Predigt über 5. Mose 7,6-12

  • 19.07.2020 , 6. Sonntag nach Trinitatis
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

auf Mallorca ist der sog. „Ballermann“ gesperrt. Die Exzesse auf dieser Kneipenmeile waren vorhersehbar. Party um jeden Preis. So wie’s immer war: Malle einmal im Jahr. Der Mensch will immer zurück zum Gewohnten. Party mit Hygienekonzept? Manche Leute treibt schon das auf die Straße. Sehen sich in ihren Grundrechten beschnitten. Klar, es ist eine Frage, in all dem das rechte Maß zu finden, was mit Corona zu leben bedeutet. Und vielleicht sind wir jetzt mehr oder weniger alle nach einigen Monaten empfindlich und gestresst und reagieren dünnhäutig auf alles, sehen uns und unsere Art zu leben infrage gestellt. Es wirkt so, dass wir im Moment nicht die beste Kondition haben, um darüber zu diskutieren, wie wir in Zukunft leben wollen. Die Sommerferien könnten jetzt als wirkliche, nicht als verordnete Pause dienen, um Kraft zu sammeln für die Diskussionen, die viel intensiver geführt werden müssten: Wie wir uns auf das einstellen, was sich kolossal verändern wird. Wie wir leben wollen mit Corona und den „Nachfolgeviren“, wo wir hinwollen und wovon wir uns verabschieden müssen. All das ist nötig statt nur der Frage hinterher zu hecheln, wann und wie wird es denn wieder wie vorher. Wahrscheinlich wird uns ja nächstes Jahr erst das wirkliche Ausmaß der Folgen vor Augen sein. Leider sind auch wir in der Kirche da nicht besser oder wacher, haben den Ernst der Lage auch noch nicht wirklich begriffen. Versuchen uns davon zu stehlen vor den anstrengenden Fragen des Neuanfangs. Aber wo wir damit nicht selbst auch bei uns anfangen, kann man viel fordern – und letztlich, um sich auf die Diskussion selbst nicht einlassen zu müssen. „Die müssen machen.“ Nein, wir, jede und jeder!

Darauf aber kann sich im Grunde ja nur einlassen, wer in all dem Ungewissen dennoch feste Koordinaten kennt. Etwas, das ihm hilft, auch in der Erschöpfung und Ratlosigkeit die Ruhe zu bewahren bzw. wiederzufinden. Und ihn dazu ermutigt, auch etwas komplett Neues zu wagen. In vielen biblischen Geschichten ist genau das immer wieder das Thema: Krise und Neuanfang des Volkes Gottes. Wie wieder neu anfangen, neu aufstehen nach Katastrophen. Und da geht immer um Grundsätzliches. Es gibt keine Erfolgsrezepte die immer passen und immer klappen. Gerade im Alten Testament, aus dem unser heutiger Predigttext stammt, geht es immer wieder um den einen Punkt: Die Basis für alles ist – Gott hat Dich, Mensch, befreit aus allen gottlosen Bindungen. Er hat Dich aus der Knechtschaft befreit, die Menschen einander auferlegen. Du bist frei – also lebe und verantworte diese Freiheit. Die Befreiung aus Ägyptischen Sklaverei – das ist der Grundton, auf den alles wieder zurückbezogen wird in der Krise. Kann das auch ein Grundton für uns heute sein, auf dem wir neu aufbauen können? Können wir uns aus Freiheit heraus  verändern, weil alles Entscheidende schon von Gott aus an uns schon geschehen ist? Gott hängt verrückterweise an diesem kleinen Volk Israel. An diesem Volk, das kaum befreit, meistens mäkelt und meckert und immer alles zurückhaben will, was mal war – aber was sie noch viel mehr in die Abhängigkeit getrieben hat. Die Fleischtöpfe Ägyptens oder den Ballermann…Hören wir den Text aus dem 5. Buch Mose – aber Achtung. Es ist ein „gefährlicher“ Text, der in manchem sofort das bestätigen zu scheint, was man vom Alten Testament zu wissen glaubte:

Mose sprach zum Volk Israel: Du bist ein heiliges Volk dem HERRN, deinem Gott. Dich hat der HERR, dein Gott, erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind. Nicht hat euch der HERR angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker – denn du bist das kleinste unter allen Völkern – ,sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er euren Vätern geschworen hat. Darum hat er euch herausgeführt mit mächtiger Hand und hat dich erlöst von der Knechtschaft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten. So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, und vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen, und bringt sie um und säumt nicht, zu vergelten ins Angesicht denen, die ihn hassen. So halte nun die Gebote und Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, dass du danach tust. Und wenn ihr diese Rechte hört und sie haltet und danach tut, so wird der HERR, dein Gott, auch halten den Bund und die Barmherzigkeit, wie er deinen Vätern geschworen hat. (5. Mose 7,6-12)

Der erste Teil ein Liebesbrief – der zweite droht mit Vergeltung, die einen umbringt – das ist schwere Kost, es ist sogar typisch „Altes Testament“ – aber anders als wir vielleicht  denken mögen. Denn auch diese Worte bleiben auf den Grundton der Freiheit bezogen, wenn wir denn genau hinschauen, welche dieser Gedanken für heute tatsächlich tragfähig sein können und die  Kirche und  Christenmenschen in diese Welt tragen können, in unsere Beziehungen und Gespräche. Drei davon will ich nennen:

1. Gott ist verbindlich eine Beziehung zu seinem Volk eingegangen. Aber das nicht aufgrund seiner moralischen Integrität. Diese Leute sind nicht besser oder schlechter als andere. Es gibt nur einen Grund. Gott liebt es einfach. Nichts anderes. Er hängt an ihm. Das weist von vornherein jeglichen menschlichen Versuch ab, sich über andere zu stellen. Es geht allein um Gottes Willen, sich verbindlich mit diesem Volk einzulassen durch alle Höhen und Tiefen seiner Geschichte hindurch.

2. Es gibt keine Bedingungen dafür. Die Gebote zu halten, ist keine menschliche Gegenleistung. Das zu tun bzw. zu versuchen - das liegt allenfalls auf der Ebene unserer Antwort.

Und da sind wir beim 3. Punkt: Wie diese geschenkte  Freiheit so gelebt werden kann, dass sie erhalten bleibt. Freiheit bleibt frei, wo sie gebundene Freiheit ist. Wo sie sich selbst bindet an Gott und seine Gebote. Sie ist eben gerade nicht hemmungslos wie am Ballermann oder liegt darin, sich übervolle billigste Fleischtöpfe zu leisten. Sich für einen Moment des Rausches grenzenlos fühlen zu können ist noch nicht Freiheit, noch längst nicht.

Aus diesen drei Dingen, aus der unbedingten Liebe Gottes, aus der Erfahrung der Befreiung von menschlicher Knechtschaft und der Bindung an Gottes Gebote, wird nun auch deutlich, was hier mit „Erwählung“ gemeint ist: Dieses Volk soll unter den Völkern so leben, dass von all dem etwas erkennbar wird. Es soll Gottes Rechte hören, halten und tun, so wird es am Ende zusammengefasst. Mit der Erwählung verknüpft sich eine Aufgabe. Und damit wird schon jeglicher Tendenz zur menschlichen Überhebung über andere der Riegel vorgeschoben, und auch der Durchsetzung seiner Ziele gegenüber anders Denkenden mit Gewalt.

Ausgerechnet der schlimme Satz: „Gott vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen und bringt sie um,“ ist dabei die Begründung. Wir zucken ja zusammen, wenn wir das hören. Aber wenn es heißt, dass Gott vergilt, dann bedeutet das ja erst mal, dass es nicht Sache des Menschen ist. Sämtliche religiös motivierte Rache- und Vergeltungstaten sind demnach Unrecht – also auch ein Strafrecht, das auf dem Vergeltungsgedanken beruht statt auf dem Prinzip der angemessenen Entschädigung. Das genau will aber schon das Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Das ist der wohl am häufigsten missverstandene Satz des ganzen Alten Testaments. Bei dem Prinzip „Auge um Auge“ geht es nicht um gnadenlose Aufrechnung, sondern es geht um Wahrung der Verhältnismäßigkeit: Wenn ein Auge oder ein Zahn beschädigt worden sind, hat man Anspruch auf Entschädigung in entsprechender Höhe, aber nicht auf mehr. Der Teufelskreis von Tat und vergeltender Rache soll mit dem Grundsatz „Auge um Auge“ (und zwar nur Auge um Auge, nicht mehr!) gerade aufgebrochen werden!

Vergeltung liegt also nicht in menschlicher Hand. Liegt sie denn in Gottes Hand? Das legt der Text ja nahe mit diesem üblen Bild vom brutalen Schlag ins Gesicht der Sünder. Aber auch da tut man gut daran, den Text in seinem alttestamentlichen Zusammenhang zu betrachten. Auch dazu zwei Punkte:

1. Hier wird nur der zur Rechenschaft gezogen, der selbst verantwortlich ist – ein Gedanke des modernen Rechts.  Auch  wenn uns die Kategorien von Strafe und Vergeltung abschrecken, sollte man die beiden Grundaussagen wahrnehmen, denen wir als Menschen der Moderne zustimmen können: Menschen sollen keine Vergeltung üben. Und rechenschaftspflichtig ist nur jemand, der eine Tat begangen hat.

2. Noch wichtiger: Man muss hier eigentlich überhaupt nicht von Strafe oder Vergeltung reden. Wo Liebe versagt wird, ist das, was hier geschieht, die Folge. Wo jemand hasst – der Hass geht vom Menschen aus, nicht von Gott – wird jemand schlicht nichts erfahren können von Gottes Zuneigung. Es ist so, ganz wertungsfrei. Es zieht tödliche Strukturen nach sich. Ist es zu viel, den Blick darauf zu wagen, dass Corona am meisten dort wütet, wo am meisten das Recht des Stärkeren gepredigt, wo Freiheit als hemmungsloses Ausleben der eigenen Bedürfnisse verstanden wird und der Schutz des Kleinen und Schwachen nicht mehr vornan steht, weil man sich selbst für das größte und beste Volk hält…

So hat dieser Predigttext mit uns zu tun. Er redet von den Folgen versagter Liebe. Von den Folgen nicht übernommener Verantwortung. Von den Folgen falsch verstandener Freiheit. Für uns und für andere. Er fordert uns heraus, heute darüber nachzudenken, wie wir selbst immer wieder von Neuem aus der Liebe, der Freiheit und der Verantwortung leben können, die wir geschenkt bekommen haben. Das wir sie als Richtschnur für alles nehmen, was wir diskutieren und worum wir auch ringen müssen. Sie geben uns die Freiheit und Sicherheit, die wir dafür brauchen. Darauf wirklich bauen und vertrauen zu können – das schenke uns Gott und lasse es in uns hineinwirken in Momenten der Stille und Erholung, die uns jetzt geschenkt sein mögen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche
taddiken@thomaskirche.org