Predigt über Jesaja 5, 1-7

  • 28.02.2021 , 2. Sonntag der Passionszeit - Reminiszere
  • Landesbischof i.R. Christoph Kähler

Liebe Schwestern und Brüder, liebe Gemeinde in St. Thomas,

der heutige Predigttext steht im Buch des Propheten Jesaja. Das Kapitel fünf, das sogenannte Weinberglied, ist ziemlich berühmt, ich lese es heute in der Fassung der Gute-Nachricht-Bibel. Sie trifft den Widerspruch zwischen einer Art von Liebeslied, und seinem Inhalt, einer zornigen Anklage, besonders gut. Aber hören sie selbst!

 

Hört mir zu!
Ich singe euch das Lied meines Freundes von seinem Weinberg:

Auf fruchtbarem Hügel,
da liegt mein Stück Land,
2dort hackt ich den Boden
mit eigener Hand,

ich mühte mich ab
und las Felsbrocken auf,
baute Wachtturm und Kelter,
setzte Reben darauf.

Und süße Trauben
erhofft ich zu Recht,
doch was dann im Herbst wuchs,
war sauer und schlecht.

3 Jerusalems Bürger,
ihr Leute von Juda,
was sagt ihr zum Weinberg,
was tätet denn ihr da?

4 Die Trauben sind sauer –
entscheidet doch ihr:
War die Pflege zu schlecht?
Liegt die Schuld denn bei mir?

5 Ich sage euch, Leute,
das tue ich jetzt:
Weg reiß ich die Hecke,
als Schutz einst gesetzt;

zum Weiden solln Schafe
und Rinder hinein!
Und die Mauer ringsum –
die reiße ich ein!

Zertrampelnden Füßen
geb ich ihn preis,
schlecht lohnte mein Weinberg
mir Arbeit und Schweiß!

6 Ich will nicht mehr hacken,
das Unkraut soll sprießen!
Der Himmel soll ihm
den Regen verschließen!

7 Der Weinberg des Herrn
seid ihr Israeliten!
Sein Lieblingsgarten,
Juda, seid ihr!

Er hoffte auf Rechtsspruch –
und erntete Rechtsbruch,
statt Liebe und Treue
nur Hilfeschreie!

Was antworten wir, liebe Gemeinde, wenn so ein Straßenprediger in unserem Tempel, hier in der Thomaskirche, herumschreien würde? Vorausgesetzt wir könnten sein Geschrei verstehen! Oder denken Sie vielleicht: Das kommt nicht vor? Doch, es kommt vor! Ich habe es selbst erlebt – im Berliner und im Erfurter Dom. Das war nicht lustig, sondern diese Männer störten die Prediger und ihre Gemeinden ziemlich laut. Wie reagiert man darauf angemessen? Erst mal den Menschen aus der Kirche bringen! Und dann? Ein Gespräch führen? Etwa so: „Nun mal halblang! So schlimm sind wir doch nicht, Meister! Blutschuld, Verrat, Lüge und Rechtsbeugung? Bei uns doch nicht! Wir spenden doch für guten Zwecke,
geben uns Mühe mit schwierigen Zeitgenossen. Wir achten auf Anstand und helfen gern. Ja, wenn du andere meinst, die ihre eigene und fremde Gesundheit nicht achten, das wäre etwas anderes. Aber wir haben doch in langen Jahren in der Diktatur nach Recht und Gerechtigkeit geschrien und dann einen Rechtsstaat bekommen – immerhin; auch wenn nun das Recht täglich eingeübt und verteidigt werden muss. Uns kannst du doch eigentlich nicht meinen!“

Aber wen meint der Prophet? Und wen meinen die Theologen, die den Text für den heutigen Passionssonntag ausgesucht haben? Uns? Eine erste Überlegung: Das Lied ist ein altes Lied und wurde vor mehr als 2500 Jahren den Bürgern von Jerusalem gesungen, nicht den Bürgern von Leipzig. Es gab und gibt Zeiten, in denen so ein Text passt, wie die Faust aufs Auge – auch in Leipzig. Früher war er für Bußtage reserviert. Aber es gibt auch Zeiten und Menschen, für die er ganz unangebracht ist, weil sie keine Täter, sondern Opfer sind.
Was soll denen die Anklage, wenn Menschen als erstes Trost und Ermutigung brauchen? Selbst Jesaja kennt völlig verschiedene Zeiten, kann zuweilen Mut zusprechen, wenn es gegen die feindlichen Eroberer darauf ankommt: „Glaubet ihr nicht, so bleibet ihr nicht!“ ein starker Spruch, ein starker Trost. Er hat damals – und danach immer wieder geholfen!

Also, was fangen wir heute und hier in der Thomaskirche mit der Anklage durch den alten Propheten Jesaja an?

Vielleicht hilft eine alte kirchliche Sitte, die in der evangelischen Kirche etwas in Vergessenheit geraten ist: Der Beichtspiegel, eine Prüfliste des möglichen Versagens – zunächst zum persönlichen Gebrauch. Die Liste sagt nicht: Du hast das alles verbrochen, was jetzt aufgezählt wird: Götzendienst, Meineid und Vernachlässigung der alten Eltern, Totschlag, Ehebruch und Diebstahl. Aber der Beichtspiegel fragt mich: Wie sieht es jetzt bei dir und in deiner Umgebung aus? Was sind die Konflikte, die jetzt befriedet werden sollten? Wo sollten sich Früchte des Glaubens heute zeigen? Was muss in diesen Zeiten passieren, damit es besser wird? Dieses Anklagelied des Jesaja zu hören, fordert die persönliche Gewissenserforschung ein. Wo fangen wir damit an? Es beginnt schon mit dem Streit, wer in diesen Wochen zuerst geimpft werden soll. Möglicherweise wären sogar wir hier in diesem Raum verschiedener Meinung und könnten uns genauso streiten, ie es Wissenschaftler und Politiker öffentlich tun. Sollen Erzieherinnen und Lehrer doch schneller drankommen – wegen der Kinder? Oder soll es bei der ursprünglich verabredeten Reihenfolge bleiben, also zuerst die am meisten Gefährdeten? Es gibt für beides gute Gründe und vielleicht sogar bald eine Lösung, die beiden Forderungen gerecht wird. Das wäre ja schön und ein Kritikpunkt weniger.

Doch mit der Verbesserung der Lage in Deutschland, in Europa, auf der Nordhalbkugel ist es ja nicht getan. Anders als es bei Jesaja gemeint war, hat mich das Bild von der Hecke und der Mauer unwillkürlich an die Versuche erinnert, Hecken und Mauern zu errichten, um unseren Weinberg, unser Land, vor der Infektion zu schützen. Vielleicht können Zäune und Absperrungen zeitweise und lokal begrenzt hilfreich sein. Die Kanzel ist gewiss nicht der Ort, den Gesundheitspolitikern und den Innenpolitikern gute Ratschläge zu erteilen. Dazu sind gründliche Beratungen verschiedenster Fachleute nötig. Aber das wissen alle, dass wir unser Land auf Dauer nicht virusfrei halten können, wenn der Schutz nicht alle Völker und Regionen umfasst, sondern viele eher ausschließt. Es ist eine offene Frage, eine Frage auf Leben und Tod, und damit eine Frage der Gerechtigkeit, wann und wie Impfungen auch für die armen Länder dieser Welt zur Verfügung stehen. Dabei geht es gar nicht so sehr um Barmherzigkeit und Hilfsbereitschaft (um die natürlich auch). Nein, die Seuchenfachleute warnen: Ohne weltweite massive Hilfe helfen uns die Hecken und Zäune um unsere Parzelle nicht mehr lang. Dann gibt es bald wieder genügend Wege für eine erneute Ansteckung mit dem so veränderlichen Virus; Ansteckungen, die unsere scheinbare Sicherheit erschüttern.
Doch wann und wie kann der globale Süden an den Impfstoffen teilhaben? Die Vereinten Nationen und die Weltgesundheitsorganisation haben noch kein befriedigendes Ergebnis für eine weltweit koordinierte Bekämpfung der Pandemie erzielt. Unser evangelisches Werk „Brot für die Welt“ wie die katholischen Organisationen Misereor und Adveniat kämpfen jetzt nach Kräften um Mittel für ihre Partner in Übersee. Sie brauchen Hilfe bei den dringendsten Maßnahmen gegen die Pest, die im Finstern schleicht, und die Seuche, die am Mittag Verderben bringt. Ihr Erfolg ist noch nicht ausgemacht. Es bedarf noch ungeheurer Anstrengungen.
Wir bitten Gott, dass er in der großen Politik wie im kleinen Rahmen vor Ort Herzen öffnet und Verstand schenkt, so dass sein Friede unsere Herzen und Sinne vor Resignation und Kleinmut bewahrt, um aller seiner Kinder willen. Amen