur tritt Gottes Engel auf. Wir hören diese Geschichte heute am Sonntag, der den Namen „Misericordias Domini“, das „Erbarmen des Herrn“ trägt. Und so sollen wir diese Geschichte und vor allem ihren Abschluss als Beispiel dafür lesen, wie Gott sich erbarmt. Aber passt das hier?

Zunächst ist wichtig, dass dieser Engel nicht Abraham oder Sarah, sondern Hagar erscheint. Warum? Nun, vermutlich weil sie am härtesten getroffen ist. Das bedeutet nicht, dass ihr damit Recht gegeben wird. Opfer sind nicht immer unschuldig oder weniger schuldig als die anderen. Aber sie sind die Verlierer, die die Härte zerrütteter Verhältnisse stärker und existenzieller erleben müssen als andere.

Der Engel erscheint Hager. Das bewirkt kein Wunder, aber ermöglicht eine Rückkehr. Hagar kehrt wieder dorthin zurück, wo sie am Anfang war. Sie ist Dienerin, nicht Herrin. Es ist so, als würde die Uhr zurückgestellt werden, bevor die Eskalation begann. Das löst nicht alle Probleme, aber es eröffnet die Möglichkeit, den gleichen Fehler nicht noch einmal zu machen. Und noch etwas ist anders: Hagars Sohn wird nicht das Kind sein, auf das alle gewartet haben. Aber auch dieses Kind erhält eine Verheißung. Auch Ismael wir zum Erstling vieler Völker. Auch aus ihm wird etwas Besonderes werden. Hagar bleibt nicht einfach mit einem unehelichen Kind zurück, das am Ende niemand wollte. Da tut sich eine Tür auf, die vorher noch nicht da war.

Liebe Gemeinde, vielleicht hätte es gar keinen Engel gebraucht in dieser Geschichte. Manchmal geschieht das Wunder, dass sich unheilige Verhältnisse heilen, ohne dass man so ganz genau weiß, woran es eigentlich lag. Manche würden vielleicht von Zufall sprechen. Andere vertrauen auf Gruppentherapie. Was der Engel aber bewirkt ist zweierlei: Die Ereignisse werden an einen Ort zurückversetzt, der Menschen einen Neubeginn ermöglicht. Hagar kehrt zurück. Ohne dass es gesagt wird, setzt das voraus, dass Sarah sie gewähren lässt. Das hat sie sicher nicht zu besten Freundinnen gemacht, aber die Eskalation ist vorüber. Orte finden, an denen man sich wieder begegnen kann, an denen frühere Lasten ihre Toxizität verlieren – das ist auch die Erfahrung unserer Geschichte. Gott hat mich gesehen, Gott man mich gehört – so fasst Hagar diese Erfahrung zusammen. Gott sieht und hört und setzt das Verworrene, Heillose neu zusammen. Es gibt eine Misericordias Domini, eine Barmherzigkeit Gottes, eine Kraft, die den besten Absichten von Menschen widersteht, sich das Leben zur Hölle zu machen.

Und da ist noch ein Zweites: Hagars Kind, das sie Ismael nennen soll, droht zum eigentlichen Verlierer dieser Geschichte zu werden. Erst als Notlösung gezeugt, dann ungeboren verstoßen – einen miserableren Start ins Leben gibt es wohl nicht. Aber auch für dieses Kind gibt es schließlich eine Zukunft. Das ist so als hätte man Gott ein misslungenes Werkstück hingelegt, sodass er etwas anderes, Neues daraus macht. Und das geschieht, und auch das ist Misericordias Domini.

Ob wir das annehmen können, hängt am Ende wohl davon ab, ob wir glauben können, dass es in den Beziehungsgeflechten, in denen wir leben, diese widerständige Kraft gibt, die dem Destruktiven, das wir in die Welt setzen, das große Finale verwehrt. Beweisen kann man das nicht, und es gibt tausend Beispiele, die man dagegen anführen kann. Aber es gibt eben auch die Erfahrung, die Hagar macht: Gott sieht mich, Gott hört mich, genau dann, wenn alle taub, blind und stumm für mich sind. Das macht mich weder zu einem besseren, noch frommeren oder moralisch überlegenen Menschen. Aber es macht mich zu jemandem, der die Misercordias Domini am eigenen Leib erlebt hat.

Amen.