Predigt über Jeremia 31,31-34

  • 24.05.2020 , 6. Sonntag nach Ostern – Exaudi
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Gnade sei mit Euch von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

auf allen möglichen Ebenen fragen wir uns: Was wird nach bzw. durch Corona anders? Schule, Wirtschaft, Kultur, Kirche – was und wie werden wir da neu gewichten? Was wollen wir eigentlich wirklich? Fest steht bisher nur: Einiges werden wir hinter uns lassen wie es vorher war. Manches schmerzlich – und manches möglicherweise sogar erleichtert. Sehen da eine Chance neu anzufangen. Aber worin besteht sie genau, diese Chance? Da ist noch viel unklar - sowohl beim Blick zurück als auch nach vorne. Es ist Zeit für die Bilanz des Vergangenen und Zeit für die Frage: Wie nun weiter?

Von daher passt dieser Sonntag Exaudi mit seinen Fragen und Themen genau in unsere Zeit. Die Jünger wissen: Jesus ist weg – aber der Heilige Geist noch nicht da. Und sie wissen nicht - was wird da kommen? Und wie werden wir unter der Perspektive des Kommenden das Vergangene bewerten und in welchem Licht werden wir es sehen? Egal auf welchem Gebiet wir uns in dieser Hinsicht Gedanken machen, eins ist all dem gemein: Es hat – wie bei den Jüngern - mit etwas Grundsätzlichem zu tun. Bei uns selbst – und auch insgesamt. Nicht nur das eine oder andere wird sich verändern in unserem Leben. Vielmehr geht es um die Frage, wie wir manche Dinge grundsätzlich bedenken und anpacken wollen und was sich da ändern muss oder zumindest sollte.

Mich hat dazu in den letzten Tagen ein Interview mit dem Jenaer Soziologen Hartmut Rosa bewegt, in dem es um die Frage ging, wie man unsere Art zu leben charakterisieren kann bevor wir den Gedanken an eine Pandemie nicht wirklich auf dem Zettel hatten – und was sich jetzt verändern könnte. Rosa spricht m.E. treffend davon, dass wir einem Lebensprogramm der Verfügbarmachung anhängen. Wir haben uns in der Nach-Moderne daran gewöhnt, im Prinzip alles jederzeit haben zu können. Bzw. zu meinen, grundsätzlich ein Recht darauf zu haben - und es notfalls einklagen zu können. Zu diesem Lebensentwurf gehört auch der Zwang zur Steigerung: Es gilt, sich immer noch mehr verfügbar zu machen, man kann nicht aufhören damit, sich selbst reicher, schöner, besser, disziplinierter und konsequenter zu machen. Das, worin man die Erfüllung seines Lebens sieht, lässt sich aber nicht erfüllen, es ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wir haben das Gefühl, immer hinterherzulaufen – oder sollte man sagen: zu hecheln? Auf Dauer macht uns das aggressiv. Und wen immer wir dabei ausmachen, dass er uns dabei stört – er zieht unseren Hass an. Wir leben – laut Rosa – somit in einer generellen Aggressionshaltung zur Welt: Uns selbst gegenüber, weil wir unseren Ansprüchen an uns selbst nicht genügen. Und anderen gegenüber eben auch, die wir ausmachen als diejenigen, die uns dabei stören. Die Folge ist: Wir sind selten wirklich von etwas berührt, denn es könnte ja noch Besseres kommen. Und wir sind selten bei der Sache im Moment, sind auf ein „Später mal“ aus. Später, wenn ich mal Zeit habe, lerne ich mal ordentlich Klavier. Später, wenn ich mal wirklich Zeit habe, dann nehme ich sie mir für meine Familie. Und und und. Und kaum haben wir Zeit, überfordert uns das auch schon. Wir spüren innere Unruhe in uns, fühlen uns irgendwie zerrissen. Aber: Wir sehnen uns danach, inwendig ergriffen zu werden und darauf antworten zu können: Resonanz zu geben, wie Rosa sagt. Biblisch könnte man auch sagen: seinem Schöpfer versuchen zu antworten. Wie auch immer man es lieber sagen mag: Es ist genau das Gegenteil vom Programm der Verfügbarmachung. Das, wonach wir uns sehnen, ist unverfügbar. Und das ist es ja, wo wir in den letzten Wochen komplett gefordert waren und es auch noch sind: Wir erleben eine nie gekannte Unverfügbarkeit unseres Lebens. Es sind nicht die konkreten Einschränkungen, die uns wirklich belasten. Sondern dass wir nicht verfügen können darüber, wie wir die nächsten Wochen und Monate planen können. Das ist sonst zwar eigentlich auch so – aber es ist uns nicht bewusst.

Jetzt ist es das in einem Maße, die einigen noch schwerer fällt als anderen. Unverfügbares, Widersprüchliches oder Ambivalentes - manche kommen nicht gut damit zurecht. „Lieber abstruser Wahnsinn als gar keine Erklärung“  - titelte SPIEGEL online in der letzten Woche angesichts der erstaunlichen Zahl derer, die jetzt auf Verschwörungstheorien setzen, die plausibel klingen bzw. durch die plötzlich alles zusammenzupassen scheint. Ein Beleg dafür, dass man sich mit dem Unverfügbaren nicht abfinden kann? Ja, meinen einige, in der Krise reagieren wir durchaus wie Steinzeitmenschen: Wir vertrauen uns einer glaubwürdig erscheinenden Führungspersönlichkeit an, freuen uns über die einfache Wahrheit oder grenzen einen Sündenbock aus. Ich denke schon, dass wir alle dazu neigen. Es ist nur die Frage, wie gut man das bei sich selbst im Blick hat, ob man es einzuhegen weiß oder dem freien Lauf lässt. Mit Intelligenz hat das nichts zu tun: Auch Professoren reden wirr und Leute mit kürzerer Bildungslaufbahn kriegen es gut auf die Reihe. Narzissten und geltungssüchtige Typen wie Attila Hildmann, Ken Jebsen und andere, die auf der Suche nach Sinn irgendwie falsch abgebogen sind, kann man da außen vor lassen – die sind noch mal ein Thema für sich. Sich selbst mit dem Lebensentwurf der Verfügbarmachung kritisch auseinandersetzen. Ich meine, darum geht es jetzt. Um die Frage, wie wir mit dem Unverfügbaren klarkommen. Wie wir zu einer gelasseneren Haltung finden. Und welche Quellen wir dafür vielleicht wieder freischaufeln müssen.

Haben Glaubende es da leichter? Ja und Nein – wenn wir uns die Jünger zwischen Himmelfahrt und Pfingsten anschauen und auch uns in diesen Tagen. Es gibt einen wunderbaren Text aus dem Propheten Jeremia, der für heute Predigttext ist. Er kann helfen bei der Suche nach  Antworten auf all diese Fragen. Weil er sagt: Was wir jetzt brauchen, ist nicht auf Stein oder Papier zu finden. Es muss tief in uns drin etwas passieren. Es geht aber nicht um etwas, was wir noch nie gehört hätten. Sondern, dass wir verinnerlichen, was wir eigentlich schon wissen. Jeremia spricht davon in einer Zeit, wo sich Menschen ebenfalls neu ausrichten mussten auf die Zukunft. Am Ende einer Zeit im Exil stand die Rückkehr in eine Heimat an, in der nichts mehr so war wie zuvor. Er verheißt ihnen, dass Gott mit seinem Volk einen „neuen Bund“ schließen wird. Wie gesagt: Da geht es nicht um neue Gebote. Alles ist schon bekannt. Neu ist nur eins: die Art und Weise, wie wir begreifen. Gott schreibt ihn uns ins Herz, dass er uns in Fleisch und Blut übergehen möge. Er soll uns berühren! So spricht Jeremia davon:

Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen, 32 nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, mein Bund, den sie gebrochen haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der HERR; 33 sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der HERR: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein. 34 Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen: »Erkenne den HERRN«, denn sie sollen mich alle erkennen, beide, Klein und Groß, spricht der HERR; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.

Liebe Gemeinde, wenn es etwas gibt, was dem Programm der Verfügbarmachung als Lebenskonzept widerspricht, dann ist es das, was hier gesagt wird: Ich will ihr Gott sein und sie sollen mein Volk sein. Gott legt uns das ins Herz – und es ist das, was wir wirklich brauchen. Was wir brauchen, um entscheiden zu können, was wir brauchen, um vertrauen zu können, was wir brauchen, um lieben zu können. Was wir brauchen, um uns berühren zu lassen. Und was wir brauchen, um unsere Antwort darauf zu finden – und Gottes Wort in uns Resonanz findet. Wenn die Zeit kommt, dass Gott es so tun will, dann verstehe ich es so: Es ist schon etwas da bei uns und in uns. Vielleicht sogar schon genug, um damit umzugehen, dass das allermeiste in unserem Leben schlicht unverfügbar ist: Wie lange wir leben, ob wir gesund sind oder nicht, ob wir Menschen finden, die wir oder die uns lieben. Aber vollendet damit umzugehen – das steht noch aus, Pfingsten muss noch kommen. Und muss immer wieder kommen, bis es endlich ganz und gar so sein wird, dass uns Gottes Bund in Fleisch und Blut übergegangen ist und wir es endlich ertragen werden, uns nichts und niemanden mehr verfügbar zu machen: unsere Schwester und unseren Bruder nicht, die anderen und Fremden nicht und auch Gott nicht. Solange mögen wir bitten: „O, komm Du Geist der Wahrheit, und kehre bei uns ein…“

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche
taddiken@thomaskirche.org