Predigt über Johannes 1, 1-4 im Frühgottesdienst und Abendgottesdienst

  • 02.01.2022 , 1. Sonntag nach dem Christfest
  • Dr. Almuth Märker

Predigt am 1. So.n.d.Christfest (IV)

 

2.1.2022 
Frühgottesdienst und Abendgottesdienst

 

1. Joh. 1, 1-4 (= Epistel)

(in Luther 2017 überschrieben mit „Grundlage christlicher Gemeinschaft“)

 

Liebe Gemeinde,

sind Sie stolz auf Ihre humanistische Bildung? Greifen Sie bis heute auf ein breites Bildungsangebot aus Ihrer Schulzeit zurück? Können Sie lateinische Ausdrücke, die in Reden eingeflochten sind, mühelos verstehen? Wissen Sie, wenn Sie im Kunstmuseum einen spätmittelalterlichen Flügelaltar betrachten, wer welcher Heiliger und welche Heilige ist? Das alles ist Ihnen möglich? Wunderbar! Sie sind humanistisch gebildet.

Die Frage ist nur – und ich möchte Sie Ihnen ganz direkt stellen: Brauchen wir eine solche Bildung, wenn wir glauben? Ist es für den Glauben eine Voraussetzung, humanistisch oder philosophisch oder weltläufig gebildet zu sein?

 

Ich lese uns noch einmal die vier Verse des Predigttexts:

„Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unsern Augen, was wir betrachtet haben und unsre Hände betastet haben, vom Wort des Lebens –

und das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist, das beim Vater war und uns erschienen ist –,

was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir auch euch, damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt; und unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus.

Und dies schreiben wir, auf dass unsere Freude vollkommen sei.“

Der Herr segne an uns sein Wort.

 

Mit diesem Predigttext werden wir an den Anfang des ersten Johannesbriefs, an seinen Prolog, geführt. Mit seiner Wortwahl und den Formulierungen hat der Text Anklänge an einen anderen Prolog, der uns von Weihnachten her noch im Ohr ist: den Prolog zum Johannesevangelium: [dort heißt es ja] „Am Anfang war das Wort – wir schauten seine Herrlichkeit – das Wort ward Fleisch – das Wort war bei Gott“ (Joh. 1). Ob der Johannesbriefschreiber, der nach heutiger Überzeugung nicht der Evangelist ist, bewusst auf seinen Namensvetter Bezug nahm, wenn er schreibt: „Am Anfang war – wir haben gehört und gesehen – das Wort des Lebens erschien – das Wort des Lebens war beim Vater“? Solche Assonanzen zu entdecken, liegt nahe. Doch lassen sie uns vor allem das Besondere des Textes entdecken.

Das Besondere des Briefbeginns des Johannes ist eine Fülle, ich möchte fast sagen: eine Flut von sinnlicher Wahrnehmung. Dort stehen lauter Wörter, die weit entfernt von allein geistigem Erkennen sind:

Wir haben gehört.

Wir haben gesehen.

Wir haben betrachtet.

Wir haben betastet.

Und dann gleich nooch einmal:

Wir haben gesehen.

Wir haben gehört.

Immer ist vom Wort Gottes und von der Gotteserfahrung die Rede. Jedesmal umschrieben mit einem Verb der sinnlichen Wahrnehmung. Eine ganze Sinnenreihe ist das, die gipfelt in dem Ausdruck …

und hier rufe ich ruhig das griechische Wort in den Raum … und da erwischen Sie mich voll bei meiner humanistischen Bildung: psälaphan.

Psälaphan – psälaphan – psälaphan. - betasten – berühren (aber nicht im übertragenen Sinn, sondern in echt) berühren – betasten.

Das ist ein kostbares, ein seltenes Wort im Neuen Testament. Ein Wort voller Sinnlichkeit. Jesus sagt dasselbe Wort zu seinen Jüngern, die nach Ostern verzagt in einem verschlossenen Raum sitzen: Fasst mich an, ich bins wirklich (vgl. Lk. 24, 39).

Erst wenn ihr Jesus anfasst, werdet ihr ihn begreifen. Über die konkrete Handgreiflichkeit wird erst der geistige Prozess des Begreifens möglich. Immer wieder stoßen wir an die Grenzen, das was Gott ausmacht zu begreifen. Der Vers aus dem Passionslied EG 81 kam mir da in den Sinn:
„Ich kanns mit meinen Sinnen nicht erreichen,

womit doch dein Erbarmen zu vergleichen.“

Ja, unser Begreifen hat Grenzen, denn wir sind Menschen. Aber fangen wir doch wenigstens an mit dem Begreifen, mit dem realen Betasten und Befühlen.

 

Bei vielen von Ihnen wird zu Hause unterm Baum die Weihnachtskrippe aufgebaut sein. Das aus Holz geschnitzte oder gedrechselte Jesuskind in die Hand zu nehmen, den Formen nachzufühlen, es zu betasten und anzugreifen, ist schön. Vielleicht begreifen wir über diesen Weg viel mehr vom weihnachtlichen Geheimnis als über langes Nachsinnen.

Das konkrete Betasten und das Anfassen -

                            ich bin immer noch beim  psälaphan -

stellt Nähe und Innigkeit her und ist zugleich Ausdruck einer solchen Innigkeit und Nähe. Nicht umsonst bricht es umgekehrt in den dunkelsten Momenten einer Beziehung, die sich ins Aus verlebt hat, aus dem einstmals geliebten Gegenüber heraus:
„FASS mich nicht an!!!“ Da sind Nähe und Innigkeit verloren gegangen.

 

Hören, sehen, betasten – ein sehr sinnliches Begreifen von Gottes realer Anwesenheit.

Wir haben ja vor der Predigt das Lied von Peter Cornelius an Orgel und Bassstimme gehört, das die Begegnung des greisen Simeon mit dem neugeborenen Jesus besingt. Im Evangelium davon haben wir als Lesung gehört. Dort wird außerdem von der greisen Hanna berichtet. Auch hier geht es so sinnlich zu, wie es der 1. Johannesbrief gutheißt: Zwei alte Menschen

              sehen,

              erkennen und

              halten

den Sohn Gottes in den Armen. (s. EGB S. 805) Und können dann sterben. Da lässt Gott seinen Diener und seine Dienerin in Frieden gehen. Er lässt sie.

Kein Defibrillator, der sie zurückholt. Kein Herzschrittmacher, obwohl die Lebenskraft am Ende ist. Sie sehen und halten Jesus, und Gott lässt sie gehen.

 

Wie nun aber sieht das sinnliche Erkennen in unserm Glaubensalltag aus?

Da denke ich als erstes an das „Schmecket und sehet“ der Einladungsformel beim Abendmahl. Ja, wenn wir gemeinsam Abendmahl feiern, dann erfahren wir tief sinnlich Gottes Nähe. Umso schmerzlicher ist es für viele, dass wir es wegen Corona zur Zeit nicht tun können, auch heute im Abendgottesdienst nicht.

Da erinnere ich aber auch an all das, was uns die Musik an sinnlicher Glaubenserfahrung beschert. Was für ein Segen ist das und wie sehr greifen wir gerade jetzt in der Weihnachtszeit auf diese nichtintellektuelle Gottesnähe zurück.

Sehr sinnenverbunden ist nicht zuletzt auch all das, was wir hören, sehen, betrachten und betasten können – wie es unser Predigttext aufzählt – und was mit einem gelebten Glaubensalltag, ja mit diakonischem Handeln zu tun hat. Der Wöchnerin eine Suppe bringen. Dem arbeitslos gewordenen Familienvater für den Urlaub das Auto borgen. Der Freundin einen Tee einschenken und sie trösten.

 

Das Wort von Gott ist immer ein Wort des Lebens. In einer wirbelwindähnlichen Dynamik will es weitergegeben und verkündigt werden. Daraus stiftet sich Gemeinschaft. Das kann und soll mit allen Sinnen geschehen. Dann wird unsere Freude vollkommen sein. Dann kann unser Herz fröhlich springen.

 

Liebe Gemeinde, wir sind eventuell stolz auf unsere humanistische Bildung, ich eingeschlossen. Um das Gottesgeheimnis zu begreifen, ist sie jedoch keine Voraussetzung. Die geistliche Gemeinschaft, in der wir miteinander verbunden sind, gründet sich auf Hören, Sehen und Be-greifen.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und unsere Sinne in Christo Jesu. Amen

 

Dr. Almuth Märker, Prädikantin an St. Thomas