Predigt über Jesaja 58,7-12

  • 01.10.2017 , 16. Sonntag nach Trinitatis
  • Pfarrerin Taddiken

Predigt über Jesaja 58, 7-12, Erntedankfest 2017, 1. Oktober 2017

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,
was ist jetzt eigentlich unsere Aufgabe als Christen, als Kirche, was haben wir zu sagen und zu vertreten, was haben wir zu tun oder zu lassen? In vielen Gruppen und Kreisen, im Kirchenvorstand und in vielen Einzelgesprächen war das ein Thema bei uns in der Gemeinde. Jetzt, wo eine Partei in den Deutschen Bundestag gewählt worden ist, deren führende Vertreter seit langem keinen Zweifel an dem von ihnen gepflegten rassistisch-nationalistischen Gedankengut gelassen haben. Im Kirchenvorstand waren wir uns darüber einig: Zu fordern, Menschen nach Anatolien oder sonst wohin zu „entsorgen" ist keine mögliche Haltung, die man aus dem christlichen Glauben heraus ableiten könnte. Wer der Meinung ist, politische Korrektheit und Fairness gehörten auf den Müllhaufen der Geschichte - bei dem ist die Gefahr groß, auch Menschen dort hinzuwünschen. Die lebensbejahende Kraft des Evangeliums zeigt sich in gänzlich anderer Weise. Und das - darüber waren wir uns einig bei allen unterschiedlichen Ansichten, wie das zu tun ist: Das ist jetzt klar zu sagen, stark zu machen und gegen alle Anwürfe durchzuhalten: Im Evangelium wendet sich Gott allen Menschen in gleicher Weise zu und verbindet uns im Volk Gottes zu einer Gemeinschaft, in der die Unterschiede durch Herkunft, Geschlecht, Milieu - und was auch immer - aufgehoben sind. Und dieser Gedanke ist nicht exklusiv gedacht - als gelte er nur für Christenmenschen. Das gilt es festzuhalten in jedem Gespräch, in jeder Diskussion und vor allem es unseren Kindern und Jugendlichen zu erklären. Wir können viel über politische Bildung sprechen und fordern, wenn wir das nicht selbst erst einmal tun als Christenmenschen. Und das Gleiche gilt es auch zu tun im Hinblick auf Verdruss aller Art von Erwachsenen, vor allem dem Verdruss über das eigene Leben, den manche offenbar sehr stark spüren und sich damit allein gelassen fühlen. Ja, er ist ernst zu nehmen von uns allen - wie aber eben auch die Folgen, die solch ein Verdruss haben kann für unser Zusammenleben. Ja, was ist jetzt dran?
Insofern, wenn man es so sagen kann, kommen die Fragen, die beim heutigen Erntedankfest eine Rolle spielen, gerade recht. Denn es sind ja die Fragen nach dem, was unser Leben wachsen lässt - und auch unser Miteinander. Was ihm gut tut - und was im Sinne unseres Schöpfers ist, der uns in allem hält und trägt. Wovon leben wir wirklich? Wenn wir unsere Kirchen mit den Erntegaben schmücken, dann führen sie uns ganz elementar vor Augen: Wir können zwar einiges dafür tun, dass etwas wachsen kann. Aber dass es tatsächlich geschieht, steht nicht in unserer Hand, wie es das wunderbare Erntedanklied von Matthias Claudius aktuell wie eh und je ausspricht: „Es geht durch unsere Hände, kommt aber her von Gott."

Damit aber ist sofort die Frage verbunden: Was ist eigentlich die grundlegende Haltung in meinem Leben? Die der Dankbarkeit oder herrscht die Unzufriedenheit vor? Was kann uns die Enge unseres Verdrusses nehmen und uns wieder in die Weite führen? Was hilft uns, die Angst um unser eigenes Leben und unsere eigene Bedeutsamkeit abzubauen? Zum Erntedankfest gehört ein Text aus dem Jesajabuch, der Menschen seit Jahrtausenden Hilfe zum Nachdenken darüber anbietet. Aber er ist auch mehr als das: Er ist eine Verheißung, die über alle Rat- und Hilflosigkeit über das Gegenwärtige hinausgeht. Er ist eine großartige Zusammenfassung der lebensbejahenden Kraft des Evangeliums, die man als konkrete Lebens-und Glaubenshilfe für sich selbst verstehen kann:

Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: »Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne«.

„Brich dem Hungrigen dein Brot.", beginnt Jesaja. Nun geht es natürlich ganz schnell, dass wir angesichts solcher Mahnungen sofort beim Hunger der ganzen Welt sind. Bei Zahlen und Fakten, die beängstigend und zu groß für uns sind. Ja, es stimmt: Wir werden nicht allen helfen können. Und nur im Verbund mit vielen anderen willigen Ländern und Nationen wird es gelingen können, Fluchtursachen wirklich politisch angehen zu können und sich nicht mehr nur mit der Frage zu beschäftigen: Wir verhindern wir, dass wir von den weltweiten Fluchtbewegungen möglichst nicht getroffen bzw. in unserem Wohlstand gestört werden? Genau davon aber will der Predigttext uns wegführen, von diesem Gefühl der Hilflosigkeit, das sich zum Schutz unserer selbst sehr schnell mit der Stimme in uns meldet: Du bist nicht zuständig. Hier bei Jesaja aber heißt es: Brich dem Hungrigen dein Brot. Einem. Es geht eben nicht um die ganze Welt, sondern um eine Haltung. Jesaja bleibt im Bereich des Möglichen, des Zumutbaren, vor dem niemand sich verstecken kann. Und er sagt: Brich es ihm und nicht mit ihm. Sind das grammatikalische Spitzfindigkeiten? Nein! Ein „mit" steht dort nicht, um dieser Aufforderung von vornherein jeglichen Hochmut zu nehmen. Das Brotbrechen soll nicht von oben herab geschehen als Abgeben von Resten, die mir geblieben sind. Wie gefährlich das sein kann, das lässt sich an den Lebensmittelflüssen von Nord nach Süd und den dadurch erschütterten Märkten in Afrika und anderswo gut studieren - und nicht zuletzt sind ja auch das Fluchtgründe für Menschen dort. Wer anderen sein Brot bricht und nicht nur mit ihm, macht ernst mit der Erkenntnis: Der andere hat die gleichen Bedürfnisse wie ich, denselben Hunger und Durst, er leidet denselben Schmerz, er hat die gleiche Angst und lebt zuweilen in derselben Dunkelheit.

Das zu erkennen, ist eine Form von Hingabe, die uns nicht überfordert. Sie fordert uns nicht unendlich, sondern wesentlich. Es gehört zur Erkenntnis des anderen im Lichte des Evangeliums, den woran auch immer Hungrigen unser Herz finden zu lassen. Am Kopf allein wird es immer wieder scheitern, nicht zuletzt das war es, was Jesus uns mit der Geschichte vom barmherzigen Samariter nahebringen wollte. Das Herz entscheidet. Das Herz, das in biblischer Zeit als Zentrum unserer Person gilt, wo wir denken und wollen, wo wir lassen, lieben und hassen. Und so heißt es folglich bei Jesaja: Brich ihm dein Brot. Gib, was Du hast und was Du kannst. Du hast Brot, Du hast Geist, Grips, Verstand, Ideen, Lebenserfahrung. Wo wir uns mit unseren Fähigkeiten selbst ernstnehmen, sind wir mehr als die, die nur wissen, dass sie nichts wissen und nichts vermögen. Wie sehr brauchen wir dieses Wissen und dieses Zutrauen zu uns in einer so komplexen und komplizierten Welt. Wie sehr brauchen wir es um nicht zu resignieren und auf der Suche nach Wegen zu Gerechtigkeit und Auskommen für alle Menschen hartnäckig und selbstbewusst zu bleiben - und es eben auf gleicher Augenhöhe mit ihnen zu tun - oder vielleicht besser gesagt: auf gleicher Herzenshöhe.

Jesaja verknüpft unsere Bereitschaft, uns auf dieser Ebene ansprechen zu lassen, dabei mit einer zunächst überraschenden Verheißung: Tue das „und deine Heilung wird schnell voranschreiten". Darum geht es ihm: um die Heilung und Wiederherstellung dieses gesunden Bewusstseins seiner selbst, das fähig ist, das Selbst des Gegenübers als gleichberechtigt und als Adressaten des eigenen Handelns zu verstehen - und sich nicht ständig krampfhaft nur um sich selbst zu sorgen.

Der Psychologe Wolfgang Schmidbauer beschreibt das Lebensgefühl unserer Gesellschaft so, dass es heute nicht mehr die Sucht nach mehr ist, die unser Seelenleben bestimmt, sondern die Angst, weniger zu bekommen. Und das Leben in der Wohlstandsgesellschaft führt einem zudem täglich vor Augen, was man alles verpassen kann und wer darauf vielleicht alles noch Anspruch erheben könnte, den wir als möglichen Konkurrenten fürchten müssen. Ja, es tut nicht allen gut, wenn sie ihre Maßstäbe ständig immer wieder neu finden müssen. Es verunsichert einen, sich ständig flexibel zeigen zu müssen und doch zugleich nicht mehr auf feste Regeln bauen zu können. Und eben das hat durchaus Einfluss auf unsere Art und Weise miteinander zu leben. Denn der andere gerät ja dabei ins Spannungsfeld von Konkurrent und Mitmensch: Kann ich um seinetwillen auf etwas verzichten, ohne selbst dadurch zu kurz zu kommen? Kann ich das tun, ohne das Risiko einzugehen, mich total aufgeben zu müssen? Wo sind da die Grenzen?

Vermutlich stimmt es, was manche behaupten: Nirgends ist die Angst so groß, mit leeren Händen dastehen zu müssen, wie in der Überflussgesellschaft. Und es sind nicht die Ärmsten, bei denen das am stärksten ausgeprägt ist. Wenn es so ist, dann ist Jesaja recht zu geben: Wir haben da Heilung nötig. Heilung unserer selbst und unserer Beziehungen. Deshalb seine Aufforderung, die Hingabe der eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten zu wagen und zu erfahren, was dadurch für einen selbst erst möglich wird: zu erfahren, was ich wirklich brauche und was nicht. Und wie sehr vielleicht schon reicht, was ich habe. Und was ich von einem anderen bekommen kann, wenn ich statt mit dem Finger auf ihn zu zeigen ihm meine Hand reiche und so auch er mir auf Augen- und Herzenshöhe begegnen kann.

Der französische Schriftsteller Andre Gide hat mal gesagt: „Nur was du hingibst, wird sich entwickeln, was du dir zu sichern versuchst, verkümmert." Für mich ist das vor dem Hintergrund des Gesagten ein Satz mit großer Heilkraft. Und ich erkenne da auch Jesaja in seinem Anliegen wieder, der Menschen im Blick hatte, die genau wie wir heute auf der Suche nach einem gesundem Selbstbewusstsein waren, die wie wir das Bedürfnis hatten nach einem stabilen Stand im Leben: die Israeliten, die aus der Verbannung des babylonischen Exils zurückkehrten und vor dem Wiederaufbau der Stadt Jerusalems, des Tempels und ihrer gesellschaftlichen Beziehungen standen - und damit vor der Frage, vor der wir gerade im Moment auch in besonderer Weise stehen: Wie wollen wir denn miteinander leben? Und: Wie können wir neu miteinander anfangen - zum Segen?
Jesaja beantwortet diese Fragen mit diesen wunderbaren Ermutigungen und großartigen Bildern: Richtet Euch auf die Menschen aus, lasst sie euer Herz finden. Habt den Mut, euch mit euren Fähigkeiten in den Dienst des anderen zu stellen - und ihr werdet nicht verlieren, sondern gewinnen. Eure Heilung wird schnell voranschreiten. Das ist nach Jesaja ein natürlicher Prozess: Es wird so kommen, wenn wir uns auf diese Form der Hingabe einlassen: wo wir uns mit uns mit unserer Kreativität und Phantasie fordern lassen und aufhören, vor lauter Angst, etwas Falsches oder Unzureichendes zu tun uns überhaupt nicht mehr zu bewegen oder etwas auszusprechen - um dann, in uns selbst verschlossen, zum Zyniker zu werden. Was wir an Begabungen haben, soll sprudeln wie eine Quelle, sonst wird bei uns alles vertrocknen.

Dazu aber setzt Gott uns selbst in Stand: „Der Herr wird dich immerdar führen ...und es soll durch Dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat und du sollst heißen, Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne." Was für eine Verheißung: aufbauen zu können, augenscheinlich nicht mehr möglich ist. Doch, sagt Gott, verlasst Euch drauf, es geht und ihr seid dabei. Dabei wird nicht von uns erwartet, die perfekte Welt zu schaffen. Es geht um das Zumauern von Lücken und darum, die Wege auszubessern. Wir sind es nicht und müssen es nicht sein, die Allesmacher und Alleskönner. Aber wir sind eben auch keine Ohnmächtigen, sondern mit Gaben ausgestattet und fähig, das Gedeihen in diesem einen, großen, vielfältigen Garten Welt zu gestalten.

Was für mich dabei das Tröstlichste in diesen Worten ist: Jesaja spricht Menschen an, die sich selbstzerstörerisch verhalten haben. Die Zerstörung Jerusalems und das Exil sind für ihn unbestritten Folgen menschlichen Tuns, Folgen von Hochmut und Gier und von Nichtachtung von Strukturen, die nötig sind um die Gerechtigkeit unter den Menschen aufrecht zu erhalten. Wenn es für diese möglich sein soll, umzukehren und alles neu wiederaufzubauen, dann ist es auch bei uns möglich. Was durch uns zu Bruch gegangen ist, können wir auch wieder zusammenfügen. Die Ruinen menschlicher Beziehungen können wieder bewohnbar werden. Wer das mal am eigenen Leibe erlebt hat, den verändert diese Erfahrung. Der weiß, dass sehr viel mehr möglich ist und dass man sich auch in der Situation der Ratlosigkeit, wie man Menschen wieder oder überhaupt erreichen kann, christliche Grundwerte als innere Haltung anzunehmen. Oder zumindest: Zu einer Lebenshaltung zu finden, die einen tatsächlich immun dagegen werden lässt, menschen- und evangeliumsfeindlichen Hass und Hetze bei der Verbalisierung von Unmut und Protest gegen was auch immer irgendwie mit in Kauf zu nehmen.

Jesaja sagt: Mit Gottes Hilfe können wir die werden, die wir von Gott her sein können. Das ist eine Form von Selbstverwirklichung, die unbedingt anzustreben ist. Auch das ist Erntedank: Dank für die Ernte des Lebens, Dank für geheiltes Leben, für das, was sich an Trümmern und Fragmenten wieder zusammenfügt. Der Weg dahin ist langwierig und mühsam. Er erfordert differenzierte Analysefähigkeit wie auch eine ganze Menge an Frustrationstoleranz, dass es nicht schneller geht. Aber es ist auch nach Jesaja ein Prozess. Er spricht vom hervorbrechenden Licht der Morgenröte, nicht von Helligkeit auf Schlag. Er spricht vom Voranschreiten der Heilung, nicht von Spontanheilung. Und er spricht von einem Weg, der nur beginnt, wenn einer anfängt ihn zu gehen - und der nur über den einen zu den Vielen führen kann. Er beginnt auf Augen- und Herzenshöhe mit jedem Menschen, aber nicht mit jeder Ansicht. Da gilt es hinzufinden und dranzubleiben - auf der Basis der lebensschaffenden Kraft des Evangeliums. Klar und deutlich, klug und besonnen wie zugleich bereit, dem nötigen Streit nicht aus dem Weg zu gehen. Denn der steht auch an und will geführt werden, so jedenfalls verstehe ich die Aufforderung Jesajas: „Entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut." Gebe Gott uns die Kraft dazu - und die Gewissheit, dass er auf diesem Weg uns beisteht in dem, was Jesaja uns als Evangelium verkündet. Gottes Versprechen: „Siehe, hier bin ich."

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org