Predigt über 1. Timotheus 2,1-6a

  • 14.05.2023 , 5. Sonntag nach Ostern – Rogate
  • Prof. Dr. Dr. Christoph Markschies

Predigt am Sonntag Rogate, 14. Mai 2023

über 1. Timotheus 2,1-6, Thomaskirche Leipzig

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist, und der da war und der da kommt. Amen.

Am Sonntag Rogate geht es – wie wir nun schon mehrfach gehört haben, liebe Gemeinde – um das Beten. Aber hier in Leipzig kann man über das Beten nicht so reden, wie man in Berlin, Dresden oder Stuttgart über das Beten redet oder meinetwegen in London oder New York. Hier in Leipzig hat auch für die Menschen, die in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts noch gar nicht geboren waren, das Wort „Beten“ einen besonderen Klang und mindestens in dieser Stadt kennen die meisten Menschen gleich welchen Alters jenen berühmten Satz „Wir hatten alles geplant, wir waren auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete“. Es spielt keine Rolle, ob dieser Satz tatsächlich auf den ehemaligen Volkskammer-Präsidenten Horst Sindermann zurückgeht, oder vielleicht der Schriftsteller Erich Loest mit diesen Worten genial zusammenfasste, was SED-Funktionäre wie Sindermann im Jahre 1989 dachten[1]. Denn seit Beginn der achtziger Jahre kamen auf Initiative eines Jugenddiakons drüben in der Nikolaikirche am Montagnachmittag Menschen zusammen, um für den Frieden in einer durch militärische Hochrüstung gezeichneten Welt zu beten und bis heute gestalten verschiedene Gruppen, Vereine und Initiativen, die in einen Trägerkreis eingebunden sind, Montag für Montag – mit Ausnahme der Sommerpause – jeweils um 17 Uhr das Friedensgebet in der Nikolaikirche. Kerzen spielten von Anfang an eine große Rolle in diesen Andachten und natürlich Gebete.

Es wäre allerdings ziemlich kurios, liebe Gemeinde, wenn ein Berliner, geboren und aufgewachsen in West-Berlin, heute auf der Kanzel der Thomaskirche ausführlicher darüber reden wollte, was zu DDR-Zeiten in der Nikolaikirche und an anderen Stellen hier in der Stadt geschehen ist, insbesondere darüber, welche unmittelbare Kraft das Gebet hier entfaltet hat vor Ort. Am berühmten 9. Oktober 1989 war ich zudem auch gar nicht in der Stadt, wohl aber noch am 7. Oktober 1989, dem damaligen Republikfeiertag. Bei meiner Tante, die im Süden in der Zwickauer Straße wohnte, las ich in der Leipziger Volkszeitung am Küchentisch die Bekenntnisse von Mitgliedern der Betriebkampfgruppen, den Sozialismus zur Not mit der Waffe in der Hand zu verteidigen, und als wir nach Hause fuhren, standen auf Parkplätzen und den damals noch nicht mit Leitplanken abgeteilten Mittelstreifen der Autobahnen um Leipzig herum die Mannschaftswagen der Nationalen Volksarmee und ihre Schützenpanzer. Auch für einen Menschen aus West-Berlin war erkennbar, wie bedrohlich sich die Lage zugespitzt hatte – und, liebe Gemeinde, nun verstehen Sie vielleicht, warum ich bei unserem eben als Epistel gehörten Predigttext an die Kraft der Kerzen und Gebete hier in Leipzig vor über dreißig Jahren denken muss, daran denken muss, dass man damals gebetet hat, oder wie es in Luthers Übersetzung etwas altertümlich heißt, „Bitte, Gebet und Fürbitte … getan“ hat „für alle Menschen“. Eben nicht nur mit der Kerngemeinde und für die Kerngemeinde, sondern „für alle“, dieses Wort alle kommt im Predigttext auffällig oft vor, „vor allen Dingen“, „für alle Menschen“, „als Lösegeld für alle“. Die offenen Friedensgebete hier in Leipzig damals vor über dreißig Jahren haben deutlich gemacht, dass die christliche Gemeinde nicht im stillen Kämmerlein für sich selbst betet, sondern mit allen Menschen für alle Menschen. Auch die waren und sind eingeladen, die das Vaterunser gar nicht mehr kennen und nur irgendwie ahnen, dass Beten sinnvoll ist und hilft; auch die waren und sind eingeladen, die gar nicht mehr an die Kraft die Betens glauben, alle Kirchen, offen für alle Menschen, aber natürlich nicht für alles. Vor allen Dingen offen für das Gebet.

Unseren Predigttext, liebe Gemeinde, werden vielleicht einige missverstehen als die Beschreibung eines kleinbürgerlichen Idylls – christliche Gemeinde als Kleinbürgerverein und die drei Briefe des neuen Testaments, aus denen unser Abschnitt stammt, als Zeichen einer sehr frühen Verbürgerlichung des Christentums, so hat das ein kluger, aber ziemlich polemischer Universitätskollege vor einiger Zeit geschrieben, natürlich keiner aus Leipzig. Man kann unseren Text so verstehen, wenn man sich auf die eine Zeile stürzt, in der wir zum Gebet „für die Könige und für alle Obrigkeit“ aufgefordert werden, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit“. Da denken wir an deutschen Untertanenstaat, preußischen Kadavergehorsam und protestantische Obrigkeitsergebenheit: „Üb immer Treu und Redlichkeit bis an Dein kühles Grab und weiche keinen Finger breit von Gottes Wegen ab“ spielte bis zur Zerstörung 1945 ziemlich verstimmt das Glockenspiel der Potsdamer Garnisonkirche zu jeder halben Stunde; das galt (und gilt manchen immer noch) als eines der Wahrzeichen für protestantische Obrigkeitsergebenheit und deutschen Untertanenstaat. Aber, liebe Gemeinde, in beiden Fällen lohnt genaueres Hinsehen, beim Glockenspiel und beim Predigttext: Der Text des Potsdamer Glockenspiels wurde nämlich durch die Melodie regelrecht konterkariert. Das Glockenspiel intonierte zum Text die Mozart-Weise von „Ein Mädchen oder Weibchen / wünscht Papageno sich! / O so ein sanftes Täubchen / wär’ Seligkeit für mich!“ aus der Zauberflöte, politisch heute sicher auch nicht mehr restlos korrekt, aber ganz gewiss auch kein serviler, durch das Christentum abgesicherter Untertanengehorsam. Und genauso wie das Potsdamer Glockenspiel lohnt unser Predigttext den genaueren Blick. Kaum Wunder, dass man vor ungefähr zweitausend Jahren nicht für den Bundeskanzler und den Ministerpräsidenten Fürbitte hielt, sondern für den Kaiser, griechisch für den König. Aber in unserem Predigttext steht kein Singular – Kaiser bzw. König –, sondern ein Plural: für alle Menschen, für die Könige (Plural!) und für alle uns in irgendeiner Weise vorgesetzten Menschen: Universitätsrektorinnen, Landesbischöfe, Ministerpräsidentinnen, Bundeskanzler, ganz egal, welcher politischen Partei, egal in welchem System, die christliche Gemeinde hält für alle Fürbitte.

Und für was, liebe Gemeinde, wofür sollen wir beten, wenn wir für alle beten? Wir sollen, so steht das wunderbar in unserem Predigttext, beten, dass geschieht, was Gott will: Dass alle Menschen gerettet werden und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Damit das geschehen kann, müssen natürlich zuerst die Kaiser und Königinnen, Bundeskanzlerinnen und Ministerpräsidenten, Landesbischöfe und Superintendentinnen zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Beispielsweise wie vor über dreißig Jahren zur Erkenntnis der Wahrheit, dass die berüchtigte chinesische Lösung mit den Gewehren der Betriebskampfgruppen und Volksarmeedivisionen den sichtbar zusammenbrechenden SED-Staat auch nicht mehr gerettet hätte. Wir beten, dass der russische Präsident zur Erkenntnis der Wahrheit kommt, dass er mit seinen verbrecherisch agierenden Söldnertruppen und blutjungen unerfahrenen Wehrpflichtigen den Freiheitswillen eines ganzen ukrainischen Volkes wird nicht auf längere Sicht unterdrücken können. Und wir beten zuletzt auch für uns, dass wir zur Erkenntnis der Wahrheit kommen, dass wir so, wie wir heute mit Klima, Umwelt und Boden umgehen, nicht weitermachen können, wenn wir unseren Kindern und Enkelkindern noch eine lebenswerte Umwelt übergeben wollen. Wir beten so für alle Menschen und auch für die Regierenden und Vorgesetzten, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können – meint: damit nicht Kriege und Umweltkatastrophen unser Leben erschüttern und Angst oder gar Verzweiflung uns durchs Leben treibt.

Genau hinschauen lohnt, liebe Gemeinde. Denn wenn wir ein letztes Mal genau auf unseren Predigttext schauen, erkennen wir, dass sich ein Kirchenlied in ihm versteckt, ein geistlicher Hymnus. Das Lied beginnt bei Vers 5 unseres Predigttextes und das kleine Wörtchen „denn“ ist der griechische Doppelpunkt. Doppelpunkt:

„Es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat als Lösegeld für alle, als Zeugnis zur rechten Zeit“.

Ein kurzes Lied, vielleicht auch nur ein kurzes Zitat aus einem langen Lied, liebe Gemeinde. Und was hat das mit dem Beten zu tun? „Zweimal betet, wer singt“, bis orat, qui cantat, lautet ein berühmter mittelalterlicher Merkvers, den man dem großen lateinischen Kirchenvater Augustinus aus Nordafrika zuschreibt, fälschlicherweise. Auch wenn es also in Wahrheit so ist, wie mit dem eingangs zitierten Satz von Sindermann, der in Wahrheit vielleicht von Loest stammt – der Inhalt stimmt, vom wem auch immer er stammt: Zweimal betet tatsächlich, wer sein Gebet singt. Darüber muss man in der Thomaskirche nun wirklich nicht länger reden, zumal nicht, wenn der Thomanerchor so schön gesungen hat und noch singen wird. „Singet dem Herrn ein neues Lied“. Gebet in vielen Formen, Gebet mit vielen Tönen, Gebet, das besonders eingeht, eben weil es gesungen und nicht nur gesprochen wird. Gebet für Herz und Sinn, Seele und Verstand. Oder, wie man tatsächlich bei dem genannten Bischof Augustinus nachlesen kann: Wer nämlich die (im Predigttext als Gebetsform erwähnte) Danksagung singt, dankt nicht nur, sondern dankt voller Heiterkeit; wer die Danksagung singt, singt nicht nur, sondern hat Sehnsucht nach dem, dem er dankt[2]. Wir werden das gleich nach der Predigt vom Thomanerchor zu hören bekommen, was das meint.

Mir scheint, liebe Gemeinde, hier in Leipzig hat man eigentlich keine Ermahnungen darüber nötig, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und für alle Obrigkeit“. Hier in Leipzig weiß man doch hoffentlich, dass dies gut und wohlgefällig ist vor Gott, unserm Heiland, und hier hat man eindrückliche Traditionen, uralte und nicht ganz so alte, in dieser Kirche und in den anderen Kirchen, auf dem Ring und im Gewandhaus, um sich daran zu erinnern, was das Gebet für alle Menschen bewirken kann, wenn man es denn je vergessen haben sollte. Und falls wir es je vergessen, liebe Gemeinde, in Leipzig und anderswo, dann gibt es auch im nächsten Jahr wieder den Sonntag „Rogate“, „betet“ und in ein paar Jahren auch wieder einmal den eindrücklichen Predigttext dieses Jahres 2023. Und deswegen weil es mit Rogate, mit dem Beten, heute ja kein Ende hat, kann ich hier schließen, so schließen, wie man nicht nur in dieser Kirche Predigten schließt: „Amen. Das ist: Es werde wahr“.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Christoph Markschies

praesident@bbaw.de

 


[1] Richard Schröder, „Wir hatten alles geplant, wir waren auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete“ (Erich Loest), in: Politik ist Dienst. Festschrift für Bernhard Vogel zum 80. Geburtstag, hg. v. Hans-Gert Pöttering, Wien 2012, 169-172..

[2] Vgl. Augustinus, Sermo 336 (Migne Patrologia Latina 38, [1471-1475] 1472): Qui enim cantat laudem, non solum laudat, sed etiam hilariter laudat; qui cantat laudem, non solum cantat, sed et amat eum quem cantat. In laude confitentis est praedicatio, in cantico amantis affecti.