Predigt über Ezechiel 13,10a

Diese Predigt wurde im Gottesdienst zum Gedenken an die Pogromnacht vom 9. November 1938 gehalten.

  • 09.11.2022
  • Pfarrer Dr. Timotheus Arndt

2022-11-09.19.00 Thomaskirche zu Leipzig: Zum Gedenken an die Novemberpogrome 1938

Predigt zu Ez 13,10a
„Weil sie mein Volk verführen und sagen: »Friede!«, wo doch kein Friede ist.“

Das angezeigte Problem bestand wohl immer wieder. Wir lesen nicht nur beim Profeten Ezechiel davon sondern auch zwei- dreimal bei Jeremia: „Sie heilen den Schaden Meines Volkes leichthin mit den Worten: Frieden, Frieden! – und ist kein Frieden!“[1]

Freunde, die gerade Deutsch lernen, lernen offenbar in dem Kurs, daß man zur Begrüßung fragt: „Alles in Ordnung?“ Und ich sage dann gelegentlich: „Bei mir schon, aber in der weiten Welt ist das meiste nicht in Ordnung.“

Das ist ungefähr, was das Wort „Schalom“ bedeutet. Man begrüßt sich mit „Schalom“, so wie es Küf Kaufmann in seinem Grußwort ausgesprochen hat. Das kann so klingen: „Schalom? – Geht es dir gut?“ und die Antwort ist hoffentlich: „Schalom! – Es geht mir gut!“ Sie merken: Ob wir das als Frage stellen oder als Überzeugung äußern, ob wir das nur für unseren kleinen Bereich bestätigen können oder das leichthin und generell behaupten, das macht Unterschiede.

Ich möchte noch einen anderen Ausdruck einbringen und das Problem an diesem weiter verfolgen. Im Zusammenhang mit dem heutigen und ähnlichen Gedenken hören wir: „Nie wieder!“

Die Schoa, dieses schreckliche Verbrechen ist einmalig. Es scheut jeden Vergleich aus zwei Gründen:

  1. Eines jeden Menschen Leiden ist sein eigenes und darf ihm nicht weggenommen werden.
  2. Das monströse Unterfangen, ein ganzes Volk planmäßig mit industrieller Fertigkeit zu vernichten, sprengt alles erdenkliche Maß.

Die Gründe sind also einmal individuell. Wir sehen jeden einzelnen Menschen an. Und sie betreffen andererseits das große Ganze. Aber diese Einmaligkeit ist nur ein Blick auf das Geschehene. Leider ist ja auch die Folgerung richtig: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen“[2]. Und wir sollten vielleicht persönlicher formulieren, direkter: Menschen haben es getan, Menschen können es wieder tun.

Vergleichen hat ja auch noch eine andere Seite: Die Unterscheidung. Wir können tatsächlich die sprichwörtlichen Äpfel mit Birnen vergleichen. Wir werden dabei die Unterschiede feststellen, aber auch, daß beides Obst ist.

So nähern wir uns von zwei Seiten der unvergleichlich monströsen Tat, der Vernichtung von Menschen aus unserer Mitte, der Vernichtung des jüdischen Volkes, wie es unter uns lebte:

  1. Wir sehen das je eigene Leid von Menschen. Solche Gedenktage sind Gelegenheiten, ein Einzelgeschick, eines einzelnen Menschen Leid, und manchmal auch eine einzelne Rettung kennen zu lernen. Und damit werden wir nie fertig werden. Wir sehen die Unterschiede, die vielfältigen Leben.
  2. Wir sehen einzelne Taten, einzelne Verbrechen, wie sie auch anderswo und immer wieder getan werden. Das Monströse bleibt uns unfaßbar. Wir können uns ihm nur stückenweise aussetzen. Mehr verkraften wir nicht. Und das sollte uns bewußt sein: Schon Stücke davon sind uns oft zu schwer. Denn wir wollen das „nie wieder“.

Wir haben gelernt: Die Judenfeindschaft, der Antisemitismus scheint unausrottbar. Wer also sagt: Den gibt es noch, täuscht sich womöglich. Aber das heißt nicht, daß wir uns daran gewöhnen dürfen. Gegen ein „nie wieder“ müssen wir gestehen: Er war nicht (ganz) weg. Es gab keine Stunde Null in den Köpfen. Das Brecht-Zitat „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“[3], ist da fast zu banal, fast zu zuversichtlich mit diesem „noch“. Nein, leider schwelt oder brennt das verderbliche Feuer immer fort und flammt immer wieder auf. – Wir begreifen:
„Nie wieder“ kann keine Feststellung sein.
„Nie wieder“ kann keine Zusage, kein Versprechen sein.
Wer dies Versprechen wagt, fällt unter das profetische Verdikt: „Sie sagen: Frieden! – Und ist kein Frieden.“
„Nie wieder“ ist keine Gewißheit.
„Nie wieder“ kann nur ein Anliegen sein, der Wunsch, wir mögen es verhindern, so gut wir eben können.
„Nie wieder“ kann, soll und muß unser Bestreben sein.

Wir hoffen, wir haben gelernt. Wir wissen: „gelernt“ heißt „eingeübt“. Da gilt einerseits: „Gelernt ist gelernt.“ Das vergißt man nicht so leicht. Andererseits ist Routine gefährlich, weil sie die Aufmerksamkeit trüben kann.

Wir brauchen als Menschen Erfolgserlebnisse. Und Sysiphos ist dafür zu loben, daß er es schon für einen Erfolg ansieht, den Stein in Bewegung zu halten, in Bewegung nach oben, auch wenn der ihm immer wieder entgleitet. An dieser Stelle, in dieser Konfrontation wird es keinen Frieden geben, nur Teilerfolge, so meine nüchterne Ansicht.

Wir haben gelernt, meinen wir. Schauen wir uns an, was könnten wir gelernt haben? Das gehen schon Wege auseinander:

  1. Wir wollen nie wieder auf der Seite der Verbrecher sein. Also verabscheuen wir Krieg.
  2. Die Gequälten wollen nie wieder wehrlos sein. Also ist Verteidigung notwendig.

Diesen Gegensatz haben wir in Deutschland und in unserer Kirche noch viel zu wenig durchdacht. Deswegen sind wir gegenwärtig, bei dem aktuellen Krieg, der uns bedrängt, so verunsichert. – Vielleicht wissen Sie, daß Mahatma Gandhi Unterwerfung unter die Nazis ernsthaft als heroischen Akt der Gewaltlosigkeit vorgeschlagen hatte.[4]

Wir haben gelernt. Was haben wir gelernt? Lauschen wir der Saite, die ich vorhin angeschlagen habe, davon, daß wir uns nur stückweise vorwärts bewegen können. Dazu habe ich fünf Punkte zusammengestellt:

  1. Hinsehen.
  2. Handeln.
  3. Nachdenken, auch über Befehle, ehe wir sie ausführen.
  4. Auch Gesetze sind in Frage zu stellen.
  5. Parteilichkeit ist in bestimmten Bereichen unausweichlich. (Das Wort ist freilich etwas problematisch wegen seiner Vergangenheit – für mich wegen der Forderung nach Parteilichkeit für die Arbeiterklasse beim seinerzeitigen Aufbau des Sozialismus.)

Ich will die fünf Punkte mit knappen Beispielen versehen:

  1. Hinsehen. Weil ich noch 30 Jahre nach der Schoa Menschen sagen hörte: Wir haben nichts gewußt. Wir haben nichts gesehen. Wir haben nichts bemerkt. Darum sollten wir immer wieder lernen hinzusehen.
  2. Handeln. Weil irgendwann der Widerstand machtlos war – was nicht gleich heißt zwecklos. Darum heißt es, im Handeln schon den Anfängen wehren. Aber wie erkennen wir die Anfänge?[5]
  3. Denken, Nachdenken auch vor dem Ausführen von Befehlen. Weil Menschen sich auf Befehle beriefen und damit ihr Gewissen beruhigten und Unmenschliches taten.
  4. Gesetze in Frage stellen. Das möchte ich an einer Frage des Bibellesens verdeutlichen: Manche meinen ja, daß Lügen in der Bibel verboten sei. Ein allgemeines biblische Lügen-Verbot habe ich nicht gefunden. Es gibt dort das Verbot, zum Schaden eines anderen Menschen zu lügen.[6]

Vielleicht kennen sie die Episode von dem Untermieter, den die Gestapo suchte. Die gewissenhafte Vermieterin war nun in Schwierigkeiten. Wie rettet sie ihn vor der Gestapo, ohne zu lügen? Der Ausweg soll gewesen sein, daß er sich in ihre Küche begab und sie sagen konnte: „Er ist nicht in seinem Zimmer.“[7]

Das sind schon schwierige Momente, wenn wir nicht genau in der Bibel lesen. Die Lüge zum Schaden eines anderen Menschen ist verboten.

  1. Parteilichkeit. Momente, in denen es keine Neutralität gibt.
    Ich will ein Beispiel geben:
    In der Jüdischen Allgemeine der letzten Woche war von einer Italienerin zu lesen, einer Überlebenden der Schoa:[8]

Dann kamen der Krieg und der Versuch, sich in die Schweiz zu retten: … Doch der Versuch misslang; ein Schweizer Offizier nahm sie am 8. Dezember 1943 in Selvetta di Viggiù fest und übergab sie den Italienern. … »Er … hat uns zum Tode verurteilt, vier Personen. … Ich bin die Einzige, die zurückkam, um zu erzählen.«

Vielleicht haben Sie auch von dem anderen Schweizer, dem Polizeioffizier Paul Grüninger gehört, der Juden illegal in die Schweiz einreisen ließ und dafür Strafe in Kauf nahm.[9]

Das sind ein paar Beispiele. Das sind Versuche, das Monströse in kleine Portionen zu teilen, so daß wir damit umgehen können, und damit wir lernen können. So können wir das „Nie wieder“ in unseren begrenzten Lebensbereichen wenigstens anstreben. So können wir ernsthaft auf Frieden zugehen. In dieser Zeit ist es schwer, Pazifismus zu vertreten. Tatsächlich kann und will ich staatliche Gewalt auf dem Weg irdischer Gerechtigkeit nicht ausschließen. Wenn das aber nicht mein Weg sein soll. Wenn mein Weg der gewaltlose Weg sein soll, dann kann es nicht damit getan sein, keine Waffe anzurühren, und sich darauf auszuruhen. Dann bedeutet, anderen in Not beizustehen mindestens, selbst zum Leiden bereit zu sein. Ich gestehe: Ich habe gar keine Lust auf Leiden.

Da ist der Spruch, der in unserer evangelischen Kirche diese Woche begleitet, ein Satz aus Jesu Seligpreisungen: „Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“[10] Aber gleich danach sagt Jesus: „Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihnen gehört das Himmelreich.“[11]

Schalom? Alles in Ordnung? Ich hoffe, wenn wir uns begegnen, kann ich sagen: Ja, bei mir ist alles gut. Und wie geht es Dir? – Aber in der Welt gibt es genug Dinge, die nicht in Ordnung sind.

Timotheus Arndt

 


[1]     Jer 6,14, ähnlich Jer 8,11 und noch einmal Jer 30,5: „So nämlich sagt DER NAME: Den Klang von Schrecken hörten wir, Furcht, und kein Friede!“

[2]     „darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.“ Primo Levi: I sommersi e i salvati, 1986. Deutsch: Die Untergegangenen und die Geretteten. Übers. Moshe Kahn. Hanser, München 1990, S. 205)

[3]     Bertolt Brecht: Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui. Epilog, Schluß

[4]     In einem Schreiben vom 1938-11-20, dokumentiert in: Wir wollen die Gewalt nicht. Die Buber-Gandhi-Kontroverse. Hrsg. und übers. von Christian Bartolf, Berlin 1998, S. 11–13, hier S. 12

[5]     principiis obsta (et respice finem), Ovid, Remedia Amoris, 91

[6]     Ex 20,16 und Dt 5,20, für manche das achte, für andere das neunte Wort im Dekalog

[7]     Ich habe sie mündlich überliefert bekommen, ohne weitere Angaben. Ich würde mich nicht wundern, sie irgendwo literarisch wiederzufinden.

[8]     Jüdische Allgemeine vom 2022-11-03 S. 6: Andrea Jarach: Gelassene Beobachterin. Italien. Die Schoa-Überlebende und Senatorin Liliana Segre schaut mit Skepsis auf die neue Regierung, doch möchte sie mit ihrem Urteil zunächst abwarten.

[9]     S. zu Paul Grüninger: https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Grüninger

[10]   Mt 5,9

[11]   Mt 5,10