Predigt über Jesaja 61,1-3

  • 05.01.2020 , 2. Sonntag nach dem Christfest
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesu Christi.

Der Geist Gottes des HERRN ist auf mir, weil der HERR mich gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen; 2 zu verkündigen ein gnädiges Jahr des HERRN und einen Tag der Rache unsres Gottes, zu trösten alle Trauernden, 3 zu schaffen den Trauernden zu Zion, dass ihnen Schmuck statt Asche, Freudenöl statt Trauer, schöne Kleider statt eines betrübten Geistes gegeben werden, dass sie genannt werden »Bäume der Gerechtigkeit«, »Pflanzung des HERRN«, ihm zum Preise. 

Liebe Gemeinde,

so wie das Jahr 2020 begonnen hat, möchte ich mich am liebsten an einem Vers festklammern: „…zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn.“ Denn: Wir erleben eine Gesellschaft, in der viele nicht nur ungnädig miteinander umgehen, sondern brutal. Der erneute Gewaltexzess am Connewitzer Kreuz, angegriffene, verletzte Menschen, Provokationen, Beschuldigungen, Beleidigungen und die Frage, was kommt noch – wir werden ja den China-EU-Gipfel in Leipzig in diesem Jahr erleben – und allen Bewohnern und Tätigen in der Innenstadt klingen die Drohungen der gewaltbereiten Terrorfraktion schon in den Ohren, sich hier auszutoben. Die sich zuspitzende Situation im Iran und Irak, wo nicht nur Öl ins Feuer gegossen wird, sondern Dynamit auf’s Pulverfass geworfen wird. Die katastrophalen Brände in Australien, aus den normalen Buschfeuern sind durch die Erderwärmung verheerende Feuermassen apokalyptischen Ausmaßes geworden. Anderswo dagegen wie in Malaysia versinkt alles in Wassermassen. Das sind schon Tage an denen einem mulmig werden kann – vor allem wenn man darüber nachdenkt, was von all dem menschengemacht ist und menschenmöglich eigentlich auch in vielem die Lösung wäre. Ein gnädiges Jahr des Herrn – ja, das kann man sich nur wünschen – und so ist es sicher nicht falsch, in diesen Worten danach zu suchen. Um all das richtig einzuordnen, was passiert ist, um die Kräfte frei zu machen, damit umzugehen und klaren Kopfes die Dinge anzugehen, wenn der Nebel der Silvesternacht endgültig verraucht ist.

Dieser wunderbare Text des sog. „dritten Jesaja“ kann uns dabei sehr gut tun. Er tritt nach dem Ende des sog. Babylonischen Exils auf, in das die Israeliten nach dem Untergang Jerusalems verschleppt worden waren und sie sich gut 40 Jahre arrangiert hatten, in der Fremde im Zweistromland zu leben. Nun waren sie zurückgekehrt nach Jerusalem, aber die Euphorie der Freiheit war erst mal vorbei. Man fand Stadt und Tempel in Trümmern vor und die Gemütsverfassung der meisten Menschen sah ähnlich aus. So richtig wollte es nicht vorangehen, es dauerte, bis alle Strukturen wieder aufgebaut waren und auch funktionierten. Und natürlich waren da auch die, die kein Programm hatten, aber destruktiv alles zerredeten und verspotteten, was es an Versuchen gab. Auch die Babylonier spotteten über die offensichtliche Wirkungslosigkeit des jüdischen Jahwe-Gottes. Und noch weigerten sich auch die Wohlsituierten im Exil, zurückzukehren, um in den Ruinen Jerusalems wieder bei Null anzufangen.

Wir fangen nicht bei Null an im Jahr 2020. Aber auch wir merken „Babylonisches“ in uns – und das Raunen der Spötter. So einfach lassen sich unsere Altjahres-Zweifel nicht gegen Neujahrs-Gewissheiten eintauschen. Aber Jesaja mag uns auf den Weg bringen in die Richtung auch in diesem Jahr darauf zu vertrauen: Es ist in und trotz allem ein Gnadenjahr des Herrn, auch dieses Jahr 2020. Jesaja benutzt wunderbare Bilder, um das zu veranschaulichen. Wie Bäume und Pflanzen werden wir sein. Werden wachsen, werden fest stehen. Und da ist das zweite Bild vom Mantel und den Kleidern, die uns als Boten des Friedensreiches ausweisen werden. Zerbrochene Herzen beginnen zu heilen, alle, die in ihren Gefängnissen verschmachten und gebunden sind, sollen erfahren: Das soll nicht das letzte Wort haben über euch. Nein, nicht in ferner Zukunft, sondern das Gnadenjahr Gottes beginnt hier und heute. Und dazu kommt noch die klare Qualitätsansage: Der Tag der Vergeltung, der zum Gnadenjahr gehört, ist ausgefüllt mit Trost für alle Trauersorten: Wer unter Schwermut leidet, bekommt eine neue Lebensmelodie angestimmt. Wer bisher in Sack und Asche ging, bekommt wertvollen Schmuck eingetauscht. Wem der Trauerkittel in Fetzen hängt, darf ihn gegen wohlriechende Kleider wechseln.

Es fällt es uns nicht schwer, die Visionen des Propheten als Ziele Gottes gut und richtig zu finden. Wir tun uns nur schwer, sie zu umhegen wie ein neugepflanztes Bäumchen oder in sie hinein zu schlüpfen wie in neue Kleider. Oder gar in die Melodie dieses Liedes, das dieser Text ursprünglich ist, einzustimmen. Wie kommen wir da weiter?

Zunächst einmal so: Für uns als Christen ist es von Bedeutung, dass Jesus nach dem Zeugnis des Lukasevangeliums sein öffentliches Wirken mit genau diesen Worten verkündigt hat. Lukas schreibt, wie Jesus sie in der Synagoge von Nazareth vorliest und sie mit einem einzigen Satz kommentiert: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.“  Danach schlägt er das Buch zu. Ein interessantes Detail, wer Lukas kennt, weiß: Das steht da bewusst. Buch zu: Alles ist gesagt über Jesus von Jesus selbst. In seinem Wirken wird er das gebotene Erlassjahr endgültig verwirklichen. Das ist sein Programm: Die Gebote der Tora für all die zu erfüllen, die sich verunsichert und irritiert fühlen und die wie auch immer das Gefühl haben, keinen Zugriff mehr zu haben auf das Leben, auf viele Dinge, dass man ratlos ist in dem, was gerade passiert.

Und genau das passiert dann. Jesus stimmt eine neue Lebensmelodie an. Er sagt nicht allen, was sie tun sollen, was man jetzt machen muss, erst A dann B und so weiter. Jesus ist kein Unternehmensberater, kein Coach. Sondern einer, der uns in diese Melodie einweiht, damit wir lernen, sie mitzusingen und zu unserer eigenen zu machen. Dass wir unsere Wurzeln selbst in die Erde zu stecken lernen, die uns tatsächlich nährt bis in die Spitzen unserer Blätter. Sofort beginnt das in der Verkündigung Jesu in den Seligpreisungen der Bergpredigt: Sie sagen den Armen, Trauernden, Machtlosen und Verfolgten zu, dass ihnen das Reich Gottes schon gehöre und sie künftig auch die Erde besitzen werden. Einen Großgrundbesitzer, der Jesus fragte, wie er das ewige Leben erlangen könne, lädt er zur Aufgabe seines ganzen Besitzes zugunsten der Armen ein. Mit seinem überraschenden Besuch bei einem der damals verhassten und ausgegrenzten Eintreiber römischer Steuern, dem „Zöllner“ Zachäus bewegte Jesus ihn, geraubtes Gut vierfach zu erstatten. In all dem verdeutlichen Jesus die Zielrichtung aller Gebote: Dass sie zunächst ihr Leben als Geschenk verstehen mögen, das sie gestalten dürfen. Dass sich nicht das scheinbar Unveränderliche durchsetzen wird. Meine Unfähigkeit, mich zu verändern, dass mich meine Hoffnungslosigkeit nicht lähme. Sondern, dass alle Dinge möglich sind, wenn ich der Grundmelodie der Gnade Gottes in meinem Leben vertrauen. Je nach dem kann ich dann von mir absehen, wie der Zöllner Zachäus, kann mich von Überfluss befreien wie Jesus es dem reichen jungen Mann gewünscht hätte. Oder kann mir in meinen Problemen, die mich belasten, schon sagen lassen: Du bist selig, Gott hat deine Zukunft längst bereitet, lebe sie, grüne durch, vertraue deinen Wurzeln. Selbst wenn Du Dir als kleines Bäumchen vorkommen magst, bist Du doch mit den Worten Jesajas gesagt „eine Pflanzung des Herrn, ihm zum Preise“.

Aber wie bei Jesaja ist es eben auch bei Jesus: All das fällt nicht sofort vom Himmel. „Er hat mich gesandt, die gute Botschaft zu bringen“. Wie sie sich entfaltet, kann sehr unterschiedlich aussehen. Sie entfaltet sich jeweils in unserem Leben und wenn wir 200 plus Leute sind, wird sie sich auch 200fach plus entfalten. Ist das dann aber nicht beliebig, könnte man fragen? Nein, einfach nur vielfältig, denke ich. Für mich ist da eine Geschichte sehr wichtig, die genau mit diesem Verständnis und Verstehen der Lebens-der Gnadenmelodie Gottes für unser Leben zusammenhängt und damit, dass wir sie selbst mit unseren Möglichkeiten ausformulieren, weiterführen, was immer man mit Melodien machen kann. Es ist die Geschichte aus dem Markusevangelium, aus der die Jahreslosung für 2020 stammt: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“ Da kommt ein Vater zu den Jüngern, dessen Sohn – wir würden heute sagen – sehr schwer unter epileptischen Anfällen leidet. Die Jünger aber können dem Kind nicht helfen. Als Jesus dazu kommt, schildert der Vater seine Verzweiflung über die Krankheit – und auch darüber, dass die Jünger nichts bewirken konnten. Wie zum Beweis bekommt der Junge einen Anfall und der Vater bittet Jesus, etwas zu tun. „Wenn du etwas kannst, hilf uns“. Jesus aber verdeutlicht ihm, dass das, was jetzt hilft, nichts mit seinem Können zu tun hat. Sondern damit, dass der Vater vertraut, dass es möglich ist: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ Nicht, was Jesus macht, ist entscheidend. Sondern der Glaube des Vaters. Und der Vater antwortet, wie wir wohl alle nur antworten können, nein, er schreit es heraus: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“ Er schreit es heraus. Denn genau so erfahren wir uns. Machtlos, bisweilen verzweifelt im Moment. Wie abgeschnitten vom Glauben. Aber Jesus lenkt den Blick wieder zurück auf die Grundmelodie seines Glaubens, die der Vater kennt, die er im Grunde kennt und erinnert. Hilf mir dabei, bittet er Jesus. Hilf mir, bei dieser Melodie bleiben zu können. Frei formuliert ist es das, worum der Vater bittet. Daraufhin kommt der Junge zu sich. Der „böse Geist“ verlässt ihn, er kehrt zurück in die Freiheit. Die Fesseln sind gelöst.

Es ist diese Botschaft, die Jesaja seinen Hörern schenkt. Er verkündet ihnen und uns ein Gnadenjahr des Herrn. Ein Jahr, in dem diese Melodie unseres Glaubens wirken möge. Mit deren Hilfe aus Asche Juwelen werden können. Freudenöl aus bitteren Tränen. Ja, große Worte. Aber sie laben unsere Seele schon einmal. Legen sich auf sie wie ein Schutz. Wo wir darum wissen, können wir mit Hoffnung, Kraft und Zuversicht auf die Dinge zugehen, die wir erleben, auch auf die, die uns vorübergehend die Sprache rauben, den Atem, die Lust – manchen gar die Lebenslust am Anfang des Jahres 2020.

Jesus hat nach diesen Worten das Buch zugeklappt. Es ist alles gesagt darin. Seitdem er in der Welt ist, gilt es immer und immer wieder: Das Gnadenjahr des Herrn ist jetzt. Diese Melodie ist in der Welt. Und jeder möge sie hören und singen auf seine Weise. Sie ist das Lied gegen die Macht des Todes, das die Spötter nicht ertragen. Singen wir es also auch ihnen – und lassen nicht nach in der Hoffnung, dass Gott unserem Glauben und unserem Unglauben helfen möge.

Denn sein Friede ist höher als all unsere Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org