Predigt über Hoheslied 2,8-13

  • 04.12.2022 , 2. Advent
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Predigt über Hoheslied 2,8-13 am 4. Dezember 2022 (2. Adventssonntag)

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Da ist die Stimme meines Freundes! Siehe, er kommt und hüpft über die Berge und springt über die Hügel. 9 Mein Freund gleicht einer Gazelle oder einem jungen Hirsch. Siehe, er steht hinter unsrer Wand und sieht durchs Fenster und blickt durchs Gitter. 10 Mein Freund antwortet und spricht zu mir: Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her! 11 Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei und dahin. 12 Die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube lässt sich hören in unserm Lande. 13 Der Feigenbaum lässt Früchte reifen, und die Weinstöcke blühen und duften. Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her!

Ist das nicht wunderbar, liebe Gemeinde? So ein großartiges Liebeslied! Der Freund und die Freundin, sie begehren sich, sie verlangen nacheinander. Herzklopfen auf den Moment hin, wo sie sich endlich in den Armen liegen, nur auf diesen Moment geht es zu: komm her, meine Schöne, komm her, mein Schöner. Es ist ein Liebeslied, dieses Hohelied in der Bibel. Nichts anderes. Und wie man es dreht und wendet: Gott kommt nicht vor. Jedenfalls nicht direkt. Aber es ist wohl deshalb in die Bibel geschlüpft dieses Lied, weil man sagte: Ja, so ist es doch zwischen Gott und seinem Volk, zwischen Christus und der Kirche, zwischen Jesus und meiner Seele, meinem innersten. So voller Kraft und Dynamik und so innig kann, soll sie doch sein, meine Beziehung zu Gott, zu Jesus. So wünsche ich sie mir, dass ich die Luft anhalte und mir das Herz klopft, wenn ich nur daran denke, wie Gott mich begehrt und liebt.

Wir reden ja gern sehr trocken und abstrakt von „der“ Liebe Gottes. Hier trifft sie uns bis ins Innerste. Und so passt dieser Text wunderbar in die Adventszeit, auch wenn hier vom Frühling die Rede ist und draußen Schnee liegt und wir uns eigentlich besinnlich behaglich in die Stuben zurückziehen wollen. Und Ruhe suchen, nur einfach mal Ruhe und Abstand von dieser aus den Fugen geratenen Welt von unserer Hilf-und Ratlosigkeit, unserer inneren Unruhe und auch so mancher Resignation. Und Kind sein dürfen wenigstens mal für ein paar Stunden, abtauchen in die Erinnerungen, die Düfte, die Geschichten. Nun aber das! So geht es zu wie in diesem Text, so geht Advent auch, so soll es sein, wenn Gott kommt, es spricht uns an als erwachsene Menschen, als Liebende. Und eins, das ist hier ganz anders herum als bei vielen adventlichen Liedern und Texten, wo Gott in unsere Welt kommt, in unsere Stadt, in unser Herz hinein. Hier kommt er nicht rein. Er bleibt draußen hinter der Wand unseres Hauses stehen und ruft uns heraus: „Komm raus, meine Schöne, komm raus, mein Schöner.“ Verpasse nicht, was in deinem Leben möglich ist. Verpasse nicht, was neu möglich ist. Raus aus deinem Haus mit den vergitterten Fenstern. Es liegt nahe, woran hier gedacht ist. Ein Raum mit Gittern, der uns festhält. Die Gefängnisse mit den dicksten Mauern sind meistens die, in die wir uns selbst hineinmanövriert haben und aus denen wir nicht mehr herausfinden. Aus denen wir nur noch wie durch Gitter auf diese Welt schauen, nur mit einem kleinen Ausschnitt, den wir wahrnehmen. In die wir uns hineinmanövriert haben mit unseren Vorstellungen, wie unser Leben aussehen müsste damit es perfekt ist und dumpf ahnen, dass uns das gar nicht ausfüllt, dass es uns nicht froh sein lässt, dass es uns beschwert und einengt. Oder wo wir uns hineinmanövriert haben in unsere eigenen Blasen, in denen wir uns nur noch bewegen.

Ja, und manchmal steckt uns das Leben selbst in ein Gefängnis durch eine Krankheit, den Verlust eines lieben Menschen. Oder die Angst vor der Zukunft bedrängt mich so sehr, dass ich panisch reagiere und mich selbst immer tiefer in dieses Gefängnis verstricke, immer kleiner und enger wird das Fenster. Und um so schwerer wird es, überhaupt rauszuwollen, sich überzeugen zu lassen: Es kann alles anders werden in deinem Leben. Oder besser: Du kannst es anders erleben. Komm raus, denn du kannst von drinnen gar nicht richtig erkennen, dass der Regen aufgehört hat, vor dem du Schutz suchst. Die Feigen reifen schon wieder und der Weinstock duftet.

„Siehe, mein Freund steht schon hinter der Wand und sieht durchs Fenster und blickt durchs Gitter.“ Können wir das glauben, liebe Gemeinde? Dass Gott da schon steht und noch mehr, dass er angesprungen kommt wie ein Liebender, weil er uns da rauslocken will aus den Mauern, die es dunkel machen und eng?  Es geht um diesen einen Moment im Advent: Dieser Liebe nachzugeben. Sich in sie hineinzuwerfen. Im Vertrauen, alles andere wird dann schon auch noch werden. Aber jetzt, in diesem Moment, da geht es um das Ganze, um das eigentliche, um das, was meine Welt zusammenhält, dass Gott und ich zusammenfinden. Um diesen einen Moment geht es, der alles verändern kann. Unsere Mütter und Väter im Glauben, die in der Kraft dieses Liebesliedes Gott an uns haben walten sehen, haben dem Freund und der Freundin Namen gegeben und zwar aus der Geschichte Israels: Salomo und Sulamith. In beiden Namen steckt die gleiche Wurzel, das hebräische Schalom. Das heißt eigentlich, etwas wird ganz, etwas wird vollständig und davon abgeleitet meint es dann auch Frieden. Und so mögen die Namen hinweisen auf das, was hier geschieht: Hier kommt zusammen, was den Menschen erst ganz und vollständig macht: dass Gott in uns die Schöne sieht, den Schönen. Und wir ihm das glauben und unser Leben in dieses Licht rücken lassen. Es ist dasselbe Licht, das die Krippe erstrahlen lässt. Es ist dasselbe Licht des Morgensterns, der wie wir es gesungen haben, auch unsere Angst und Pein bescheint. Es ist das Licht, bei dem die Nacht schon im Schwinden ist. Es scheint schon rein durch die vergitterten Fenster, jetzt schon. Es lockt uns auf die Straße, es hilft uns, unsere Ängste zu überwinden.

Und so ist es auch etwas Adventliches, was sich da im Iran abspielt, wo das Verlangen nach dem Ende des Winters und des Regens und des neuen Frühlings stärker wird, immer stärker und sich über die Angst legt. Und wo die Menschen raus kommen aus dem Haus, in das man sie lange gesteckt hat und sie das mitgemacht haben aus lauter Angst.

Und es ist auch eine Art von Advent, die einige Menschen in China erleben in diesen Wochen. Sich in diesen Moment hineinzuwerfen, hineinzuwagen, der alles verändern kann. Der chinesische Schriftstelle Liao Yiwu hat das in der letzten Woche in einem Artikel so beschrieben und es kommt unserem Hohenlied am Ende schon nahe, wenn er beschreibt, was die Menschen aus den abgeriegelten Häusern auf die Straßen treibt. Er beschreibt es für Shanghai: „Es ist die Trauer um die eigene Zukunft…was, wenn ich selbst ende wie die Menschen in diesem Hochhaus in Urumqui? He, kommunistische Partei, habt ihr uns noch nicht genug gegängelt, mit der Arroganz eurer Macht riegelt ihr Städte und Häuser ab, Tage, Wochen und Monate… Und wir haben es ertragen, uns brav in unsere Wohnungen zurückgezogen, haben uns auseinanderreißen lassen und wegsperren, in Zellen zusammenpferchen, hungernd, krepierend, wir haben es ertragen… Warum nur, warum behandelt ihr uns so? Und dann gelingt es den Menschen in Shanghai, von allen Seiten die Polizeiblockaden zu durchbrechen und sich, jeder ein weißes Blatt Papier vor der Brust, auf der Urumqi-Straße zu versammeln, um ihren bei dem Unglück getöteten Landsleuten zu gedenken. Lautstark machen diese Menschen, die keine Sklaven mehr sein wollen, ihrem Ärger Luft… Und inmitten dieses Protests bringt einer einen Zettel an einem Schild auf der Urumqi-Straße an. Seine Botschaft lautet: Meine Freunde in Urumqi. Ich liebe euch. Ich liebe euch wie diese Straße. Ich liebe Euch wie meine eigene Familie. …Die Polizeieinheiten rücken den Demonstranten auf den Leib und kesseln sie ein. Die Menschen beginnen zu weinen. Sie weinen nicht aus Angst; sie weinen nicht, weil sie gleich verhaftet und geschlagen werden. Sie weinen, weil sie diese Botschaft gelesen haben.“ (Süddeutsche Zeitung, 30. November 2022, S. 11)

Ja, das vermag sie, die Stimme des Freundes, wenn wir sie hören. Wenn wir seine Liebe spüren gegen alle Macht der Finsternis. Seine Liebe macht sich Bahn in dieser Welt gegen allen Augenschein, so wie die Liebe zwischen Liebenden sich nicht aufhalten lässt. Sie kann alles ändern. Sie kann uns ändern. Er kommt, der uns so innig liebt, dass er über die Hügel springt, um uns endlich zu erreichen. Er ist auf dem Weg zu uns, er steht hinter der Wand und sagt uns, was wir Schöneres nicht hören können: „Steh auf, meine Freundin, mein Freund, und komm, meine Schöne, mein Schöner, komm her.“

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org