Predigt über Daniel 7,1-14

  • 26.05.2022 , Christi Himmelfahrt
  • Pfarrer. i.R. Christian Wolff

Predigt über Daniel 7,1-14

Christi Himmelfahrt

Thomaskirche Leipzig, 26. Mai 2022

 

 

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

 

Vor drei Wochen suchte ich ein Konfirmationsgeschenk für einen 14jährigen Jungen. Ich dachte an eine jugendgerechte Biographie eines der Menschen, in deren Leben der christliche Glaube eine besondere Bedeutung hatte: Martin Luther King, Sophie Scholl oder Dietrich Bonhoeffer. So ging ich zum Hugendubel und schaute mich bei den Jugendbüchern um. Fehlanzeige. Kein Buch in dieser Richtung. Allerdings fiel mir auf: Die Regale waren übervoll mit Fantasy- und Manga-Büchern. Auf den Titeln Zombiefiguren in geisterhaften Phantasiewelten und bluttriefende, zerfließende Schriftzüge. Alles ziemlich furchterregend. Aber auch in den Regalen der Bücher für Erwachsene: gefühlt 80 Prozent Fantasy- und Science-Fiction-Romane, mit Cover-Gestaltungen, deren fratzenhaften Figuren ich in Alpträumen nicht begegnen möchte. Was verbirgt sich dahinter? Ist unsere Welt so unerträglich geworden, dass sich ganz viele Menschen in Fantasiewelten hineinlesen, hineinflüchten wollen? Oder können wir nur noch über den Umweg von Fantasy, Manga und Science Fiction Zugänge zur oft unerträglichen Wirklichkeit finden, um gleichzeitig aus ihr auszubrechen?

 

Aber was geschieht da mit den Ängsten, der Furcht vor der Übermacht des Außerirdischen, der Panik vor dem Untergang? Was geschieht mit der Sehnsucht nach Befreiung, nach Schutz und Vertrauen, nach Heilung? Kann sich das alles über einen Ausflug in bizarre Fantasy-Welten in Wohlgefallen auflösen? Wie also finden wir wieder einen Zugang zu einer lebenswerten Wirklichkeit und zu den vorbildhaften Figuren, an denen wir unser Leben ausrichten können?

 

Auch in der Bibel tun sich apokalyptische Welten auf mit martialischen Schreckensvisionen und wüsten Alpträumen – nicht nur im letzten Buch der Bibel, der Offenbarung des Johannes. Wir finden solche Fantasy-Vorstellungen auch im ersten Teil der Bibel, zum Beispiel im Buch Daniel. Daraus ist der Predigttext für den Festtag Christi Himmelfahrt entnommen.

 

1 Im ersten Jahr Belsazars, des Königs von Babel, hatte Daniel einen Traum und Gesichte auf seinem Bett; und er schrieb den Traum auf: 2 Ich, Daniel, sah ein Gesicht in der Nacht, und siehe, die vier Winde unter dem Himmel wühlten das große Meer auf. 3 Und vier große Tiere stiegen herauf aus dem Meer, ein jedes anders als das andere. 4 Das erste war wie ein Löwe und hatte Flügel wie ein Adler. Ich sah, wie ihm die Flügel ausgerissen wurden. Und es wurde von der Erde aufgehoben und auf die Füße gestellt wie ein Mensch, und es wurde ihm ein menschliches Herz gegeben. 5 Und siehe, ein anderes Tier, das zweite, war gleich einem Bären und war auf der einen Seite aufgerichtet und hatte in seinem Maul zwischen seinen Zähnen drei Rippen. Und man sprach zu ihm: Steh auf und friss viel Fleisch! 6 Danach sah ich, und siehe, ein anderes Tier, gleich einem Panther, das hatte vier Flügel wie ein Vogel auf seinem Rücken und das Tier hatte vier Köpfe, und ihm wurde Herrschergewalt gegeben. 7 Danach sah ich in diesem Gesicht in der Nacht, und siehe, ein viertes Tier war furchtbar und schrecklich und sehr stark und hatte große eiserne Zähne, fraß um sich und zermalmte, und was übrigblieb, zertrat es mit seinen Füßen. Es war auch ganz anders als die vorigen Tiere und hatte zehn Hörner. 8 Als ich aber auf die Hörner achtgab, siehe, da brach ein anderes kleines Horn zwischen ihnen hervor, vor dem drei der vorigen Hörner ausgerissen wurden. Und siehe, das Horn hatte Augen wie Menschenaugen und ein Maul; das redete große Dinge. 9 Da sah ich: Throne wurden aufgestellt, und einer, der uralt war, setzte sich. Sein Kleid war weiß wie Schnee und das Haar auf seinem Haupt wie reine Wolle; Feuerflammen waren sein Thron und dessen Räder loderndes Feuer. 10 Da ergoss sich ein langer feuriger Strom und brach vor ihm her-vor. Tausendmal Tausende dienten ihm, und zehntausendmal Zehntausende standen vor ihm. Das Gericht wurde gehalten und die Bücher wurden aufgetan. 11 Ich sah auf um der großen Reden willen, die das Horn redete, und ich sah, wie das Tier getötet wurde und sein Leib umkam und in die Feuerflammen geworfen wurde. 12 Und mit der Macht der andern Tiere war es auch aus; denn es war ihnen Zeit und Stunde bestimmt, wie lang ein jedes leben sollte. 13 Ich sah in diesem Gesicht in der Nacht, und siehe, es kam einer mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn und gelangte zu dem, der uralt war, und wurde vor ihn gebracht. 14 Ihm wurde gegeben Macht, Ehre und Reich, dass ihm alle Völker und Leute aus so vielen verschiedenen Sprachen dienen sollten. Seine Macht ist ewig und vergeht nicht, und sein Reich hat kein Ende.

 

Wow! Das ist ein Text! Ob uns diese Perspektive hilft, unseren Glauben zu stärken und gleichzeitig die Wirklichkeit im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zu durchdringen? Ob wir mit einem solchen Text dem in der säkularen Welt kaum noch zu vermittelnden Geschehen der Himmelfahrt Christi näherkommen, der Entmachtung aller Mächte? Haben wir noch ein Sensorium dafür, die vier aus einem aufgewühlten Meer auftauchenden Bestien, die alles zertrampeln und zerstören, den adlergeflügelten Löwen und Panther, den alles zerfleischenden Bären und das namenlose, alles zermalmende Wesen mit seinen eisernen Zähnen und zehn Hörnern, zu deuten?

 

Jeder, der derzeit versucht, seine Gefühlslage in Worte zu fassen, hat damit Schwierigkeiten. Denn: Es fehlen einem die Worte für das ungeheure Verbrechen des Krieges. Seit dem 24. Februar wache ich früh morgens auf und frage mich: Kann ich das, wovon ich gestern noch überzeugt war, heute noch wiederholen? Was sage ich bei der nächsten Kundgebung auf dem Nikolaikirchhof oder vor dem Russischen Konsulat? Was sage ich am Krankenbett eines Krebspatienten? Verfügen wir über eine Sprache, all das zum Ausdruck zu bringen, was uns derzeit umtreibt? Oder sind nicht solch krasse Fantasy-Bilder wie im Predigttext viel mehr geeignet, unsere Ängste, unsere Fassungslosigkeit, unsere Wut, unsere Sorge vor den apokalyptischen Reitern des 21. Jahrhunderts, vor Virus-Pandemien, Klimawandel, Krieg, vor tödlicher Krankheit und vor den schon eingetretenen sozialen Verwerfungen, aber auch vor den bis an die Zähne bewaffneten Weltmächten Russland, China, die Vereinigten Staaten, Europa zu beschreiben?

 

Wir merken: Wir können mit solchen biblischen Texten nicht anders umgehen, als sie auf unsere heutige Wirklichkeit hin zu deuten – sind sie doch entstanden in Zeiten massiver politischer Umbrüche und Bedrückung wie im 2. vorchristlichen Jahrhundert. Da sahen sich die Israeliten dem rücksichtslosen Machtstreben des Antiochus IV. ausgeliefert, fühlten sich unter der hellenistischen Fremdherrschaft in einen Religions- und Kulturkampf hineingezogen und starteten einen Befreiungskampf. Mit den Gesichten Daniels sollte der Widerstandsgeist der Unterdrückten geweckt und gestärkt werden. Auch wenn Menschen dem Wüten der monsterhaften Bestien hilflos ausgeliefert zu sein scheinen, auch wenn es uns nicht schwerfällt, die wild wütenden Tiere mit menschlichen Zügen mit den Putins, Bolsonaros oder Erdogans dieser Welt zu identifizieren – Daniel erscheint in seinem Traum eine noch größere Macht: Die sitzt dort, wo die Bestien kein Unheil anrichten können, wo ihnen die Hörner gebrochen und die Zähne ausgeschlagen werden, wo ihre Macht in Asche zerfällt - im Himmel. Dort erscheint eine Figur, dem Menschen gleich, die in den Himmel aufgenommen wird, deren Existenz mit Recht und Würde gesegnet ist und die all das verkörpert, was das Leben sinnvoll, erstrebenswert, wertvoll macht.

 

Offensichtlich ist es die eine Bemerkung:

es kam einer mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn und gelangte zu dem, der uralt war,

die dazu geführt hat, dass wir diese Bibelstelle am Festtag Christi Himmelfahrt bedenken – in einer Zeit, in der überhaupt nicht klar ist, wie wir nicht nur als Christen die gigantischen politischen, gesellschaftlichen Herausforderungen bestehen wollen: ob der Ukrainekrieg nicht doch noch zu einem alles vernichtenden Weltkrieg eskaliert; ob der einzelne Mensch überhaupt noch eine Chance hat, sich gegen die ungeheuren Machtansprüche der Bestien zu behaupten; ob Digitalisierung und Künstliche Intelligenz nicht dazu dienen, einen großen Teil der Menschen als überflüssig auszusortieren; ob es noch Sinn macht, sich an Werten zu orientieren, die wir dem verdanken, dessen Himmelfahrt wir heute feiern: Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit, Nächsten- und Feindesliebe, Ehrfurcht vor dem Leben, Frieden. Die Diskussionen zeigen doch, dass derzeit die Macht der bis an die Zähne bewaffneten Monster die Debatte bestimmen und nicht das Auftreten des Menschensohns. Die Wirklichkeit weist auf, dass die heutigen Weltreiche gar nicht so weit entfernt sind vom bestialischen Agieren der Tiere in Daniels Traum – wenn wir an die Greueltaten von Butscha denken oder an die chinesischen Konzentrationslager in Xinjiang, in denen muslimische Uiguren umerzogen werden sollen.

 

Nun macht Daniel den verzweifelten, verunsicherten Menschen seiner Zeit eine einfache Rechnung auf. Bedenkt: Wer Gott vertraut, der kann getrost davon ausgehen, dass die Macht der Monster-Bestien eines nicht allzu fernen Tages verglühen, in sich zusammenfallen wird. Übrig bleibt der Menschensohn – nicht als Phoenix aus der Asche, sondern als der, der sein friedvolles, von vielen als naiv, ja als lächerlich verspottetes Wirken auf Erden im Himmel gerechtfertigt sieht. Genau das ist die Botschaft, die uns an Himmelfahrt gleichermaßen geschenkt und zugemutet wird: die Macht der Zombies, Monster, Bestien, die Macht der Despoten und Autokraten, die Macht der uns fremd bestimmenden Medien und digitalen Netzwerke ist begrenzt. Ihre Tage sind gezählt! Darum soll sich ihnen niemand vorschnell ausliefern oder unterwerfen. Es bleibt uns der, den die fratzenhaften Figuren am meisten fürchten: der Mensch, Jesus Christus, seine Liebe, sein Frieden, sein Licht, seine Wahrheit. Schon zu seinen Lebzeiten eine ungeheure Provokation, aber selbst am Kreuz nicht tot zu kriegen.

 

Es ist gut, dass wir an diesem Himmelfahrtstag einen solchen Text bedenken. Denn er will uns darin bestärken: Lasst euch weder blenden noch ängstigen von den Spektakeln der Monster, von ihren mörderischen Strohfeuern, von der Faszination, die von ihren Hörnern ausgehen, dem Nationalismus, dem Autokratismus, der Bereicherungssucht. Lasst euch nicht benebeln von all den Fakenews, mit denen uns der Durchblick verwehrt werden soll. Setzt auf den und vertraut dem, der uns zur eigentlichen Bestimmung zurückführt und der über allem thront: der Menschensohn. Dieser hat für uns Christen in Jesus von Nazareth ein Gesicht, eine klare Kontur, einen Inhalt bekommen. Seine Verortung im Himmel bedeutet nicht, dass er allem Irdischen entrückt, für uns unerreichbar geworden ist. Nein, alles, wofür sein Name steht, bleibt abrufbar. Darin besteht jetzt unsere Aufgabe: die Botschaft Jesu abrufen, damit wir uns weiter auf sie berufen und ihr folgen können – jetzt da durch die Himmelfahrt Jesu unsere irdische Wirklichkeit mit dem Himmel verbunden und gleichzeitig alles, wofür der Menschensohn steht, unzerstörbar geworden ist. Die Bestien können ihm, können uns nichts mehr anhaben.

 

Darum finden wir in dieser Verbindung die Kraftquelle des Glaubens. Darum feiern wir Gottesdienst. Darum gibt es Kirche. Wir rufen mit allem Singen und Beten, mit Musik und Predigt das ab, was im Himmel aufgehoben ist – in Krisen- und Kriegszeiten umso dringlicher und lauter. Lasst uns diese Botschaft nicht brachliegen. Lasst uns sie nicht nur verschlüsselt weitergeben. Zehren wir von ihrer provokanten, aufrichtenden, heilenden Kraft. Der große Theologe Karl Barth hat am Abend vor seinem Tod am 10. Dezember 1968 in einem letzten Telefongespräch mit seinem Freund Eduard Thurneysen Sätze gesagt, die möchte man in Stein meißeln:

Ja, die Welt ist dunkel. Nur ja nicht die Ohren hängen lassen! Nie! Denn es wird regiert, nicht nur in Moskau oder in Washington oder in Peking, aber ganz von oben, vom Himmel her. Gott sitzt im Regimente. Darum fürchte ich mich nicht. Bleiben wir doch zuversichtlich auch in dunkelsten Augenblicken! Lassen wir die Hoffnung nicht sinken, die Hoffnung für alle Menschen, für die ganze Völkerwelt! Gott lässt uns nicht fallen, keinen einzigen von uns …! Es wird regiert!

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 

Christian Wolff, Pfarrer i.R.

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