Predigt über 5. Mose 6,4-9

  • 31.10.2019 , Reformationstag
  • Pfarrer Martin Hundertmark

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

 „Wer nicht hören will, muss fühlen.“

Dieses aus der Mottenkiste schwarzer Pädagogik entnommene Diktum lässt uns heute eher aufschrecken als dass wir darin etwas Gutes entdecken könnten. Mancher von Ihnen, liebe Gemeinde, der schon eine beträchtliche Anzahl an Jahrzehnten auf dem Lebensweg zurückgelegt hat, wird schmerzliche Erinnerungen aus Schulzeit oder Elternhaus an diesen Satz haben. Denn mit „Fühlen“ waren in erster Linie Schläge gemeint.

Was aber, wenn die Ohren verstopft sind?

Was, wenn nichts mehr durchzudringen vermag, weil es eine schlichte Überreizung gibt und alles Gesagte nur noch vorbei rauscht?

Was, wenn die Fähigkeit zum Hören im sinntötenden Alltagslärm verloren geht?

Brauchen wir dann nicht das Fühlen, das Haptische, damit uns klar wird, wie wichtig eine Sache ist?

Von daher möchte ich den Satz etwas abwandeln und ihm dadurch eine positivere Prägung geben.
„Wer nicht hören kann, muss fühlen.“

Lernen am anderen Ort zählt wohl zu den intensivsten Erfahrungen eines Schülers. Dort, wo ich erleben kann, was Geschichte bedeutet, haben es auch die dazugehörigen Worte leichter, gehört zu werden. Hundert Vorträge über das Papsttum können nicht so eindrücklich sein, wie eine auf dem Petersdom erlebte Papstmesse.

Tausend Erzählungen über Heilige vermögen nicht die Begegnung mit der Schwarzen Madonna von Altötting ersetzen.

Das eigene Suchen und Forschen nach Pflanzen, Gräsern und Früchten in der Natur ist die willkommene Ergänzung zum Biologielehrbuch.

Johann Sebastian Bachs Musik kann ich in den Bergen, am Meer oder im heimischen Wohnzimmer hören – doch das Hör-Erlebnis am Ort seines Schaffens ist viel intensiver, weil zum Hören das Gefühl hinzukommt, an allem besonders nahe dran zu sein.

Wir brauchen als Menschen beides – Hören und Fühlen, damit sich das, was für unser Leben und für unseren Glauben wichtig ist, nachhaltig einpflanzen kann.

Auf dem Weg durch die Wüste, hört und spürt das Volk Israel den Gott der Freiheit. Es steht kurz vor der Besitznahme des verheißenen Landes. Und Mose schärft dem Volk noch einmal ein, was wichtig ist in der Beziehung zu Gott.

Das Erinnern und Gedenken an die Rettung und Bewahrung. Die geschenkte Freiheit. Und nicht zuletzt die zehn Gebote als Ausdruck und Handlungsspielraum für ein gelingendes Miteinander zwischen Mensch und Gott und Mensch und Mensch. Gewissermaßen als Abschluss und kurze Verdichtung lässt sich unser heutiger verstehen. Er steht im 5. Buch Mose (Deuteronomium) im 6. Kapitel:

 4 Höre, Israel, der HERR ist unser Gott,

der HERR ist einer.

5 Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb

haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.

6 Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen 7 und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden,

wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst.

8 Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, 9 und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.

 

Das erste Gebot - jüdisch

 

Als die Summe der ganzen Thora wird das sogenannte Schema Israel bezeichnet. Hier komprimiert sich in wenigen Versen, worauf es ankommt. Gott als den Einen lieben und ehren mit der ganzen eigenen Existenz. Dafür stehen das Herz und die Seele und die Kraft. Im jüdischen Verständnis ist es der Ort, wo sich alles entscheidet, Gottesbeziehung ebenso, wie die Beziehung zu den uns nahe stehenden Menschen. Das Herz ist dabei das Zentrum des Willens und der Einsicht, der Wohnort von Verstand und Weisheit und ebenso der Ort, der bewussten Entscheidung hin zum Guten wie auch zum Bösen.

Von ganzer Seele heißt hier, mit allem, was ich als Mensch bin, Gott zu lieben, ihn also zu mir durchdringen zu lassen. Wo Gott Herz und Seele erreicht, verändert sich der Mensch. So vermag er dann auch mit den ihm gegebenen Möglichkeiten Gutes zu tun als Ausdruck seines Dankes an den Schöpfer. Dafür steht die Kraft.

 Hören – Lieben – Lernen. Diesen Dreiklang aus dem Predigttext wollen wir uns nun widmen.

 1.)     Hören

 Wer hören will, liebe Gemeinde, der braucht Zeit und Ruhe, dass Worte nicht nur vorbeirauschen, sondern auch wirklich wahrgenommen werden.

Das scheint mir ein Grundproblem der Gegenwart zu sein – dass es zu viele Geräusche, zu viele Stimmen und zu viel Lärm gibt.

Bewusstes Zuhören fällt dann schwer, ist manchmal auch schon unheimlich, wenn sich nur auf eine Sache konzentriert werden soll, wo doch sonst immer zwei drei Dinge gleichzeitig gehört werden wollen oder gehört werden müssen.

Bewusstes Zuhören fällt auch dort schwer, wo eigenen Vorstellungen und Ideologien, den Zugang zu Ohr und Herz verbarrikadiert haben. Wir werden das Hören und Zuhören wieder lernen müssen, wollen wir als Gesellschaft und Kirche unsere Aufgaben gemeinsam lösen.

Höre Israel: Darin steckt aber auch, dass dieser eine Gott uns ganz und gar fordert. Wir brauchen keine anderen Götter, weder die der alten Zeit noch die modernen Götter, die unser Tun und Leben bestimmen wollen.

 2.)     Lieben

 Gott lieben mit meiner ganzen Existenz.

Wie soll das gehen, frage ich mich da? Lernen vom bloßen Hören ist schon schwer genug. Lieben vom Hören oder Hörensagen her? Das ist kaum vorstellbar. Liebe gilt es zu erfahren. Und aus der Erfahrung heraus kann ich von ihr erzählen, vielleicht sogar zur Liebe bewegen. Liebe erfahren heißt aber immer: sich mit Liebe beschenken lassen.

Das Volk Israel kann auf einen reichen Erfahrungsschatz mit Gott zurückgreifen. Manche Erfahrung waren schmerzlich auf dem Weg zum versprochenen Heil.

Der Abschied aus Ägypten, das Ende der Knechtschaft, die Flucht vor den hochgerüsteten Ägyptern, Wüstenwanderung mit Entbehrung, Streit und Zweifel.

Sie fühlten:

-das Glück gewonnener Freiheit und den Schmerz verlorener Sicherheit.

-die Angst vor Verfolgung, den Hunger und den Durst ebenso wie den Geschmack von Manna und frischem Wasser.

-Misstrauen untereinander und gegen Gott

Und sie fühlten, bei allem Streit trotzdem zu einem Volk geworden zu sein.

„Höre Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein.“ Dieser Vers ist neu zum Klingen gekommen in den Ohren des Gottesvolkes auf der langen Wüstenwanderung.

Manche waren dabei auf der Strecke geblieben, manche gestorben, bei Nacht und Nebel verschwunden. Das aber, was sie untereinander verband, war der Glaube an den einen Gott und der Glaube daran, dass genau dieser Gott eine Ende mit der Knechtschaft gemacht hat, das dieser Gott ein Gott der Freiheit ist.

Diesen Gott gilt es zu lieben mit ganzer Existenz, ja manchmal sogar darüber hinaus.

Ein paar Jahrhunderte später greift Jesus dies auf, wenn er sagt: „Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzem Gemüt und deinen Nächsten wie dich selbst.“

Er führt die Tradition fort und konkretisiert, wie Gottesliebe gelebt werden kann – in der Liebe des Nächsten. Dazu ist es unerlässlich, sich selbst lieben zu können. Das heißt aber nichts anderes, als sich selbst annehmen zu können und sich als geliebtes Kind Gottes zu verstehen.

3.)     Lernen

 Das Lernen gehört zum Glauben dazu, liebe Gemeinde. Im Erzählen und Verknüpfen mit der eigenen Lebensgeschichte wird lebendig, was, manchmal trocken klingt. Und jeder hat seine eigenen Geschichten mit diesem Gott der Freiheit. Gute Geschichten wollen gehört werden – auch von jüngerer Generation, der wir oft ein nicht-hören-wollen attestieren. Im Erzählen und Weitergeben der Glaubenstradition, auch der Gebote und Bekenntnisse, erfüllt sich der Auftrag, den Gott uns gegeben hat. Deshalb hat Evangelisch-Lutherische Kirche, so sie sich noch in der Tradition der Reformatoren sieht, immer eine besondere Verantwortung für Lernorte und ür Bildung.

Der erste Gebot – reformatorisch

 Im Glauben an Gott entscheidet sich unser Leben. Vermögen wir es, ihm Vertrauen aufzubringen auch in schwerer Zeit?

Wenn die Krisen des Lebens groß sind, wenn durch Verlust oder Krankheit verursachte Glaubenserschütterung alles ins Wanken bringt und sogar das Vertrauen auf Gott infrage stellt, wie soll da die Bindung an ihn feststehen?

Ratschläge verbieten sich hier meines Erachtens.

Dem Zweifelnden und Erschütterten kann ich schlecht ein „du musst aber glauben“ entgegenwerfen.

 Was sich aber nicht verbietet, sind eigene Glaubenserfahrungen weiterzugeben. Ganz im Sinne des Deuteronomiumstextes. Kindern und Enkeln vom Glauben erzählen. Oder von Leidtragendem zu Leidtragendem die Glaubenserfahrung als ein Gehaltenwerden durch Gott in der Krise weitergeben.

Martin Luther hat geschrieben, dass wir Gott so haben, wie wir ihn glauben.

„Wie du an Gott glaubst, so hast du ihn. Glaubst du, dass er gütig und barmherzig ist, so wirst du ihn so haben.“ (Martin Luther)

An Gottes Güte und Barmherzigkeit zu erinnern, bewahrt uns davor, ihn zum Spielball unserer Gefühle zu machen. Sich in der Krise immer wieder einzuschärfen – Gott ist durch Christus barmherzig, hat den Reformator davor bewahrt, an seinen Zweifeln und am eigenen Unvermögen zugrunde zu gehen.

Wir dürfen und wir können es ihm gleichtun.

 Für Luther war die Wiederentdeckung der von Gott geschenkten Freiheit ein entscheidendes Moment auf seinem Lebens- und Glaubensweg. Nicht eigene Verdienste bringen mir Gott nahe, sondern die Erkenntnis, dass er mich in seinen Armen hält, was auch immer geschehen mag. Mag auch alles zusammenfallen im eigenen Leben, aus Gottes Gnade werde ich nicht fallen. Dafür verbürgt er sich in Jesus Christus. Somit erweitert er den Weg seines Gottesvolkes. Der Bund der Thora ist nicht abgelöst, sondern er wird durch Jesus Christus bestätigt. Die Ecclesia ist nicht die Lehrmeisterin der Synagoge, sondern ihre jüngere Schwester.

Das, liebe Gemeinde, sollen und müssen wir all denen vor Augen halten, die antijüdische Tendenzen gut heißen. Wir sind ein Volk und zwar sein Volk als Juden und Christen, unterwegs auf unterschiedlichen Wegen, die das Einende zum Ziel haben. Wann das sein wird und wie das aussieht, bleibt der Weisheit Gottes vorbehalten. Als seine Menschenkinder und als Geschwister im Glauben haben wir aber die Gewissheit, ihn ihm vereint zu werden.

Schade, dass Ende seines Lebens, Luther solche Erkenntnis verwehrt blieb.

 Die Gottesfrage entscheidet sich im Alltag. Nämlich dann, wenn unser Herz gefragt ist als Wohnung für so viele Dinge, die dort Einlass begehren. An wen verschenke ich mein Herz? Wen lasse ich dort wohnen? Prüfen wir ernsthaft diese Frage, liebe Gemeinde. Ich bin mir sicher, „Gott“ wird nicht immer die erste Antwort sein.

Denn Menschen stehen uns nahe. Wir lieben diejenigen, mit denen wir Tage und Nächte teilen. Wir sorgen uns um Kinder, Enkel und Freunde.

Ganz zu schweigen von den Sorgen um Essen, Trinken, um Arbeit, Sinn, um Gesellschaft, Schöpfung oder das, was schlicht Freude macht.

Wäre der Platz im Herzen doch nur unendlich.

Schnell machen wir zum Gott, was nicht Gott sein soll. Wir vertrauen auf eigene Kraft mehr als auf Gottes Führung und Zuwendung. Wir trauen der Entschuldigung durch Geld oder Geschenke mehr zu als der vergebenden Liebe. So liegen wir dem Teufel gefangen, der mit uns nach seinem Belieben spielt. Die Sehnsucht nach Gottesnähe wird durch unser Bestreben nach Gottesferne karikiert.

Wir werden unser menschliches Wesen nicht ablegen können. Deshalb schickte Gott Jesus Christus, damit wir ihn menschlich und zugleich göttlich erfahren können. Und hin und wieder blitzen solche Erfahrungen im Alltag auf. Gelegentlich fühlen wir, wie uns Gott umgibt.

Dann will das Herz den Mund regieren und „Gloria“ rufen oder das Ohr möchte diesen Dank hören.

Martin Luther hat uns einen kleinen Leitfaden mitgegeben. Er ruft gewissermaßen als Alltagsauslegung des Schema Israel uns ins Gedächtnis:

„Ein »Gott« heißt etwas, von dem man alles Gute erhoffen und zu dem man in allen Nöten seine Zuflucht nehmen soll. »Einen Gott haben« heißt also nichts anderes, als ihm von Herzen vertrauen und glauben; wie ich oft gesagt habe, dass allein das Vertrauen und Glauben des Herzens etwas sowohl zu einem Gott als zu einem Abgott macht. Ist der Glaube und das Vertrauen recht, so ist auch dein Gott recht, und umgekehrt, wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zuhauf, Glaube und Gott. Woran du nun, sage ich, dein Herz hängst und [worauf du dich] verlässest, das ist eigentlich dein Gott.“

 Und der Friede Gottes, welcher größer ist als das, was wir verstehen, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus.

Amen.

Pfarrer Martin hundertmark
hundertmark@thomaskirche.org