Predigt über Jesaja 58,1ff.

  • 14.02.2021 , Sonntag vor der Passionszeit - Estomihi
  • Prof. Dr. Andreas Schüle

Liebe Gemeinde,

stellen Sie sich einmal Folgendes vor: Sie leben in einer dieser Phasen Ihres Lebens, wo alles passt. Sie leben in einer glücklichen Beziehung. Die Arbeit macht Ihnen Spaß. Sie haben Hobbies und einen Freundeskreis, die das soziale Leben abrunden. Klar, perfekt ist ein Leben nie, aber sie sind so nah dran wie man eben realerweise sein kann. Vielleicht sind Sie auch ein gläubiger Mensch, der in die Kirche geht (so wie heute Morgen) und sich sozial engagiert.
Stellen Sie sich weiter vor, da käme jemand auf Sie zu, nähme Sie vertrauensvoll zur Seite und würde Ihnen sagen: Das ist ja ein nettes Leben, das Du da führst. Schön, dass es Dir gut geht. Aber ist Dir eigentlich klar, dass Du Dich da in einer Wohlfühlzone eingekuschelt hast und Dich in Wirklichkeit doch nur dafür interessiert, wie es Dir ergeht und den Menschen, die Du gern um Dich herumhast. Im Grunde bist Du doch eigentlich ein ziemlicher Egomane. Und der liebe Gott passt da auch noch irgendwie hinein, solange er Dich nicht stört in Deiner beschaulichen Oase. Aber im Grunde ist Dein Gott nur ein Abziehbildchen der gut-bürgerlichen Kultur, in der Du lebst. Mit Gott, also wirklich und wahrhaftig mit Gott, hat das wenig zu tun.
Wie würden Sie reagieren? Zunächst mindestens irritiert und befremdet: ‚Wie kommt eigentlich jemand dazu, so etwas zu sagen?‘ Dann wahrscheinlich zunehmend empört: ‚So ein Unsinn!‘ Und schließlich ablehnend: ‚Nein, von irgendeinem Spinner muss ich mir so etwas nicht anhören. Und gerecht wird mir das ohnehin nicht.‘ Vielleicht gäbe es irgendwo ganz weit hinten im Kopf einen Hauch von Selbstzweifel. Was, wenn da doch was dran ist?  
Nun, ungefähr so würde eine Begegnung mit einem Propheten des Alten Testaments ablaufen, wenn sie heute noch durch die Straßen der Stadt zögen. Diese Propheten gehören zu den wichtigsten Gestalten der Bibel, weil sie mutig – oder verrückt – genug waren, dem Gedanken Raum zu geben, dass unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit meist der Richtung unserer eigenen Nasenspitze folgen; und dass der Gott, auf den wir uns einzulassen bereit sind, eben auch nur der Gott ist, den wir brauchen und den wir gerne haben wollen.

Eine solche Prophetenbegegnung geschieht auch in unserem Predigttext aus dem Jesajabuch. Da spricht ein Prophet die Worte Gottes an das Volk Israel. Und es sind keine Worte, die man auf Anhieb gerne hört. Ich lese aus dem 58. Kapitel die ersten neun Verse:

Rufe laut, halte nichts zurück! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem Hause Jakob seine Sünden! 2 Sie suchen mich täglich und wollen meine Wege wissen, so wie ein Volk, das Gerechtigkeit getan und das Recht seines Gottes nicht verlassen hat. Sie fordern von mir Recht, sie verlangen nach Gottesnähe. 3 „Warum fasten wir und du siehst es nicht an?“ (fragen sie). „Warum kasteien wir unseren Leib und du willst's nicht wissen?“ Siehe, an dem Tag, an dem ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter. 4 Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll. 5 Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit oder seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet? Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem der HERR Wohlgefallen hat? 6 Ist nicht das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! 7 Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! 8 Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. 9 Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.
Ich frage mich, was das wohl für Menschen waren, die hier angeredet werden? Wenn man unserem Propheten glauben darf, waren das Menschen, die schon von sich dachten, rechtschaffene und fromme Menschen zu sein. So wie wir vielleicht auch. Aber es sind auch Menschen, die kritisch genug sind, um zu verstehen, dass irgendetwas doch nicht stimmt. ‚Warum siehst Du uns nicht an?‘ fragen sie, ‚Warum interessiert dich nicht, was wir für dich tun, Gott?‘ Irgendetwas in ihrem Leben sagt ihnen, dass das kein Leben ist, für das Gott sich interessiert.
Und dann kommt unser Prophet und schlägt genau in diese Kerbe: Ja, so wie ihr seid und so wie ihr lebt, interessiert sich Gott wirklich nicht für euch. Warum sollte er auch? Ihr habt doch eigentlich schon beschlossen, wer und was ihr sein wollt. Ihr denkt und handelt und betet so, wie ihr das eben für richtig haltet. Gott hat da nicht viel zu sagen. Warum soll er dann auf euch hören?
Das ist ziemlich entwaffnend. Einer der einflussreichsten Theologen des 20. Jahrhunderts, Karl Barth, hat einmal sehr treffend festgehalten, dass das, was Christen für ihren Glauben halten, manchmal einfach nur „fromme Unverschämtheiten“ sind.
Unser Prophet hier hat eine ganz andere Vorstellung davon, wie ein von Glauben getragenes, gerechtes Leben beginnt. Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn!“
Das klingt ziemlich simpel. Aber wenn man genau hinschaut, wird hier etwas sehr Radikales gesagt. Wer hungrig ist, braucht etwas zu essen. Und dafür bist Du zuständig. Punkt. Wer nichts anzuziehen hat, braucht Kleidung. Die sollst du ihm geben. Punkt. Und wenn wir es ein bisschen mehr in unsere eigene Welt hineinziehen. Wer heute einsam und abgeschnitten ist, braucht jemanden, der sich kümmert. Wer nicht gut durch diese schweren Zeiten kommt, braucht einen Arm, er ihn auffängt. Tun, was Not tut. So beginnt die Gerechtigkeit des Glaubens. Da braucht es keine religiöse Rückversicherung, keine große Inszenierung. Es geht auch nicht darum, dass wir hinterher mit einem guten Gefühl dastehen. Ton, was Not tut – das ist Gottesdienst.
Unser Prophet attestiert seinen Adressaten, die sich sehr um ihre Religion bemühen, etwas, das wir heute als ‚bipolare Störung‘ oder gar ‚Schizophrenie‘ bezeichnen würden. Für sich selber und für die Menschen, die man liebt und für die man sich verantwortlich fühlt, tut man alles, da ist kein Weg zu weit und keine Mauer zu hoch. Aber über die eigene kleine Wohlfühlwelt hinaus, ist man dann nicht mehr zuständig. Da gelten auf einmal ganz andere Vorstellungen von Gerechtigkeit. Da haut man dann schon auch mal mit der Faust drauf, wie unser Prophet es formuliert. Und man sieht einfach nicht hin.
Natürlich meint man das nicht so, aber es geschieht eben doch. Diese Woche sprach ich über Video mit einem befreundeten Kollegen aus Südafrika und klagte ihm so ein bisschen unser Leid: dass es mit den Impfungen nicht richtig vorangeht, die Regierung offenbar auch keine so ganz klare Linie mehr hat, und nun so langsam Leute darüber streiten, ob Geimpfte denn schneller wieder ins normale Leben zurückdürfen als andere. Und Dergleichen mehr. Daraufhin meinte er: ‚Weißt du, bei uns ist das so: Unsere Regierung hat nicht das Geld um genügend Impfstoff zu kaufen. Das reicht gerade mal für das Krankenhauspersonal. Und jetzt stellt sich heraus, dass AstraZeneca nicht gegen die südafrikanische Mutation von Covid 19 wirkt. Eigentlich können wir die Imfpdosen, die wir haben, auch gleich wegschütten.‘
Das war schon ein bisschen beschämend und ein Fingerzeig, dass der Prophet Jesaja mit uns vermutlich nicht anders umspringen würde als mit den Menschen seiner Zeit und auch uns diese bipolare Störung attestieren würde. Auch wenn wir doch eigentlich mit den besten Absichten unterwegs ist. Auch als Christinnen und Christen, egal ob auf oder unter der Kanzel.
Das bedeutet nicht, dass man immer etwas tun kann oder ein Rezept parat hat. Nicht immer hat man das Brot, das andere brauchen, oder die Kleidung, die andere wärmt. Und es gibt Grenzen der eigenen Energie. Aber das sollte einen demütig und eben nicht indifferent oder gar kalt machen.
Liebe Gemeinde, in unserem Predigttext ist vom Fasten die Rede als etwas, das die Menschen von damals als Teil ihres religiösen Lebens taten. Fasten und alles, was damit zu tun hat, ist ein Gestus der Selbstzurücknahme und des Verzichts. Das kann eine Buße sein angesichts eigener Schuld. Es kann aber auch eine Übung sein, um Raum dafür zu schaffen, dass mein Leben sich ändern, dass eingefahrene Gewohnheiten gebrochen werden. Verzichten, Fasten, das macht eine Tür auf, sodass neues Licht in ein eingespurtes Leben hineinfallen kann.
Am Mittwoch beginnt unsere diesjährige Fastenzeit. In den Kirchen wird sie unter der Überschrift „Sieben Wochen ohne“ begangen. Sieben Wochen, um einmal auf irgendeinen Überfluss oder schädliche Gewohnheiten zu verzichten. Und ja, das ist schon einmal eine Gelegenheit, die eigene Disziplin und die eigenen Grenzen zu testen. Ich habe mir dieses Jahr vorgenommen (das klingt jetzt trivial, ich weiß), einmal komplett auf Süßigkeiten zu verzichten. Es wird liebe Menschen in meiner Umgebung geben, die es zur Kunstform entwickeln werden, mir das so schwer wie möglich machen werden … . Da wird dann zufällig Schokolade auf meinem Schreibtisch oder im Kühlschrank liegen … . Aber, wie auch immer. Das hat etwas mit mir zu tun. Davon wird die Welt nicht heiler, nicht gesünder. Das ist gewiss kein Fasten, von dem unser Prophet sagen würde, dass es Gott irgendwie interessiert.
Etwas weniger trivial wird es, wenn man sich bewusst macht, dass wir alle nun schon seit längerem in einer großen Fastenzeit leben – in einer Zeit des Verzichts und der, wenngleich unfreiwilligen, Einschränkungen. So frustrierend das ist, vielleicht ist es eine Zeit, in der wir reifen werden. Es ist eine Zeit, in der wir zu begreifen beginnen, wie wichtig menschliche Nähe und Solidarität sind – auch, aber eben nicht nur, im engsten Kreis um uns herum. Es ist eine Zeit sich daran zu erinnern, dass es schön ist, wenn man auf andere zugehen kann, statt ihnen ausweichen zu müssen. Es verdirbt den Charakter, wenn man das zu lange tut. Es ist eine Zeit, in der man lernt, dass Aufmerksamkeit und Güte, die man gibt und empfängt, keine Selbstverständlichkeit ist. Es ist eine Zeit, in der man den Wert eines Menschenlebens zu begreifen beginnt, weil wir sehen, wie verwundbar jedes Leben ist. Ein Virus hält die Welt in Schach. Wer hätte gedacht, dass noch möglich wäre. Aber weil das so ist, beginnen die Worte unseres Propheten nicht mehr nur biblisch zu klingen, sondern sich in unsere Welt hinein zu übersetzen:
Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn!“
Ich habe die Hoffnung, dass uns die Erfahrung dieser langen Fastenzeit sensibler, solidarischer und barmherziger machen wird, so dass wir auch diese Worte des Propheten für uns in Anspruch nehmen dürfen:
Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. 9 Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.