Predigt über Jesaja 63, 15-16

  • 10.12.2017 , 2. Advent
  • Landesbischof Dr. Carsten Rentzing

Liebe Gemeinde,

da also stand ich wieder einmal mit den Kindern auf ihrem Lieblingsspielplatz. Er befand sich außerhalb im Grünen, auf dem Gelände eines Naturbades: Sand, Klettergerüste, Schaukeln und Rutschen... alles, was ein Kinderherz begehrte. Und nach dem Spielen gab es sogar noch die Möglichkeit, ins Wasser zu springen. Meine Kinder liebten diesen Ort. So hatten sie mich an diesem Tage überredet mit ihnen dorthin zu gehen, als ich früher als sonst nach Hause kam. Und ich ließ mich gern überreden, denn auch ich konnte der Lokalität einiges abgewinnen. Und so stand ich nun also dort. Die Luft war warm. Die letzten Sonnenstrahlen erreichten mein Gesicht und hüllten es in einen wohligen Mantel. Die Kinder waren längst losgerannt und beschäftigt. Es versprach ein angenehmer Abend zu werden. Ein Bekannter hatte mit seinen Kindern die gleiche Idee gehabt und so trafen wir uns dort. Ein lockeres Gespräch über dies und das nahm seinen Lauf. Während wir so redeten und uns von der Sommersonne bescheinen ließen, geriet die Szenerie um uns in den Hintergrund. Die Kinder hatte ich völlig aus dem Auge verloren. Und auch die Gedanken drehten sich gerade um ganz andere Dinge. Da drang - wie durch einen dichten Nebel hindurch - eine wohlvertraute Stimme an mein Ohr: Papa, ich springe! Unverkennbar handelte es sich da um den Tonfall der Jüngsten. In Bruchteilen einer Sekunde hatte ich vom Stand-by-Modus auf den Ein-Modus umgeschaltet. Adrenalin durchschoss meinen Körper. Ich wendete mich um, hin zu den Spielgeräten. Und da sah ich sie, die Jüngste, am Rande eines gefühlt vier Meter hohen Klettergerüstes stehen. Die Arme ausgebreitet und im Begriff zu springen. Es war schon immer ihr Liebstes, in die Arme des Vaters zu fliegen. Diesmal aber hatte sie ganz offensichtlich die Höhe des Gerüstes und meine Entfernung vom Absprungort völlig fehlkalkuliert. Mit einem Satz, den ich gerne einmal im Sportunterricht beim Schlusssprung vorgeführt hätte, und den ich nur durch den Adrenalinstoß in meinem Körper erklären kann, verkürzte ich den Abstand zum Kinde um ein Gewaltiges. Die Jüngste war bereits in der Luft. Mit voller Wucht traf sie auf mich. Ich geriet ins Torkeln, verlor den Stand und fiel auf den Rücken. Kaum waren wir beide auf dem Boden angekommen, lachte meine Tochter laut auf und war auch schon fröhlich auf und davon. Etwas benommen erhob ich mich wieder. Der Puls raste. Ich atmete tief durch. Seit jenem Tage betrachte ich die Bibelstellen, die von Gott als Vater reden, mit besonderen Augen. Ein ungeheurer Vertrauensvorschuss ist mit der Vaterschaft verbunden. Meine Tochter hatte nicht den Hauch eines Zweifels, dass ich sie auffangen würde. Schutz und Stärke gehen von der Vaterschaft aus.

Ein Freund von mir wurde in Kindertagen wegen seines schwächlichen Auftretens von einer Gruppe von Altersgenossen gehänselt. Ich war auch zu schwach, um ihm hilfreich beistehen zu können. Doch eines Tages erschien er mit seinem Vater vor der Gruppe. Auftritt und Worte des Vaters müssen beeindruckend gewesen sein. In der Folgezeit wurde er nie wieder gehänselt. Auch unsere Leben verdanken wir u. a. dem Zeugungswillen eines Vaters. Es gibt keine Kindschaft ohne Vater. Es ist schon etwas Besonderes, wenn all dies auf Gott bezogen wird. So wie es Jesus Christus im Vaterunser tut und so wie es auch schon der Prophet Jesaja in unserem Predigtwort getan hat.

Natürlich sind mir die intellektuellen Vorbehalte gegen eine solche Rede wohl bewusst. Selbstverständlich lässt sich Gott nicht auf die Vaterschaft reduzieren. Übrigens spricht Jesaja nur wenige Zeilen nach unserem Predigtwort davon, dass Gott uns tröste, so wie einen seine Mutter tröstet. Was soll die Rede vom Vater in einer Zeit, in der man oft zwischen biologischem und sozialem Vater unterscheiden muss? Auch hat man die Frage gestellt, wie denn die Rede von Gott als Vater von solchen Menschen aufgefasst wird, die selbst gewalttätige Väter erlebt haben? Beruhigt war ich da immer, wenn ich meine Konfirmandinnen und Konfirmanden, die vielfach in zerbrochenen Familienverhältnissen aufwuchsen, danach fragte, ob sie Probleme mit der Rede von Gott als Vater hätten. Nicht ein einziges Mal war dies der Fall. Im Gegenteil signalisierte man mir immer wieder, dass man sehr wohl ein Verständnis davon hat, was es bedeutet, von Gott als liebendem Vater zu sprechen. Den letzten Zweifel nahm mir schließlich die Begegnung mit einer alten, sterbenden Frau. Eigentlich war ich gekommen, sie zu trösten. Sie aber sah meine Hilflosigkeit und sagte: Ich habe mein ganzes Leben lang den liebenden Vater erlebt. Sollte ich jetzt nicht vertrauen und getrost sterben können?

Wie blutleer und tot bliebe demgegenüber eine bloße Rede von Gott? Sie wäre niemals in der Lage, die Erfahrung einzuholen, die ich damals auf dem Spielplatz gemacht habe.

Wach und klar spricht Jesaja von Gott als Vater. Diesen Vater ruft er an. Diesen Vater ruft er herbei. Voller Vertrauen ist er ihm gegenüber: Lass deine Kinder nicht im Stich, die du gezeugt hast! Sie sind auf falsche Wege geraten und werden zur Beute ihrer Feinde. Wende dich ihnen zu und schütze sie. Warum wirkt es so, als würdest du den Himmel verschlossen halten? Selbst noch in diesem Wort der Kritik und des Zweifels wirft sich Jesaja in die Arme des Vaters. Er tut es, weil er sich daran erinnern kann, wie Gott in der Vergangenheit gehandelt hat. Es ist die große Stärke des Volkes Israel und seiner Propheten, dass sie diese Erinnerung über die Abgründe und Katastrophen der Zeiten hinweg festhalten. Gott hat sich in der Vergangenheit als Vater seines Volkes erwiesen. Er wird dies auch in der Not der Gegenwart tun. Du bist und du bleibst unser Vater!

Zugegeben: Auch mir erscheint es manchmal so, als wäre der Himmel verschlossen. Ach, dass Du die Himmel zerrissest und führest herab. Gerne stimmte ich manches Mal in diesen Ruf mit ein. Wenn sich doch der Vater der schrecklichen Leiden seiner Kinder erbarmte. Wenn er doch die Herzen der Menschen neu wendete. Wenn ich es aber so formuliere, spüre ich in diesem Augenblick, dass ich hier vor einer Vertrauensprobe stehe. Erinnere ich mich denn nicht mehr daran, dass der himmlische Vater Christus, seinen Sohn, in diese Welt gesandt hat, um die Welt von innen heraus zu erneuern? Sind nicht Millionen und Milliarden von Menschen vom Geist des Friedens und der Zuversicht erfüllt worden. Hat Gott, der Vater, den Schergen nicht immer wieder das Handwerk gelegt. Waren wir nicht selbst vor 28 Jahren Zeugen seines geschichtlichen Eingreifens? Sollte uns all dies nicht hoffnungsvoll und zuversichtlich nach vorn schauen lassen?

Immer dann, wenn mir die Nörgler und Schlechtredner unserer Tage begegnen, möchte ich, so wie bei mir selbst, die Erinnerung wachrufen und daraus Vertrauen schöpfen. So wie meine Tochter fröhlich und zuversichtlich nach vorn marschiert ist, nachdem sie in meine Arme gesprungen war. So können auch wir fröhlich und zuversichtlich weitergehen, wenn wir dem himmlischen Vater vertrauen. Dies gilt für jeden Einzelnen von uns. Es gilt allerdings auch für unsere ganze Gesellschaft. Ich wünschte unserer Gesellschaft mehr von diesem Zutrauen aus dem die Zuversicht wächst. Auch da möchte man rufen: Oh, Heiland, reiß die Himmel auf.

Er hat sie längst aufgerissen. Denn dafür ist sein Sohn Jesus Christus in diese Welt gekommen. Dieser Christus verändert noch immer die Herzen von Menschen. Und indem er die Herzen von Menschen verändert, verändert er ganze Gesellschaften. Das Kommen Christi vor 2000 Jahren ist der Grund dafür, dass wir auch auf sein Kommen in der Gegenwart vertrauen können. Diese Welt braucht das Vertrauen auf den himmlischen Vater und seinen Christus. Und es liegt an uns, uns selbst und die ganze Welt auf das Kommen Christi vorzubereiten. Er ist der Erweis der Vaterliebe Gottes. Er ist der feste Grund, auf dem wir stehen. Er ist der Rückhalt, der uns die Stürme des Lebens bestehen lässt. Er ist derjenige, der uns hierher geführt hat. Ihm werden wir im Heiligen Abendmahl neu begegnen. Und so wird er uns zur Ursache der Zuversicht, zum Lichtstreif am Horizont und zur aufgehenden Morgenröte werden. Und alle Kleingeisterei, alles Schwarzsehen und alle Feigheit vor der Zukunft werden enden. Dem Vater im Himmel sei Dank dafür.

Amen.

Landesbischof Dr. Carsten Rentzing