Predigt über Jesaja 54,7-10

  • 19.03.2023 , 4. Sonntag der Passionszeit - Lätare
  • The Reverend Dr. Robert Moore

Predigt zum Sonntag Lätare Vierter Sonntag der Passionszeit

19. März 2023

The Reverend Dr. Robert Moore Pregdigttext: Jesaja 54,7-10

Die Predigttext für den heutigen Sonntag, Lätare, steht im Prophetenbuch des Jesaja iim 54. Kapitel:

7 Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. 8 Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der HERR, dein Erlöser. 9 Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will. 10 Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.

 

Liebe Gemeinde,

Meine Mutter saß im Sessel allein im Wohnzimmer des Hauses, in dem ich aufgewachsen bin. Sie fühlte sich nicht nur sehr einsam, sie spürte in sich eine tiefe Gottverlassenheit – und das, obwohl einige meiner Geschwister in ihrer Nähe waren. Sie sah aus, als ob sie auf jemanden oder etwas wartete. Es waren gerade drei Tage vergangen, seit ihr Sohn, mein Bruder Gordon gestorben war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie noch nichts von ihren Geschwistern gehört.

Mein Vater war im Esszimmer nebenan. Er sprach mit dem Ortspfarrer, der zu meiner Mutter und meinem Vater gekommen war, um sie zu trösten. Bis zu diesem Zeitpunkt haben meine Eltern immer gesagt, Gordon sei einem Herzversagen erlegen, was wahrscheinlich stimmte. Doch Gordon litt an AIDS, und deshalb war sein Herz erschöpft.

Vor dreißig Jahren war AIDS noch hoch stigmatisiert. Meine Eltern wagten das Wort nicht auszusprechen. Sie konnten die Krankheit ihres Sohnes nicht benennen, da sie fürchteten, dass dann die ganze Wahrheit vor den Nachbarn, Gemeindemitgliedern und Freunden ans Licht kommen würde: Gordon war homosexuell. Doch ich habe sie gebeten, die Wahrheit zu sagen, so schwer es war. Ich versicherte ihnen: Ihr werdet die Erfahrung machen, dass es immer leichter wird, die Wahrheit nicht zu verleugnen. Denn wer die Wahrheit sagt, bringt damit gleichzeitig die Gerüchteküche zum Stillstand.

Vom Wohnzimmer aus konnten wir hören, wie der Pfarrer meinen Vater fragte, woran Gordon gestorben sei. So schwer es ihm fiel - mein Vater hat sich durchgerungen und antwortete: „An AIDS“. Der Pfarrer reagierte mit Sympathie und versuchte meinen Vater, zu trösten.

Zu gleichen Zeit kam meine Tante, die Schwester meiner Mutter, an. Als meine Tante das Zimmer meiner Mutter betrat, platzte es aus meiner Mutter heraus, „Schämt ihr euch für uns?“ Da wurde eine zweite Wahrheit offenbar. Meine Mutter, die ihren Sohn sehr geliebt hat, war aus Furcht vor ihren Geschwistern und Freunden in der Scham gefangen. Sie fühlte sich von der Familie, von Freunden und von Gott getrennt, ja verlassen.

Genau diese Verlassenheit, liebe Gemeinde, empfanden die Israeliten, die nun schon seit Jahrzehnten in der Fremde Babyloniens lebten. Sie hatten alles verloren: ihre Heimat, ihren Besitz, ihre Zuversicht. Diese Menschen spricht Jesaja an. Er verkündigt ihnen: Der Gott, dessen Gegenwart sie in der Fremde schmerzlich vermissen, der Gott, der vor Jahrzehnten zuließ, dass Jerusalem zerstört und die Bewohner nach Babylon, dem heutigen Irak, verschleppt wurden, dieser Gott wird kommen und sie wieder nach Jerusalem bringen. Gott war zornig nur eine Weile, aber jetzt will Gott erscheinen, und sein Volk erkennen und seine Treue zeigen.

Um die Beziehung zwischen Gott und den Menschen zu demonstrieren, hatte Jesaja das Bildnis der menschlichen Beziehungen benutzt. Wir leben in Beziehungen und wir sind abhängig von wichtigen Beziehungen: in der Ehe, Familie, im Berufsleben, in der Nachbarschaft, im gesellschaftlichen Bereich. Entscheidend ist in diesen Beziehungen, dass wir einander vertrauen, dass wir uns aufeinander verlassen können. Wenn dieses Vertrauen schwindet, dann fühlen wir uns sehr schnell verlassen und einsam. Denn es fehlt uns das Gegenüber, das Angesicht des anderen, seine Zuwendung. Ohne eine solche Zuwendung fühlen wir uns wie tot.

In den Psalmen ist das Antlitz Gottes das Symbol für die Gegenwart Gottes. Wir Menschen vergessen leicht, wie wohltuend es ist, dass Gott auf uns schaut. Darum ruft der Psalmbeter aus:

29 Verbirgst du dein Angesicht, so erschrecken sie; nimmst du weg ihren Odem, so vergehen sie und werden wieder Staub. 30 Du sendest aus deinen Odem, so werden sie geschaffen, und du machst neu das Antlitz der Erde. (Psalm 104,29-30)

Jesaja schildert, was geschieht, wenn die Beziehung zwischen Gott und den Menschen gestört und verletzt ist. Gott hatte einst einen Bund mit dem Volk Israels geschlossen. Die Bedingungen des Bundes waren in den Zehn Geboten niedergelegt. Die Gebote haben den Sinn, dass das Vertrauen untereinander aufgebaut werden kann. Die Gebote zeigen aber auch auf, wie gebrochenes Vertrauen geheilt werden kann.

Nun haben die Israeliten gegen das Gesetz Gottes verstoßen, und damit das Vertrauen auf Gott aufgegeben. In diesem Sinn hat Jesaja die Eroberung Judäas und Jerusalems durch die Babylonier sowie die Deportation eines großen Teils der Bevölkerung nach Babylon als Urteil Gottes gegen die Israeliten und die Abwesenheit Gottes als seine Antwort auf die gebrochene Beziehung gedeutet. Aber diese Abwesenheit ist nur ein Augenblick in der Geschichte Judas, Israels. Gott erinnert sich an sein Versprechen und beteuert seine Barmherzigkeit:

7 Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. 8 Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der HERR, dein Erlöser.

Wir haben im Bibelkreis am Dienstag über diesen Text diskutiert. Ein Teilnehmer berichtete davon, was sich in seiner Familie während eines Urlaubs ereignet hatte. Da haben sich seine Kinder so schlecht benommen, dass er sich sehr verärgert zurückgezogen hat. Darüber hinaus kündigte er an, 30 Minuten nicht mehr mit ihnen sprechen zu wollen. Diese 30 Minuten wurden für seine Kinder zu einer kaum zu ertragenden Zeitspanne. Danach sagten die Kinder, dass sie nie wieder auf diese Weise bestraft werden wollten. Es war nur eine kurze Zeit, aber für sie fühlte es sich an wie eine Ewigkeit, in welcher sie wie tot waren. Später bedauerte er, dass er in der Rolle als Vater eine solche Strafe verhängt hat. Seinen Kindern versprach er, dass er das nie mehr machen werde. Nie! 

So hat Jesaja auch gesprochen, als er den Exilanten im Auftrag Gottes ankündigte:

Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will. (Jesaja 54,9)

Die Geschichte der Sintflut und Noah kannten die Exilanten, und sie haben sich sicherlich an den Regenbogen erinnert. Der soll ein Zeichen des Friedens sein und eine Erinnerung an das Versprechen Gottes, dass hinfort keine Sintflut mehr auf die Erde komme.

Auch wussten sie um die Taube, die Noah entsandt hatte, um zu erfahren, ob nach der Flut auf der Erden Leben festzustellen war. Zunächst kehrte die Taube ohne irgendein Zeichen des Lebens zurück. Aber beim zweiten Versuch, hatte sie einen Ölzweig in ihrem Schnabel. So wurde die Taube mit dem Zweig im Schnabel zu einem Zeichen des Friedens auf Erden. Die Sintflut ist vorbei. Gott verspricht der ganzen Geschöpfe, nie mehr eine solche Strafe zu verhängen.

Dieses Zeichen spielt für uns Christen eine besondere Rolle, vor allem auch in der Passionszeit. So singt die Bassstimme in der Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach nach dem Tod Jesu am Kreuz und vor dem Begräbnis des Leichnams Jesu:

Am Abend da es kühle war,

ward Adams Fallen offenbar,

am Abend drücket ihn der Heiland nieder,

am Abend kam die Taube wieder

und trug ein Ölblatt in dem Munde,

o schöne Zeit, o Abendstunde!

Der Friedensschluß ist nun mit Gott gemacht;

denn Jesus hat sein Kreuz vollbracht,

sein Leichnam kömmt zur Ruh,

ach, liebe Seele, bitte du,

geh, lasse dir den toten Jesum schenken,

o heilsames, o köstlichs Angedenken!

Liebe Gemeinde, der Sommer nach dem Tod meines Bruders war traurig und schwer zu erleben. Kathy und ich kehrten zwei Monate später zurück zu den Eltern, die tiefbetrübt waren. Als wir bei ihnen zuhause waren, fragte mein Vater, ob wir zum Friedhof gehen möchten, wo Gordon seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Der Grabstein war errichtet worden. Natürlich nickten wir zustimmend.

Als wir an die Gräber der Großeltern, Onkeln und Tanten passiert hatten, kamen wir zum Grab meines Bruders. Auf dem Grabstein stand geschrieben: Gordon Neil Moore, geliebter Sohn.

Da überkam Kathy und mich so ein Gefühl der Erleichterung: Gordon hat bei Gott seine Ruhe gefunden – und wir auch.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, der bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.