Predigt über Hebräer 9,15.26b-28

  • 30.03.2018 , Karfreitag
  • Pfarrerin Taddiken

Predigt über Hebräer 9,15.26b-28, Karfreitag 2018

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,
können wir den Karfreitag aushalten? Ich meine das nicht im Blick auf diejenigen, die gegen den gesetzlichen Schutz dieses Tages polemisieren und sich in ihrer Freiheit eingeschränkt sehen, wenn sie an einem der 365 Tage im Jahr einmal keine öffentliche Tanz-oder Discoveranstaltung besuchen können. Ich meine es im Blick auf alle, denen der Karfreitag in irgendeiner Form noch etwas sagt oder bedeutet und die vielleicht sogar, wie wir heute einen Gottesdienst besuchen oder die Matthäuspassion hören. Ich meine uns.

Können wir es aushalten, was sich da abspielt - unter dem Kreuz und am Kreuz? Und vor allem: Können wir dieses entsetzliche Leiden Jesu heute noch wirklich mit dem Gedanken in Verbindung bringen, es geschehe uns zum Heil? Auch die biblische im Laufe der Geschichte in allerlei Richtungen weiter entwickelte Vorstellung, bei dem Kreuzestod Jesu handle es sich um ein Opfer - das ist für manche mit so viel Abwehr und Grauen besetzt, dass man diesen Begriff im Zentrum unseres Glau¬bens nur schwer ertragen kann. Braucht Gott etwa dieses Opfer - und wenn ja, was ist das für ein Gott? Eher doch einer, mit dem man nichts zu tun haben will. Oder wie ist es zu verstehen und was hat es mit mir zu tun?

Mit unserem heutigen Pre¬digt¬text aus dem Hebräerbrief sind wir bei diesen Fragen - und bei uns.
Christus ist der Mittler des neuen Bundes, damit durch seinen Tod, der geschehen ist zur Erlösung von den Übertretungen unter dem ersten Bund, die Berufenen das verheißene ewige Erbe empfangen. Nun aber, am Ende der Welt, ist er ein für alle Mal erschienen, durch sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben. Und wie den Menschen bestimmt ist, "einmal" zu sterben, danach aber das Gericht: so ist auch Christus "einmal" geopfert worden, die Sünden vieler wegzunehmen; zum zweiten Mal wird er nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern denen, die auf ihn warten, zum Heil. (Hebräer 9, 15.26b-28)

Ich denke, um sich diesen schwer zu verstehenden Sätzen von Opfer und Sünde und wie sie zusammenhängen zu nähern, sollten wir uns klar machen, wie tief der Begriff des Opfers (und die damit einhergehende Gewalt) in so gut wie allen Kulturen verankert ist und sie durchaus auch konstituiert. Das Opfer ist dabei ursprünglich keine religiöse Erfindung und hat nicht mit menschlicher Angst vor einer höheren Macht zu tun. Nein, nicht Gott ist es, der Sündenböcke braucht, sondern ursprünglich sind es die Menschen, um halbwegs miteinander zurechtzukommen. Denn wir Menschen orientieren uns seit jeher an dem, was die anderen haben - das gehört zu unserer Natur. Es würde auch nichts bei uns vorankommen, wenn wir uns davon nicht anregen und motivieren lassen würden. Aber andererseits ist diese Fähigkeit eben auch der Grund für reichlich Spannungen und Konflikte, Vorbehalte, Neid, Wut und Rachegelüste. Wir alle wissen: Diese aggressiven Gefühle in uns wollen, nein, sie müssen beherrscht und gesteuert werden. Die Menschheit hat dabei eines offensichtlich schon früh begriffen: Man wird verrückt, wenn jeder gegen jeden kämpft. Man kommt eher miteinander aus, wenn man sich zu mehreren gegen einen verbündet. Wenn einer an allem Schuld ist. Wenn einer die Wut von allen abkriegt und einer für alle büßen muss, dann lässt sich Ordnung herstellen.

Wenn uns das archaisch, primitiv oder gar schändlich vorkommt, dann liegt das durchaus daran, dass wir bewußt oder unbewußt seit 2000 Jahren auf das Kreuz blicken, das uns die Fragwürdigkeit solcher Projektionen vor Augen führt. Davor aber war es eine selbstverständliche und sogar geheiligte Angelegenheit, einzelne zur Befriedung der vielen auszustoßen. Es war konstitutiv dafür, dass Gemeinschaft funktioniert. Und deshalb durfte die Fragwürdigkeit dieses Verfahrens eigentlich gar nicht bewusst werden. Darum galten die Opfer entweder tatsächlich als schuldig oder es hieß gar: Gott bedürfe dieser Opfer.

Diese Selbsttäuschung, die Menschen in ihren Sündenbockmechanismen gefangen zu halten weiß, können wir als „Macht der Sünde" verstehen, die mit dem Tod Jesu am Kreuz überwunden ist. Davon will uns Christus erlösen - von unserem Hang, andere zu Sündenböcken zu machen und das zu tun, was die Passionsgeschichten uns vor Augen führen mit ihren Erzählungen und Dialogen. Denn es sind auch unsere Geschichten, die sich da abspielen, Petrus, die Jünger, Judas, die aufgebrachte Menge, die Gaffer unter dem Kreuz - was sie tun, ist nur ein Spiegel dessen, was es bis heute unter uns genauso gibt: abwälzen, ausgrenzen, richten, Schuldige suchen, Opfer ausgucken. Wenn Jesus sich nun dort hinein begibt, an die Stelle des Men¬schen, an dem alle mensch¬li¬che Roh¬heit und Ge¬walt¬lust sich aus¬ge¬tobt ha¬ben, wenn er ein für alle mal die Sünde aufheben will, die sich in diesen Ausprägungen manifestiert, und wenn man sich anschaut, wie er stirbt - dann wird deutlich, wovon und wodurch er uns befreien will. Jesus begibt sich bewusst in die Tradition des leidenden Gottesknechts, wir haben von ihm in der Lesung aus dem Alten Testament gehört, er ist der Unschuldige, der diesen Weg klaglos bzw. ohne Anklage geht. Er verzichtet darauf, diejenigen, die ihm das antun, angefangen bei den ihn verleugnenden Jüngern bis hin zu den unvorstellbar brutalen „Kriegsknechten", zu Tätern zu machen. Vielmehr bittet er für sie: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun."

Wo man darauf verzichtet, andere zu Tätern zu machen, gibt es auch keine Opfer mehr. Man ist auch befreit davon, sich selbst zu einem zu machen. Dafür, dass das so sein kann, gibt sich Jesus hin, dafür - und nun wird's vollends deutlich, wie sehr dieser Begriff in der deutschen Sprache schilllert: opfert er sich selbst.
Wenn wir dieses Opfer annehmen, so sagt es unser Predigttext, liegt darin unsere Erlösung. Wenn wir dieses Opfer annehmen, werden wir erlöst von unserem Verlangen, andere zu Tätern und Sündenböcken zu machen. So tut sich am Kreuz Jesu, in seinem eigenen Opfer, ein neuer Weg auf: eine Möglichkeit zu leben ohne Hass und Gewalt - und eben auch ohne deren Opfer.

Die Möglichkeit, dass wir so leben könnten, mag uns beseligen, trösten und herausfordern. Sie wird uns aber auch immer wieder beschämen. Denn wir müssen bei allem aufrechten Bemühen einräumen: Wir bleiben hinter dieser Möglichkeit zurück. Wir verstricken uns in Kämpfe, wir haben unsere Sündenböcke in der Familie, im Beruf, in öffentlichen Leben - und gefallen uns bisweilen sogar selbst in der Opferrolle. Denn ein Opfer bekommt in der Regel die Aufmerksamkeit und man rechnet ihm seine Anteile an der Situation in der Regel erst mal nicht zu, sondern hat Verständnis für seinen Schmerz und seine Empörung, in der im Eifer des Gefechts halt auch mal die Fakten verdreht oder verkürzt wird oder man sich seine eigene Halbwahrheit zurechtbiegt. Wohlgemerkt: Ich rede hier nicht über die Opfer von Gewalttaten, das wäre zynisch, denen wird leider im allgemeinen viel zu wenig Aufmerksamkeit zuteil - und nicht zuletzt werden sie ja oft, wie man in der Affäre um den Weißen Ring in der letzten Zeit hören konnte, ein zweites Mal zu Opfern.

Worum es mir geht: In unserem Kommunikationsverhalten ist es im Moment ein gängiges Muster, in diese Opferrolle zu gehen. Es ist erstaunlich, wie es da immer wieder bis heute zu den seltsamsten gedanklichen Verbrüderungen von Leuten kommt, die sich ansonsten nicht viel zu sagen haben. Plötzlich aber ist man sich einig darüber, wer die Schuld an der empfundenen Misere trägt: das politische Establishment, der Islam, die Flüchtlinge, die Gutmenschen und so weiter und sofort. Und auch, dass man darüber ja gar nicht offen reden dürfe - oder ständig absichtlich und bösartig missverstanden würde. Skurril, denn so herum geht es auch: Man sucht sich einen Sündenbock, um sich in seiner eigenen Opferrolle einrichten zu können.

Aber auch, wenn einem dieses Verhalten zuwieder ist, niemand ist davor gefeit. Und es ist schwer, sich davon wieder zu lösen. Und genauso kann man sich immer wieder schnell auch auf der Seite derer wiederfinden, die bereit sind, heute „Hosianna" zu rufen und morgen zumindest das „Kreuzige"-Geschrei der anderen still hinzunehmen, wenn man darin auch nicht selbst einstimmt. Wir werden noch warten müssen, bis wir von unserem Sündenbockmechanismus endgültig erlöst werden und das kommen wird, was sich am Ende des Texts so anhört: „zum zweiten Mal wird Christus nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern denen, die auf ihn warten, zum Heil." Gottes Weg mit der Welt zielt auf Erlösung und das Kreuz Jesu ist ein Abschnitt auf dem Weg.

Bis dahin tun wir gut daran, als Lernende unter dem Kreuz zu stehen. Dass wir hingucken, was da passiert mit uns und unter uns. Und dass wir auf diesen Jesus schauen, der uns sagt: Hört auf. Gott braucht keine Opfer. Macht keine anderen Menschen zu Opfern - und auch Euch selbst nicht. Ihr seid es nicht nicht. Ich gehe diesen Weg ans Kreuz, um Euch davon zu befreien. Deshalb haben wir bis heute Kreuze in unseren Kirchen, auch wenn sich manche unter den Christenmenschen selbst daran stören. Und wenigstens hier sollten wir dem Kreuz dieser Welt nicht ausweichen und den Karfreitag aushalten. Auch, damit wir uns bewußt machen können: Wir werden gebraucht in einer Welt, die sich um die Opfer zuweilen so sehr sorgt, dass sie einerseits den Gekreuzigten gar nicht mehr anschauen mag, aber doch andererseits zugleich den Wettstreit „Alle gegen alle" immer mehr anstachelt. Wo alle aufgerufen sind, sich an dem zu orientieren, was andere haben. Wo man sich schon von klein auf immer auch in belastenden Konkurrenzsituationen befindet. Und so immerzu versucht ist, sich selbst über „Sündenböcke" zu entlasten. Um des Opfers Jesu willen sind wir herausgefordert, bei dieser Aufteilung nicht mitzumachen und uns selbst aufmerksam und kritisch auf der Spur zu bleiben. Wir wissen, wie groß die Gefahr einer großen und schrecklichen Entladung ist und bleibt, sie ist keineswegs gebannt durch die Erfahrung, wohin es führen kann, wenn es z.B. heißt: „Die Juden sind unser Unglück". Die offenbar zunehmenden antisemitischen Übergriffe unter Schülern Berliner Schulen oder auch der Mord an einer Holocaust-Überlebenden in Frankreich sollte uns sehr aufmerksam machen.

All das aber gilt auch dort, wo wir uns Schwächere suchen, um sie als Opfer zu bedauern, statt endlich einmal mit ihrem Opfer-Sein ein Ende zu machen. Indem wir bei ihnen stehen und mit ihnen gehen, weil sie Menschen voller Würde und Lebenskraft sind. Um des Opfertods Jesu willen gibt es niemanden, den wir beneiden oder besiegen müssten, weil er höher stünde als wir. Und es gibt niemanden, den wir verachten oder bedauern müssten, weil er schwächer wäre als wir. Wir müssen uns nicht unter das Gesetz des Begehrens und der Gewalt begeben, das immer neue Sündenböcke braucht. Darin liegt unsere Befreiung durch das Opfer Jesu am Kreuz. Nicht Gott also braucht dieses Opfer - sondern wir. Halten wir das aus?

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche