Predigt über Hesekiel 34,1-16.31

  • 30.04.2017 , 2. Sonntag nach Ostern - Miserikordias Domini
  • Pfarrerin Taddiken

Predigt am 30. April 2017, Misericordias Domini, Hesekiel 34,1-16.31

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

1 Und des HERRN Wort geschah zu mir: 2 Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der HERR: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? 3 Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden. 4 Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück, und das
Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt. 5 Und meine Schafe sind zerstreut,
weil sie keinen Hirten haben, und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden und zerstreut.
6 Sie irren umher auf allen Bergen und auf allen hohen Hügeln und sind über das ganze Land zerstreut, und niemand ist da, der nach ihnen fragt oder sie sucht. 7 Darum hört, ihr Hirten, des HERRN Wort! 8 So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Weil meine Schafe zum Raub geworden sind und meine Herde, zum Fraß für alle wilden Tiere, weil sie keinen Hirten hatten und meine Hirten nach meiner Herde nicht fragten, sondern die Hirten sich selbst weideten, aber meine Schafe nicht weideten, 9 darum, ihr Hirten,
hört des HERRN Wort! 10 So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde
von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht
mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen
sollen. 11 Denn so spricht Gott der HERR: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie
suchen. 12 Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine
Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und
finster war. 13 Ich will sie aus den Völkern herausführen und aus den Ländern sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und wo immer sie wohnen im Lande. 14 Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein; da werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben auf den Bergen Israels. 15 Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der HERR. 16 Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist. 31 Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der HERR.

Eins, liebe Gemeinde, ist schon mal deutlich. Dieser Prophet redet Klartext im Namen Gottes. Wen spricht er an? Die „Hirten Israels" - im 6. Jh. v.Chr. war das ein Sammelbegriff für alle, die politische oder religiöse Verantwortung trugen. Ihr Versagen hatte Israel in die Krise gestürzt. Gesellschaflich geriet alles aus dem Lot, weil die religiösen, politischen und wirtschaftlichen Eliten vor allem mit sich selbst und ihrer Reputation beschäftigt waren. Die Schwachen waren abgehängt, die stabilisierenden und Orientierung vermittelnden Kräfte in der Gesellschaft ausgebremst, über mahnende und warnende Stimmen setzte man sich mit dem gleichen Größenwahn hinweg wie man außenpolitisch hoch pokerte. Das Ergebnis war das vorläufige Ende Israels, die Zerstörung des Jerusalemer Tempels und Deportation des größten Teils des Volkes ins Exil nach Babylon. Eine geschwächte und vernachlässigte Gesellschaft, die keine Orientierung mehr darüber hat, nach welchen Grundsätzen sie leben will und wo niemand mehr in der Lage ist, seine eigene Verantwortung für das Ganze wahrzunehmen - die geht irgendwann unter.

Das ist der historische Zusammenhang dieser Hirtenrede. Aber was Hesekiel den führenden Leuten seiner Zeit ins Stammbuch schreibt, ist zeitlos. Ein hochaktueller Text. Denn dass die oberen 10.000 sich die fettesten Stücke vom Kuchen abschneiden, dabei ihr eigenes System von Fakten und Lügen aufbauen, das gibt es immer wieder - nicht erst durch einen amerikanischen Präsidenten, der mit seinen Steuerplänen vor allem die eigenen Firmen und Familien und Protegisten begünstigen möchte. Auch Etage tiefer findet man diejenigen, die ihre eigenen Schäflein ins Trockene bringen wollen und die sich großzügige Boni genehmigen oder unverschämte Abfindungen fordern, obwohl sie den Laden gerade an die Wand gefahren haben. Spitzenmanager verdienen das 200fache oder mehr eines Zugführers, der Verantwortung für 800 Menschen im ICE hinter sich trägt. Wo ist der große Unterschied in der Verantwortung? Und wo soll, wo all das zum Normalzustand wird, derjenige bleiben, der sich mit seiner gescheiterten Berufs-oder gar Lebensgeschichte als abgehängt empfindet? Jede Zeit hat ihre sozialen Schieflagen. Und in jeder gibt's die entsprechenden frustrierten hilflosen Reaktionen bis hin zu dem derzeit wahrnehmbar verschärften Reizklima von Hass und Gewaltbereitschaft, diese höchst gefährliche Form von Hemmungslosigkeit und Pöbelei, wo „Volksverräter" fast noch zu den netteren Bezeichnungen für die gehört, die Verantwortung tragen.

Dass es so ist - ich meine, es hat meistens auch immer damit zu tun, dass zu wenige wie Ezechiel darauf reagieren: Zu wenig wird da Klartext gesprochen. Zu viel Stillhalten und Schweigen, zu viel Befürchtung, dass man dort, wo man den Kopf aus dem Fenster hält, auch mal geföhnt wird - wie es Sebastian Krumbiegel in seinem gerade erschienenen Buch so schön sagt. Und das gilt für Politiker, Verantwortliche in Lehre und Bildung und vor allem auch für uns Kirchenleute gleichermaßen: Da ist viel zu wenig Mut und Courage, die Dinge anzusprechen, die schief laufen. Wer sonst sollte es aus seiner relativ sicheren Position denn tun, wer muss denn wirklich Angst um Leib und Leben haben bei uns? Aber ich möchte da schon alle erwachsenen Christenmenschen einbeziehen. Denn anders als zu Hesekiels Zeiten sind unter den „Hirten" nicht nur diejenigen mit einem Amt oder einer Leitungsaufgabe zu verstehen. Denn nach christlichem Verständnis sind wir alle, die getauft sind, Priester, Könige und Hirten. Sich selbst und dem Nächsten verantwortlich - und mitverantwortlich für das Ganze. Die grundlegenden Spielregeln der Demokratie, unter denen wir zusammen leben, sind dem ja durchaus ähnlich. Der älteste Versuch der Menschheit, aus dieser Rolle raus zu kommen, lässt sich gleich in den ersten Kapiteln der Bibel finden. Dort, wo Kain auf Gottes Frage antwortet, wo denn sein Bruder Abel sei: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?" Ja, lieber Kain, und wir können unseren eigenen Namen hier einsetzen, genau das solltest Du tatsächlich sein, denn dafür hat Gott Dich mit Hirn, Herz und Hand ausgestattet. Hüter, Hirte, wie auch immer. Nichts wirkt so tödlich unter uns wie die kain‘sche Gleichgültigkeit für das Schicksal des anderen. Hirte sein, Hirtin - es ist unsere Bestimmung, es ist unsere Aufgabe, unsere sehr anstrengende, fordernde Aufgabe. Aber was für eine göttliche Wertschätzung steckt dahinter. Ja, wir sollen Hüter sein. Es geht nicht um die Erwartung, die ganze Welt zu retten. Aber es geht um eine grundsätzliche Haltung. Und wenn man die annimmt, wird deutlich: Was Hesekiel hier den führenden Hirten seines Volkes ins Stammbuch schreibt, richtet sich immer auch an einen selbst. Sonst werden diese scharfen Worte zu nichts anderem als zu einer destruktiven Meckerei. All das ist nur dann glaubwürdig, wenn wir bereit sind, die hier angelegten Maßstäbe auch auf unsere eigene Verantwortlichkeit anzuwenden und auf das, was uns dort gelingt und eben auch nicht. Es ist leicht, von „denen da oben" zu reden. Es ist leicht, alles Mögliche bzw. Unmögliche von ihnen zu erwarten und sich dann zu beschweren, dass sie diesem Bild nicht entsprechen.

Damit stellt sich die Frage, was wir denn angemessenerweise erwarten dürfen-von diesen Hirten und von uns selbst in unserem je eigenen Verantwortungsbereich. Dafür ist es hilfreich, ins Positive zu wenden, was Hesekiel kritisiert. Das Schwache stärken, das Kranke heilen, das Verwundete verbinden, das Verlorene suchen, das Verirrte zurückholen, das Starke unterstützen. Allem gemeinsam ist, sich zum Nachdenken für die verpflichten zu lassen, die irgendwie nicht mehr wissen, was der innere Leitfaden für ihr Denken und Handeln ist, schlicht: Wo sie hingehören und wo sie hinwollen.

Ich denke, da liegen heute die größten Aufgaben für uns, wenn wir an den vorhandenen Spaltungen in unserer Gesellschaft arbeiten wollen. Wie kann man die erreichen, deren Selbstgefühl so heruntergekommen ist, dass sie ohne Hemmungen auf Menschen verbal und zunehmend auch körperlich losgehen, von denen sie meinen, sie hätten sie schief angeguckt? Die sich zu ihrem Hass - verbal oder tätlich - nicht verhalten können? Darauf gibt es keine einfache Antwort. Gleichwohl ist es aber eine Binsenweisheit: Wo solcherlei Verwahrlosung herrscht, haben diejenigen leichtes Spiel, die gerne die einfachen Wahrheiten verkünden. Und die sich vor allem als Kümmerer generieren - aber es gar nicht sein können, weil sie selbst von nichts anderem leben (um im Bild zu bleiben) als von der Ängstlichkeit und dem aus innerer Orientierungs- oder Hoffnungslosigkeit resultierenden Herdentrieb derjenigen Schafe, die sie zu schützen vorgeben. Denn sie werden genau in dem Moment ihre Macht verlieren, wo diese Ängste sich verziehen oder ad absurdum geführt sind. Eine solche Botschaft des „Fürchtet Euch" steht in eklatantem Widerspruch zu der wichtigsten Botschaft der jüdisch-christlichen Tradition, die sich in Abwandlungen 365 x in der Bibel findet: „Fürchtet Euch nicht". Dass letzte Woche ein führender AfD-Vertreter den Christen unter den AfD-Mitgliedern empfiehlt, aus der Kirche auszutreten, auch wenn bei ihm andere Beweggründe vornan standen - das hat mich von daher nicht überrascht.

Nun bedeutet, an den falschen Hirten geraten zu können, aber natürlich nicht, sich niemandem mehr anzuvertrauen. Wir brauchen Vorbilder und Menschen, die uns Impulse geben durch ihre Art, das Leben zu meistern. Um auf die Dauer nicht im Saft der eigenen Gedanken zu schmoren, brauchen wir die Klarheit ihrer Rede und ihres Handelns. Ich war vor drei Wochen zu einer Gastpredigt in einer katholischen Stiftskirche in der Nähe von Linz eingeladen. Und da habe ich im Gespräch mit einigen Prämonstratensern zum ersten Mal eigentlich verstanden, was das mit den Seligsprechungen in der römisch-katholischen Kirche eigentlich soll: Dass es da genau um dieses Bedürfnis geht. Die Nähe zu diesen Menschen zu suchen, die auf ihre Weise und mitsamt ihren menschlichen Schwächen dennoch mindestens an einer Stelle Wunderbares bewirkt haben. Ich habe für mich gesagt: Na, dazu müssen die aber nicht erst tot sein. Ich glaube, wir brauchen einfach die, von denen wir wissen, im Falle eines Falles stehen sie hinter uns und lassen uns nicht fallen, auch wenn wir den größten Fehler unseres Lebens machen sollten. Nur dort, wo man sie auf einen Sockel hebt, auf den sie nicht gehören, wird es schwierig.


Denn im Letzten ist Orientierung nur bei Gott selbst zu suchen und daran, wie er selbst das Hirtenamt ausübt - und wie wir es nie werden tun können. Auch darum geht es ja hier bei Hesekiel. Es geht nicht nur um ein höchst kritisches Wort an die Hirten, sondern auch an diejenigen, die sich führen und/oder verführen lassen. Vielmehr ist es letztlich ein tröstliches - und zwar für alle. Für alle, die nach besten Kräften versuchen, ihr Hirtendasein zu meistern. Natürlich: Einerseits ist hier das Ende aller falschen Hirten und Führer und Verführer angesagt: Auch wenn es auch dauern mag, es wird kommen. Andererseits aber ist damit auch die Entlastung derer in Aussicht gestellt, die in ihrer Aufgabe zu führen und zu leiten versagen und immer wieder auch versagen werden. Denn auch sie sind und bleiben Teil der Herde. Denn es gilt hier: Wenn Gott zurück führt, wo Verirrung ist, wenn er das Schwache stärken will, wenn er das wirklich will - und dieses „ich will" kommt immerhin sieben Mal in drei Versen vor (sieben ist die Zahl der Schöpfung, drei die der göttlichen Ganzheit und Fülle ) - dann kann das nur ein Bekenntnis zu seinem ganzen Volk bzw. seiner ganzen Schöpfung sein. Zu den Schafen und den Hirten. Auch den schwarzen Schafen und den erbärmlichen Hirten. Gott will es durchsetzen. Auf seine Art, mit seiner Macht: mit der „misericordias Domini", mit der Barmherzigkeit des Herrn.

Das heutige Evangelium bringt uns nahe, wie sich diese Barmherzigkeit des Herrn in Jesus als gutem Hirten unüberbietbar erfüllt hat. Er hat sein Leben für alle eingesetzt. Er hat es verloren und hat es doch neu gewonnen, damit es für Menschen keine letzte Verlorenheit mehr geben muss. Auch nicht dort, wo man scheitert und versagt. Wort und Tat dieses Hirten bleiben gültig, auch wo die menschlichen Hirten sich verfehlen. Unsere Sehnsucht, aufgehoben und behütet zu sein, ein Leben lang und darüber hinaus, findet bei ihm ihr Ziel. Bei ihm geraten wir an den richtigen Hirten. Auf seiner Weide können wir uns das Leben schmecken lassen. Und das ist das, worauf wir uns immer nur wieder und wieder berufen können, dass wir auf diesen Hirten schauen und einander als erwachsene männliche wie weibliche Hirten, die füreinander verantwortlich sind, auf und an diesen Hirten weisen. Dass wir uns gegenseitig an ihn erinnern und wenn es sein muss, einander neu auf das aufmerksam zu machen, wovon allein wir wirklich leben und wodurch wir beieinander bleiben werden jetzt und allezeit: durch sein Leben, Sterben und Auferstehen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org