Predigt über Apostelgeschichte 3,1-10,12

  • 08.09.2019 , 12. Sonntag nach Trinitatis
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus.

Petrus aber und Johannes gingen hinauf in den Tempel um die neunte Stunde, zur Gebetszeit. 2 Und es wurde ein Mann herbeigetragen, der war gelähmt von Mutterleibe an; den setzte man täglich vor das Tor des Tempels, das da heißt das Schöne, damit er um Almosen bettelte bei denen, die in den Tempel gingen. 3 Als er nun Petrus und Johannes sah, wie sie in den Tempel hineingehen wollten, bat er um ein Almosen. 4 Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an! 5 Und er sah sie an und wartete darauf, dass er etwas von ihnen empfinge. 6 Petrus aber sprach: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher! 7 Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich wurden seine Füße und Knöchel fest, 8 er sprang auf, konnte stehen und gehen und ging mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott. 9 Und es sah ihn alles Volk umhergehen und Gott loben. 10 Sie erkannten ihn auch, dass er es war, der vor dem Schönen Tor des Tempels gesessen und um Almosen gebettelt hatte; und Verwunderung und Entsetzen erfüllte sie über das, was ihm widerfahren war.

Liebe Gemeinde,

drei Wundergeschichten in einem Gottesdienst – muss das wirklich sein? Hätte eine nicht gereicht – oder wäre eigentlich schon zu viel für einige? Vor allem vielleicht für die, die verzweifelt auf ein Wunder für sich selbst hoffen oder für einen Menschen, den sie lieben. Die sich genau das vielleicht sehnsüchtig wünschen – oder darum ringen, dass sie leben können mit dem, was offensichtlich aussichtslos ist. Dass man zumindest dafür Kraft bekommt von Gott. O ja, für die mag das heute erst mal schwierig sein. Aber auch für diejenigen unter uns, für die diese Geschichten ein rationales Ärgernis sind. Die vielleicht sagen: Was für eine Zumutung. Soll ich das, muss ich das gar allen Ernstes glauben als Christ – das kann ich nicht, das will ich nicht. Vielleicht geht es noch auf der symbolischen Ebene: Dass der Lahme für das steht, was wir je auf unsere Weise nachfühlen können: Wie es ist, abhängig zu sein von anderen. Dass ich mich außen vorfühle, dass ich das Gefühl habe, ich komme nicht auf die Beine. Mir wackeln in dieser Welt schlicht die Knie, das Leben geht sprichwörtlich an mir vorbei und ich verbringe zu viel  Zeit damit, wenigstens irgendwas abzukriegen vom großen Kuchen dieser Welt, ein paar Brocken. Vielleicht finden wir uns da tatsächlich am ehesten wieder. Geht es bei den Heilungsgeschichten der Bibel nicht letztlich darum? Heißt „Heilung“ befreit zu werden von all diesen Kräften, die mich binden und mich hindern zu leben, wie es sein könnte? Oder geht es doch darum wörtlich bzw. sprachlich ernst zu nehmen, dass es um wirkliche körperliche Heilung geht? Oder geht es um beides oder noch anderes? Was sagen mir diese Geschichten für mein Leben?

Wenn man diese drei Heilungsgeschichten am Stück betrachtet, kann sich einem – denke ich -  etwas erschließen. Auffällig ist zunächst: Einmal heilt Jesus selbst, einmal wird der Apostel Paulus geheilt durch die Begegnung mit dem Auferstandenen – und in der dritten heilt ein Apostel selbst, Petrus.

Fangen wir bei Jesus an. Wir wissen: Jesus hat nicht alle Menschen geheilt, längst nicht. Manchmal hat er sich sogar von ihnen zurückgezogen. Vielleicht durchaus auch weil es ihm alles zu viel wurde. Weil er erschöpft war, nicht mehr konnte. Aber vor allem wohl, damit trotz aller Enttäuschung bei allen Betroffenen klar bleibt: Er ist kein Wundermann, kein göttlicher Medizinmann. Wenn er heilt, dann sind seine Heilungen immer Zeichen für das Reich Gottes. Sie zeigen auf wundersame Weise etwas von Gottes schöpferischer Lebenskraft. Von seiner Dynamik in Zeit und Raum. Zeigen etwas vom Anbruch der Ewigkeit in der Zeit. Was immer jeweils passiert sein mag, wenn Jesus  Lahme, Kranke, Taube, Blinde geheilt hat – es ein Zeichen, dass Gottes lebensschaffende Kraft in dieser Welt ist, in der so viel dagegenzusprechen scheint. Hier, wo sich die Gesetze des Todes immer wieder in den Vordergrund schieben: Alle Gesetzmäßigkeiten, die uns festlegen wollen auf „Das wird immer so bleiben“, „Da kann man nichts machen, ich allein schon gar nicht“. Usw. Das macht uns nicht nur blind und taub, sondern vor allem lahm: Weil wir die Kraft da gegenan zu hoffen und zu glauben nicht mehr aufbringen können oder wollen. Weil wir uns freiwillig in eingeschränkten Bahnen bewegen und gar nicht merken, wie der Frust immer größer wird, den wir da durch unser Leben schleppen. Aus diesem Zustand hat Jesus immer wieder zeichenhaft Menschen herausgerissen,  hat sie angeschaut, angefasst, berührt, auf die Beine gestellt, hat ihnen geholfen, sich selbst aufzurichten aus all diesen Todesmächten wie immer sie heißen. Er konnte es tun, weil er sich ihnen am Ende ausgeliefert hat, um sie zu überwinden. Von Nichts und Niemandem, auch nicht vom Tod, ist diese lebensspendende Kraft Gottes zu stoppen. Sie setzt sich am Ende immer durch.

Die zweite Heilungsgeschichte setzt hier den Schwerpunkt: Paulus wird von dieser Kraft erfasst, erfährt sie leibhaftig und die Geschichte setzt das bildlich so um, dass er angesprochen wird vom Auferstandenen. Um zu verstehen, was da passiert, muss er erst einmal vom Pferd fallen. Durchaus schmerzhaft. Vom hohen Ross - wie es im Leben eben manchmal so ist und wie wir es selbst vielleicht ja auch kennen. Aus dem, der schwer gepanzert schnaubt, wütet und stürzt wird derjenige, der mit schmächtiger, kränklicher Gestalt davon kündet, dass Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist. Drei Tage ist er wie tot, dann wird die Kraft dessen in ihm  mächtig, der drei Tage selbst in der Finsternis des Todes war. Und dann beginnt auch bei ihm Neues - ganz Neues. An ihm, dem Saulus-Paulus wird für alle deutlich – und eigentlich viel deutlicher als für die, die seinerzeit Zeugen der Wunderzeichen Jesu waren: in seinem, in Paulus Leben ist die Kraft der Auferweckung Jesu gegenwärtig. Sie treibt ihn jetzt an, sie hilft ihm, sie schenkt ihm Kraft auch in den brenzligsten Situationen. Aus dieser Haltung kann er trösten, auch aus dem Gefängnis heraus. Die Angst vor dem Tod ist weg. Die Todes-Angst, die nur die eine Form zu leben und zu glauben zulassen will. Die die Vielfalt scheut, die das Andere nicht respektieren kann. Paulus hat sie nahezu alle durchgemacht, all diese Formen der Todesangst, die sich letztlich äußert in der Angst vor dem Leben. Sie ist Paulus genommen – und dieses Wunder predigt er fortan.

Und nun diese dritte Heilung da im Jerusalemer Tempelbezirk, auch schon in der nächsten Generation sozusagen, ganz zu Beginn der Geschichte der christlichen Kirche. Wo es Petrus ist, der frühere Fischer vom See Genezareth, der im Namen dieser schöpferischen Kraft Gottes aktiv ist. Die Kraft des Auferstandenen wirkt also in der christlichen Gemeinde weiter. Das ist erst einmal das große Ausrufezeichen hinter dieser Geschichte als Ganzes bevor man in Details geht. Und die sind wichtig, denn erst in dieser dritten Heilungsgeschichte wird wirklich deutlich, worum es in diesen Heilungsgeschichten der Bibel geht. Wo der Lahme aufgerichtet wird, wo er aufsteht, wird nämlich ausdrücklich das gleiche griechische Wort verwendet wie dort, wo man versucht, die Auferweckung Jesu sprachlich zu umschreiben: egeirein „auferwecken“. Es geht eben nicht bzw. nicht nur darum, wieder gehen zu können. Sondern darum, in den Einflussbereich dieser Kraft zu kommen bzw. davon erfüllt zu werden. Gesund zu werden ist das eine. Hier geht es aber darum, geheilt zu werden. Befreit zu werden von dem eisernen Griff der tödlichen Mächte, die uns daran hindern wollen, frei und aufrecht zu leben. Von all dem, womit wir festlegen, wer draußen vor dem Tor zu sitzen hat und wer hinein darf. Von allem, wo wir Menschen einteilen nach „gehören dazu“ und „gehören nicht dazu“. Nach brauchbar oder unbrauchbar. So wie dieser Lahme von den anderen gesehen wird – aber nicht angesprochen. Petrus (und Johannes) sehen ihn anders und sprechen ihn an: „Sieh uns an!“ Jemand hebt wieder den Blick – der erste Schritt. Wir wissen heute, wie wichtig das ist, dass Babys vor allem durch Blickkontakt eine stabile und hinreichend offene seelische Binnenarchitektur entwickeln können, dass es alles damit anfängt, wie in dieser Geschichte.

Petrus und Johannes vermitteln ihm diesen Blick. Aber der, der dahinter steht, ist ein anderer: „Jesus Christus von Nazareth.“ Seinen Namen und seinen Titel rufen sie über ihm aus. „Jesus Christus von Nazaret“. Nur hier heißt er so im Neuen Testament. Sonst nur „Jesus Christus“ oder „Jesus von Nazareth“. Ist das wichtig, diese Kleinigkeit? Ja, Gott und Mensch haben in diesem Jesus zusammengefunden und werden weiter zusammenfinden. Und jetzt und hier  – in diesem Lahmen – geschieht es auch. Wie man sich das vorstellen kann, mag man sich verdeutlichen, wenn man sich den hebräischen Namen Jesu vor Ohren führt: „Jeschua“. Er umfasst alle Vokale: i-e-o-u-a. Bedachtsam laut ausgesprochen, erfüllt dieser Name die inneren Klangräume eines Menschen so umfassend, dass er buchstäblich von diesem Namen erfüllt wird. Im sog. „Herzensgebet“ der Kirchen des Ostens wird daher der Name Jesu meditiert mit den Worten: „Herr Jesus Christus erbarme dich meiner“ oder einfach nur „Jesus“. Damit will man nichts beschwören, sondern darum bitten, offen zu sein für seine Kraft.

Und nun, erst als klar ist, wer hier wirkt, kann auch der dritte Schritt kommen. Petrus berührt diesen Menschen. Dass da Kräfte fließen können, beim Segen oder wenn uns einfach nur jemand die Hand auf die Schulter legt, das wissen wir. Sie kann gut tun noch lange nachwirken über den Moment der Berührung hinaus. So werden dem Lahmen die Knöchel fest. Er findet Stand, er findet Halt. Und vor allem weiß er ganz offensichtlich, was da in ihm lebt - nämlich dieselbe Kraft, mit der Gott Jesus aus dem Tod gerufen hat. Denn das erste, was er tut, ist dies: Er antwortet darauf. Mit seinem Lobgesang.

Wenn das jemand sagen und begreifen kann, liebe Gemeinde, dass das in seinem Leben so ist und er sprachfähig wird, fähig zum Lobe Gottes, wenn er reagieren kann  – trotz und aller Beschwerden: Das kann man nur als ein Wunder bezeichnen.

Ein paar Verse nach unserer Geschichte sagt Petrus denen, die sich da entsetzen und verwundern: Das hat der Glaube bewirkt. Aber wessen Glaube? Der des Mannes? Davon wird nichts gesagt. Der des Petrus? Der der ganzen Gemeinde? Es bleibt hier offen. Es verschwimmt… und das ist jetzt positiv gemeint. Der eigene Glaube und der stellvertretende eines Menschen für einen anderen  werden eins. So wie in der Apostelgeschichte vorher erzählt, dass allen fortan alle Güter der Gemeinde gehörten, zeigt sich hier die Parallele in Sachen Glauben. „Mein Glaube“ und „Dein Glaube“, das fließt ineinander über. Auch das gehört zur Wirkungsgeschichte der schöpferischen Lebensdynamik Gottes, wie sie uns im Namen Jesu begegnet. Da greift ineinander, was an uns geschieht und was durch uns geschieht. Mal bin ich jemand, der getragen werden muss wie der Lahme am Anfang. Im nächsten Augenblick bin ich jemand, der eigene Schritte tut. Und im nächsten kann ich sogar andere tragen oder aufrichten. In Gottes schöpferischer Kraft ist beides ohnehin umgriffen, ja eins: Was uns trägt, macht das stark, was wir tragen können. Und was wir tragen, stärkt, was uns trägt.

Dass wir das verstehen können, darum können wir immer nur bitten. Wir verfügen nicht darüber. Es ist immer schon ein Wunder für sich, wenn Menschen davon ergriffen werden. Aber es ist ein Wunder, das eben doch Gottseidank häufiger vorkommt. Was in diesen drei Wundergeschichten zur Sprache kommt, es setzt sich also fort auch unter uns. Wie auch immer – dass Menschen wieder Anschluss an ihr Leben bekommen. Dass Menschen leben und sterben lernen mit ihrer Krankheit ohne dass ihre Verzweiflung sie ganz und gar in den Griff bekommt. Oder auch – und dass brauchen wir im Moment besonders - dass diese Lebenskraft Gottes uns wiederständig macht gegen all die Kräfte des Hasses und der Menschenverachtung, die sich uns im Gewande der Kümmerer anbiedern aber in Wahrheit nichts, aber auch gar nichts anzubieten haben. Nicht einmal Gold und Silber. So mögen diese wunderbaren, diese Wunder-Geschichten Gottes mit uns weitergehen, wie unterschiedlich sie auch immer sein mögen als vierte, fünfte, sechste oder wievielte Geschichte auch immer an diesem Sonntag und darüber hinaus.

Und so sei der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft mit uns, er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen. 

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org