Predigt über Galater 5,1-6 im Festgottesdienst zur Glockenweihe am Reformationstag

  • 31.10.2021 , 22. Sonntag nach Trinitatis, Reformationstag
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Predigt am Reformationstag 2021, Galater 5,1-6

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

wenn Sie mich am Reformationstag fragen, was ist eigentlich das Wichtigste an Kirchenglocken, dann würde ich sagen: Sie erinnern uns daran, dass wir Protestanten sind! Und Protestantinnen natürlich. Ich meine das aber nicht als konfessionelle Abgrenzung, sondern in einem weiteren Sinne. Obwohl: Mir ist das gar nicht so unsympathisch, denn erstmals wurden 1529 auf dem Reichstag zu Speyer die evangelischen Reichsstände als „Protestanten“ bezeichnet, die dort ein gängiges politisches Instrument nutzten: die sog. „Protestation“, mit der Minderheiten sich öffentlich Gehör verschaffen konnten. Sie protestierten seinerzeit dagegen, dass ein Beschluss des Speyrer Reichstags von 1526 aufgehoben wurde: Nämlich dass den Ländern und Reichsstädten, die die Reformation durgeführt hatten, Rechtssicherheit zugesagt wurde. Ja, das ist mir sympathisch, wenn Christenmenschen sich auf diese Weise hören lassen. Denn es hat mit dem zu tun, was das lateinische Verb protestari eigentlich bedeutet und was im Kern zum Christsein gehört: „für etwas zum Zeugen aufgerufen werden“, „für etwas Zeugnis ablegen“. Wenn nun  Kirchenglocken uns mehrfach am Tag daran erinnern, an diesen weiteren Sinn des Wortes, dann schadet das nicht.  Dreimal wird das hier am Thomaskirchhof in Zukunft sein, morgens, mittags und abends.

Noch viel früher als 1529 wurden Christenmenschen aufgerufen, Protestanten zu sein. Schon im heutigen Predigttext aus dem Galaterbrief aus dem 1. Jahrhundert. Seid Zeugen für das Evangelium, bewahrt Haltung, liebe Christenmenschen in Galatien. Der Apostel Paulus schreibt da mit ordentlich Verve, sozusagen mit vollem rhetorischen Geläut:

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! 2 Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 3 Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 4 Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. 5 Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. 6 Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist. 

Kompromisslos kurz und eindeutig fasst Paulus zusammen, was das Evangelium Jesu Christi ist: Eine befreiende Botschaft. Oder genauer: Eine Botschaft, die Freiheit schenkt und Freiheit zumutet. So der erste Glockenschlag: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder Joch der Knechtschaft auflegen.“ Wer frei ist, dem wird auch zugemutet, fest stehen zu können und für diese Freiheit einzutreten. Eben „Protestari“ – für etwas Zeugnis ablegen! Paulus hat dabei zwei völlig verschiedene Lebenszugänge im Blick, zwischen denen es sich zu entscheiden gilt. Der erste ist der schmalere Weg. Ich wage es, mich im Letzten nicht auf mich selbst zu verlassen. Denn: Ich bin schon erlöst. Habe ich schon geschenkt bekommen. Ich bin befreit von allen Zwängen, in die mich Menschen bringen können oder Umstände. Sie sind da, aber im Letzten haben sie keine Macht mehr über mich. Riskant, könnte man sagen, denn ich muss es wagen, das Wort „Ich“ in kleinen Buchstaben zu schreiben. Der andere Zugang zum Leben heißt: Zu meinen, es ginge eben doch nur mit großen. Es kommt eben doch auf mich an, ich kann es nur selbst und ich schließe mich dem an, der mir den Weg zum Ziel viel einfacher macht, wo ich mich anlehnen kann, hinterher laufen, wenn ich verunsichert bin oder wo ich es ohne einfache Lösung für die Probleme meines Lebens nicht mehr aushalte. In Zeiten, wo viele unsicher sind, gewinnen politische und religiöse (auch christliche) Fundamentalismen ja an Anziehungskraft. Und das ungefähr muss man sich vorstellen, was bei diesem Text im Hintergrund steht. Dass es da Leute gab, die das ausgenutzt haben und doch zumindest einiges aus dem früheren Leben als heilsnotwendig predigten, zum Beispiel die Beschneidung. Dagegen protestiert Paulus und zwar so, wie es einem jeder jüdische Mensch, der gläubig lebt, bis heute bestätigen würde: Wenn man die Thora, das Gesetz, erfüllen will, dann geht nicht ein bisschen davon, sondern alles. Entscheidet Euch also bitte in aller Freiheit für das eine oder andere – aber lasst Euch nichts vormachen.

Für uns heute spielt sich das Thema „Freiheit“ auf einer anderen Ebene ab. Aber es geht immer noch darum, Paulus Warnung vor diesem Lebenszugang ernst zu nehmen, der uns den Zugang versperrt, die schwierige Aufgabe der uns geschenkten Freiheit leben zu können. Ich nenne ihn mal „gesetzlich“, weil er die natürlich auch und gerade im Ausleben unserer Freiheit nötigen Regeln konterkariert. Auch in der protestantischen Kirche gibt es da ja zahlreiche Beispiele moralischer, intellektueller und struktureller Art. Strukturreformen etwa können hilfreich sein, sie sind sogar nötig, weil die Welt sich nun mal verändert und Kirche in dieser Welt lebt und sich in ihr reformieren muss. Selig machen aber können diese Veränderungen nicht. Sie können sogar Schaden anrichten, wo sie vor Ort schlicht nicht geeignet sind, die Dinge zum Guten zu regeln. In dem Konflikt, in dem wir uns als Nikolai und Thomasgemeinde mit dem Landeskirchenamt gerade befinden, geht es ja darum: Ob man mit einem Gesetz gesetzlich umgeht – oder protestantisch-evangelisch im Geiste der Freiheit, in dem man hinschaut, zuhört und überlegt, was vor Ort angemessen ist  und was nicht. Aber mit der Begründung „Alles gilt für alle“ ohne auf die Möglichkeit einer Ausnahme, die das Gesetz  - gut protestantisch - selbst vorsieht, wird es gesetzlich. Schade, uns am Tisch des Gespräches zu verständigen-  das wäre gegangen. Stattdessen wurde versucht, mit gesetzlichen Mitteln per Bescheid gesetzlich zu entscheiden, Top-Down, wir oben, ihr unten, fertig. Wir sind als Nikolai- und Thomaskirche bei weitem nicht die einzigen, denen das so geht. Aber es herrscht ein Klima der Angst, das öffentlich zu sagen, man könnte ja jemanden brüskieren im Landeskirchenamt und dann könne man ja gar nicht mehr miteinander reden. Totschlagargument. Nein, es muss auf den Tisch, gerade auch am Reformationstag und mit Verlaub: Wenn Luther so viel Schiss gehabt hätte, wir säßen heute nicht hier. Dieses Nicht-Miteinander in unserer und nicht nur in unserer Kirche muss sich endlich ändern! Wir brauchen auch den offenen Protest gegen diese Form von Gesetzlichkeit, sonst passiert nichts.  

Und das wird uns als Kirche nicht schaden, im Gegenteil. Vielleicht werden wir sogar öffentlich wahrgenommen in dem, was unsere Aufgabe  in der Gesellschaft noch viel stärker sein könnte: gegen alle Gesetzlichkeiten zu protestieren, die Menschen abhängig machen wollen, klein halten, einschränken. Dass wir Mut machen, zu werden, was der ev. Pfarrer Christoph Friedrich Blumhardt im 19. Jahrhundert gesagt hat: Wir Christen sind „Protestleute gegen den Tod“. Und dafür gilt es, fest zu stehen. Und es gibt einen klaren Grund, auf dem das geht. Paulus erläutert das und worin denn unsere Freiheit besteht, in den vorangegangenen Kapiteln seines Briefes. Und das hebt sich sehr davon ab, dass jeder einfach nur lebt wie er will und macht, was er will. Und wie man sich das am Reformationstag nur wünschen kann, geht er dabei ganz an den Anfang zurück, an die Wurzel der Freiheit eines Christenmenschen. Ganz einfach und knapp sind es vier Dinge:

1. Jesus ist geboren worden.

2. Er hat wie wir gelebt unter den Bedingungen des Menschseins.

3. Er hat die Menschen so geliebt, dass er sich freiwillig dem Leiden hingegeben hat.

4. Er wurde auferweckt.

An ihm als einzelnem wurde deutlich, wie Gott den einzelnen Menschen bedingungslos liebt. Und es war der einzelne Mensch, um den es Jesus ging. Er heilt einzelne und spricht mit ihnen. Er holt einzelne in die Gemeinschaft zurück, befreit sie wie die gekrümmte Frau zu aufrechten Gang. Er befreit einen Zachäus von der maßlosen Sorge um sich selbst. Bringt einzelne dazu, endlich von sich selbst absehen zu können, also ihr „Ich“ nicht mehr in Großuchstaben schreiben zu müssen. So befreit, können sie für andere eintreten. Freiheit gibt es nach christlichem Verständnis nie nur für mich. Sie ist nur, wenn sie auch für andere da ist. Sie ist immer zugleich Geschenk und Zumutung.

Es ist durchaus schwer und anspruchsvoll, sich Rechenschaft über die Konsequenzen abzulegen wenn ich meine Freiheit auslebe. Was etwa in einem durchaus intelligenten Fußballer vor sich geht, der sich den Kampf gegen Corona öffentlich auf die Fahnen geschrieben hat und trotzdem als Ungeimpfter auf einer Kinderkrebsstation Besuche macht, ist mir schleierhaft. Und - auf die Gefahr hin, mich heut noch weiter unbeliebt zu machen – zur Wahrheit gehört auch, wir hätten heute mehr Leute in die Kirche lassen können, wenn Gottesdienste der 3- G Regel unterliegen würden. Zugespitzt: So schränkt die Freiheit des einen, sich nicht impfen oder testen zu lassen die Religionsfreiheit des anderen ein. Allerdings wir kommen ja nicht erst seit Corona in dieses Dilemma. Es steckt sehr tief in uns drin, den für uns bequemsten Weg zu gehen und sich der Zumutung von Freiheit zu entziehen. Um so mehr besteht Anlass, sich als Christenmensch zu vergewissern, worin die Freiheit besteht, die wir nach Paulus leben mögen. Es gibt sie nur als an Christus gebundene Freiheit oder sie ist keine und bleibt anfällig für den Schein. Was nach Paulus und eben auch Jesus allein zählt, ist der Glaube, der in der Liebe zum Ausdruck kommt. In der Liebe: nicht in einer bestimmten Liebes- oder Lebensform oder einer als vermeintlich christlich propagierten gesellschaftlich tradierten Art und Weise, sein Leben zu gestalten. „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht männlich oder weiblich“, heißt es im Galaterbrief im 3. Kapitel, wo Paulus als Protestant gegen die festgefahrenen gesellschaftlichen Muster seiner Zeit auftritt. Diese Unterschiede können und sollen das Leben in der Gemeinde nicht mehr bestimmen. Freiheit bedeutet vielfältig zu leben in und mit verschiedensten Lebensentwürfen in respektvollem Miteinander. Auch das gelingt uns in Kirche weiß Gott nicht immer und der Aderlass gerade in den letzten 10-20 Jahren war beträchtlich, wo sich viele kreative, aufgeweckte Menschen enttäuscht von uns abgewendet haben. Das tut weh, aber wir  waren kein Hort der Freiheit für sie. Ob wir das werden, ob wir dem „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ des Paulus folgen, das wird für unsere Stand als Kirche in der Gesellschaft zukünftig wichtiger sein, als dass Strukturreformen gelingen, die eher mehr Kilometer zwischen die Menschen legen als weniger. Wo Menschen Orte der Vielfalt finden können ohne sich rechtfertigen zu müssen, dass sie so sind, wie sie sind. Wo man  lernen kann, aus den gesetzlichen Verstrickungen unserer Zeit herauszufinden und Freiheit zu leben. So wie es verzweifelt ein Unternehmerehepaar versucht, von dem im letzten SPIEGEL zu lesen war und ihr Beispiel steht stellvertretend für viele. Sie sind mit ihren hipp aufgemachten Gewürzprodukten ruck zuck zu Reichtum gekommen. Die dürften viele von uns auch schon gekauft haben. Der Preis war: Sie haben das Produkt bei Instagram und co. unmittelbar mit ihrem eigenen Leben verknüpft. Jetzt kommen sie nicht mehr raus aus der Nummer. Sie können die Firma nicht mal verkaufen, weil das ganze Geschäftsmodell zusammenbricht, wenn sie sich nicht mehr mit verkaufen. Das ist unter dem Gesetz sein, wo man Freiheit wollte, und beide sind zutiefst bekümmert und ausgebrannt, und würden so gern loslassen von ihrem einstmals großbuchstabierten „Ich“.

Frei zu sein von der Diktatur durch sich selbst, auch darum geht es. Dass ich Gott meine innere Leere hinhalte auf dass er an mir das Wunder der Verwandlung wirke. Ich wage es, das Wörtliche „ich“ klein zu schreiben…Als Luther diesen Zugang zum Leben für sich entdeckt hatte, gab es ab dem 31. Oktober 1517 kein Halten mehr. Sein Leben hat das anstrengender, schwerer und gefährlicher gemacht. Aber auch ehrlicher und standfester. „Protestari“. Mögen unsere jahrhundertealten Glocken im Zusammenspiel mit den neuen viele weitere Jahrhunderte uns und die nach uns kommen werden erinnern in aller Vielfalt: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 Pfarrerin Britta Taddiken, taddiken@thomaskirche.org