Predigt über 2. Korinther 10,1-10

  • 04.02.2018 , 2. Sonntag vor der Passionszeit - Sexagesimae
  • Pfarrerin Taddiken

Predigt über 2. Korinther 10,1-10 Sexagesimae, 4. Februar 2018

Gnade sei mit Euch von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,
Schwäche, Versagen, seelische und körperliche Not - all das gehört nicht zu unserem Lebenskonzept. Die entsprechenden Apps, davon möglichst viel zu beheben - sie stehen hoch im Kurs. Und so wird ordentlich dabei nachgeholfen, Doppelkinne, Bauchansätze und dicke Hintern verschwinden zu lassen, besonders auf Instagram und Co. Viele Jüngere wollen damit punkten und wünschen sich nichts mehr als zum sog. „Influencer" zu werden. Das ist ein vor gut zehn Jahren entstandener Begriff für eine Person, die aufgrund ihrer starken Präsenz und ihres hohen Ansehens in einem sozialen Netzwerke für Werbung und Vermarktung in Frage kommt. Bei diesen Selbstdarstellern wird kaum eine Schwäche sichtbar, außer vielleicht, sie gönnen sich ein Eis, fotografieren es - und nennen es dann "Sünde".

Das ist die pervertierte Form einer Kunst, die es aber andererseits bis zu einem gewissen Punkt zu beherrschen gilt. Man kann nicht so zum Vorstellungsgespräch gehen als wolle man gerade zum Angeln. Und wer sich bewirbt, der wird auch kaum an den Spielregeln der positiven Selbstdarstellung vorbeikommen, die in der letzten Woche das Internet-Karriereportal Linkedin untersucht hat. Bzw. die Schlagwörter, die am häufigsten in der Selbstbeschreibung der 500 Millionen Nutzer aus über 200 Ländern gebraucht werden. Die Top-Ten des Eigenlobs lauten in aufsteigender Reihenfolge: motiviert, kreativ, strategisch, innovativ, qualifiziert, leidenschaftlich, Führungsqualitäten, Expertenwissen, erfahren und spezialisiert. Wenn man's überlegt: ein einziges Wortgeklingel. Inflation der Begriffe: Wer ist nicht motiviert für eine Stelle, für die er sich bewirbt. Für mich wird da letztlich genau das Gleiche erkennbar, was jemanden dazu bewegt, andere mit gefälschten Fotos beeindrucken zu wollen: Eine große Unsicherheit über sich selbst und das, was man ist und was einen hält. Was, wenn das alles weg ist, Jugend, Schönheit, Gesundheit, Erfolg? Was trägt dann? Wenn ich mich um unsere Gesellschaft sorge, dann darum: Um unsere schwindende Fähigkeit zum konstruktiven Umgang mit den Niederlagen und Verlusten in unserem Leben. Dass jemand keine Antwort auf die Frage hat: Was trägt mich dabei dennoch, was lässt mich diese Erfahrung bewältigen? Eine Antwort zu haben setzt dabei voraus, hoffen zu können: Vielleicht gehe ich sogar gestärkt daraus hervor... Wer an dieser Stelle meint, ins Bodenlose fallen, ist seinen diffusen Ängsten viel mehr ausgesetzt. Seinen Vergeblichkeitserfahrungen, seinen Selbstzweifeln oder dem Eindruck: Niemand würdigt mich und meine Lebensleistung genug. Dass einem dann diejenigen zur latenten Bedrohung werden, die eine bestimmte Gewissheit über ihren Lebensentwurf ausstrahlen oder auch bzgl. ihrer kulturellen und religiösen Identität - das verwundert nicht. Eine Umfrage hat vor kurzem bestätigt, dass das das Lebensgefühl etlicher Menschen vor allem in Sachsen ist.

Aber auch, wenn man meint: Da kann ich mich nicht wieder finden, bleibt in unserer Wettbewerbsgesellschaft - und das sind wir ja - immer die Frage: Wie sehe ich mich denn selbst an - und wie möchte ich gesehen werden? Hand aufs Herz: Verfügen Sie über so viel Selbstvertrauen, dass Ihnen völlig egal ist, was andere über Sie sagen und wie Sie auf andere wirken? Und über so viel Barmherzigkeit mit sich selbst, dass Ihnen Ihr Äußeres und Ihre Schwächen und Unzulänglichkeiten wirklich egal sind? Ziehen Sie aus dem, was andere sagen, keine Bestätigung für sich selbst? Und wie gehen Sie mit dem Druck um, der auf Ihren Schwächen lastet, auf die man ja auch behaftet wird?

Wie man mit dem Umfeld solcher Fragen meisterhaft umgehen kann, kann man an unserem heutigen Predigttext beobachten - und auch daraus lernen. Ein Abschnitt aus dem 2.Korintherbrief des Apostels Paulus. In der Gemeinde von Korinth steht Paulus den „Influencern" seiner Zeit gegenüber, die damals von religiöser Art waren. Sie hatten die Gemeinde beeinflusst, haben beeindruckende Reden geschwungen und sich großer religiöser Erlebnisse und Visionen gerühmt. Sie fühlen sich Paulus überlegen und betonen, sie vermögen größere Wunder- und Krafttaten auszuüben. Was aber tut nun Paulus? Er macht sich mit ironischen Worten das Format dieser Selbstlobesreden seiner Gegner zu Eigen. Sie wollten ihn damit diffamieren, er aber nutzt sie in bestechender Weise, um seine Position klarzumachen.

Gerühmt muss werden; wenn es auch nichts nützt, so will ich doch kommen auf die Erscheinungen und Offenbarungen des Herrn. 2 Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren - ist er im Leib gewesen? Ich weiß es nicht; oder ist er außer dem Leib gewesen? Ich weiß es nicht; Gott weiß es -, da wurde derselbe entrückt bis in den dritten Himmel. 3 Und ich kenne denselben Menschen - ob er im Leib oder außer dem Leib gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es -, 4 der wurde entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann. 5 Für denselben will ich mich rühmen; für mich selbst aber will ich mich nicht rühmen, außer meiner Schwachheit. 6 Denn wenn ich mich rühmen wollte, wäre ich kein Narr; denn ich würde die Wahrheit sagen. Ich enthalte mich aber dessen, damit nicht jemand mich höher achte, als er an mir sieht oder von mir hört. 7 Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe. 8 Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir weiche. 9 Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf dass die Kraft Christi bei mir wohne. 10 Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.

Noch einmal: Paulus nutzt also das Format des Selbstlobs, um seine apostolische Qualifikation aufzuzeigen. Nur dass er da, wo seine Lesenden einen Bericht seiner Zeichen und Wunder erwarten, von seinen Leidens-, Krankheits- und Defiziterfahrungen erzählt. Für seine Gegner mag das lächerlich und für die korinthische Gemeinde komisch geklungen haben. Aber für ihn liegt genau darin die Rechtfertigung seiner apostolischen Existenz, die eben den gekreuzigten Christus zum Zentrum hat. Er spricht zwar von seiner Gottesoffenbarung, von einer Reise „bis in den dritten Himmel", wo nach damaliger Tradition das Paradies zu finden war. Aber: Er tut es in würdevollem Abstand in der dritten Person, obwohl allen klar ist, dass er sich selbst damit meint. Man spürt seine Vorbehalte dagegen, damit laut zu prahlen. Denn diese Erfahrung bringt bestenfalls ihm persönlich etwas, nützt jedoch niemandem sonst und so soll sie nicht zur Steigerung des persönlichen Ansehens dienen.

Denn die andere Seite kennt Paulus ja auch: Leben ist auch Kampf. „Des Satans Engel" habe ihn mit Fäusten geschlagen. Vielleicht spricht er von einer Depression, wie sie Hyperaktive überfallen kann. Vom „Pfahl im Fleisch", einem seelischen oder körperlichen Dauerleiden jedenfalls. Dabei fällt auf: Er spricht in keiner Weise von einem „dennoch" oder „aber", sondern immer von „und" und „in". Die Anfechtungen, das Leiden, alle Erfahrungen gehören unmittelbar zu seinem Leben. Er lebt in ihnen. Und er entwicklt keine Theo-dizee, keine Theo¬rie über das Warum, fragt nicht: „Wie kann Gott das zulassen". Er spricht über das Leiden persön¬lich und macht keine allgemeinen Aussagen über i¬ren Sinn. Und zwar deshalb, weil er einen festen Standpunkt gewonnen hat bzw. ihm der geschenkt worden ist: Der Glaube bleibt auch gü¬tig im Leid. Ihm ist klar: In seiner Person als Apostel aktualisiert sich das, was Christus zuvor erlitten hat. Am eigenen Leibe hat er erfahren, was allen Menschen gilt:

Dort, wo sie am schlimmsten zu leiden haben, da hat Gott uns in Jesus aufgesucht - und er tut es immer wieder. Hier vollendet sich in im doppelten Sinne in der Tiefe die gesamte Geschichte Gottes mit den Menschen: Dass er mit dem Menschen zusammensein will: in seiner Schwachheit. Das ist die Voraussetzung für die Erlösung des Menschen. Nicht seine Schönheit, seine Beliebtheit, sein Erfolg. Gott sucht ihn in seiner Schwachheit auf: Das ist Gnade für Paulus.

Auf diesem Hintergrund kann man als Mensch das Leben aushalten, wie es ist. Aber nicht nur aushalten, hier liegt vielmehr die Antwort auf die Frage: Wie gehe ich mit meinen Niederlagen und Verlusten um, mit meinen Enttäuschungen? Dass Paulus diese Gnade als Antwort gefunden hat - das macht ihn nun so selbstbewusst und stark, dass er in dieser Souveränität mit seinen Gegnern in Korinth umgehen kann. Dass er ihnen voller Kraft seine Schwäche zeigt.

So wie es der gekreuzigte und auferstandene Christus mit seinen Jüngern getan hat. Er hat ihnen seine Erweckung in neues Leben letztlich nur durch dadurch begreiflich machen konnte, dass er ihnen seine Wundmale zeigt. Für den Apostel Thomas, den Namenspatron unserer Kirche, war genau das die ausdrücklich verlangte Bedingung. Er wird ja oft als Zweifler bezeichnet. Aber er hat viel eher begriffen als die anderen Jünger: dass sich in diesen Wunden das Heil für uns zeigt. Das hat ihn veranlasst zu seinem Bekenntnis: „Mein Herr und mein Gott".

Paulus wendet hier die gleiche Methode an: Er zeigt der Gemeinde seine Wunden. „Muss dennoch gerühmt sein, so will ich mich meiner Schwachheit rühmen." Haben wir unsere eigenen und die Schwächen anderer je so gesehen? Dass hier die Kraft Jesu Christi an uns gewissermaßen „andocken" kann - und ich dabei hineingenommen werde in das Geschehen von Leiden, Sterben, Auferstehen Jesu Christi? Dass sich auch an mir erfüllt, dass sich Gottes Kraft in der Schwachheit vollendet?


Wenn ich das auch nur in Ansätzen begriffen habe, wenn ich es für mich annehmen kann: Dann kann ich mit meinen Schwächen und denen dieser Welt - und mit dem, was sie auslösen an Verwerfungen, Zerwürfnissen, u.a. leben. Und ich kann hoffen auf einen Heilungsprozess in bezug auf das, was ich angerichtet habe, aber auch für die Wunden, die andere mir zugefügt haben. Da muss ich mich nicht mehr als Opfer sehen. Und dann lechze ich auch nicht mehr nach Bestätigung durch andere. Da kann ich auch die Niederlagen, Wunden und Verluste meines Lebens in mein Leben integrieren und muss daran nicht irrewerden.

Natürlich, das ist nicht einfach, das ist ein Prozess und ein ständiges Auf und Ab, man hat's nicht ein für alle male sicher. Hoffnung ist eben nicht Besitz, sondern Gnade. Paulus selbst schreibt diesen Brief „unter Tränen". Dass er verleumdet und verspottet worden ist, das hat ihn echt verletzt. Wir wissen das ja wohl irgendwie alle, wie das ist, wenn man uns so kränkt, dass es bitter wird in uns. Wenn sich alles zusammenzieht und man so etwas merkt wie einen „Pfahl im Fleisch" - auch das kann es sein, was er hier meint, nicht eine Krankheit, sondern eine Kränkung, an beidem kann man gleich schlimm leiden. Aber offenbar gelingt es Paulus, auch das umzuwenden bis hin zu einem für andere narrenhaft - lächerlichen „Rühmen des eigenen Leids". Gerühmt werden muss, sagt er zu Anfang. Ja, wahrlich, gerühmt werden muss. Und zwar, dass wir Anteil an dem bekommen, was sich im Leiden Jesu am Kreuz vollendet hat, hier, wo sich zugleich schon der Anfang neuen Lebens schon anbahnt.

So will Paulus mit diesem Brief unter Tränen viel mehr, als sich zu rechtfertigen. Er will Tränen trocknen angesichts des Leids seiner Adressaten, bis heute. In einem Gedicht der Schriftstellerin Nelly Sachs wird wunderbar in Worte gefasst, was es heißt, sich an der Gnade genügen zu lassen:

„Leiden. Du säest dich mit allen Sekundenkörnern
In das Unerhörte. Die Auferstehungen Deiner unsichtbaren Frühlinge Sind in Tränen gebadet. Der Himmel übt an dir Zerbrechen. Du bist in der Gnade."


Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org