Predigt über Johannes 21,1-14

  • 23.04.2017 , 1. Sonntag nach Ostern - Quasimodogeniti
  • Prof. Dr. Andreas Schüle

Liebe Gemeinde,

als ich über die heutige Predigt nachzudenken begann, fiel mir ein Gespräch mit unserem Organisten Ullrich Böhme von vor genau einem Jahr ein. Auch da war es der Sonntag nach Ostern, wir beide hatten Dienst und unterhielten uns - wie man das in der Thomaskirche anständigerweise tut - über Johann Sebastian Bach. Dabei meinte Herr Böhme beiläufig, dass ihn Bachs Ostermusik nicht in gleicher Weise emotional berühre wie seine Passionsmusik. ‚Holla' dachte ich damals. Darf man, keine 10 m Luftlinie von Bachs Grab entfernt, eine solchermaßen differenzierte und sogar leicht kritische Bemerkung machen, ohne dass ein Blitz vom Himmel fährt? Offenbar ja, wir beide sind dieses Jahr wieder da. Jedenfalls hörte ich mir daraufhin noch einmal sehr bewusst das Osteroratorium und andere Osterkantaten an. Und irgendwie hatte ich dann auch den Eindruck: Das ist natürlich sehr schöne Musik, allerdings hat Bach so eben auch sonst komponiert. Aber irgendwie fehlt die emotionale Tiefe einer Matthäus- oder Johannespassion, die einem unweigerlich ein schwarzes Loch in die Seele brennen.

Nun erwähne ich dieses Gespräch nur, weil mir damals deutlich wurde, dass man etwas ganz Ähnliches auch über den Unterschied zwischen den Passions- und der Ostererzählungen des Neuen Testaments sagen kann. Die Leidensgeschichte Jesu, die im Garten von Gethsemane beginnt und sich dann bis zur Todesstunde entwickelt, ist in jedem der vier Evangelien der literarische und emotionale Höhepunkt. Jeder Schritt, jedes Wort ist wichtig. Alles ist in Bewegung: die Jünger, das Volk, der Hohe Rat der Juden und die römischen Autoritäten. Menschen schreien, klagen an, verteidigen sich oder weinen. Das Versagen der Jünger, die Brutalität der Mächtigen, die Manipulierbarkeit der Massen - all das wird aufgedeckt und durch all das hindurch trägt ein Mann sein Kreuz nach Golgatha. Die Passionsgeschichte ist nicht nur ein Bericht darüber, wie ein Mensch zu Tode kommt, sondern sie ist ein Weltentribunal und ein Spiegel, in dem jede Zeit und Welt ihre eigenen Abgründe betrachten kann. Und dann stirbt dieser Jesus, und die Evangelien berichten davon, dass sich sogar die Naturgewalten gegen diesen Tod wehren. Der Himmel wird schwarz, die Erde bebt, der Vorhang im Tempel zerreißt, die Gräber brechen auf. Nein, dieser Jesus lässt sich nicht unbemerkt aus der Welt hinaus schieben.
Es ist klar, dass ein solcher Tod noch nicht das Ende der Geschichte sein kann. Und so fragt man sich: Wenn dieser Jesus so stirbt, was wird dann erst bei seiner Auferstehung geschehen? Da müsste es doch noch grellere Töne und Farben geben, wenn der Stein vom Grab gerollt wird, der Auferstandene die Leichentücher von sich wirft und sich als Lichtgestalt in die Höhe erhebt. Aber nein, Fehlanzeige. Nichts dergleichen wird erzählt.
Die Ostergeschichten sind denkbar unspektakulär. Fast könnte man enttäuscht sein, denn irgendwie ist wieder alles beim Alten. Die Jünger und die Frauen sind zurück in Galiläa und, so hat es den Anschein, wieder in ihr altes Leben zurückgekehrt - enttäuscht sicherlich und müde, traurig und leer; so wie das eben ist, wenn man gerade einen wichtigen Menschen verloren hat und es trotzdem irgendwie weitergehen muss. Und dann begegnet ihnen Jesus, der Auferstandene - aber nicht als Lichtgestalt, nicht als siegreicher Feldherr mit der Fahne in der Hand, wie er oft in der Kirchenkunst dargestellt wird. Ganz im Gegenteil, er wirkt so unscheinbar normal, dass sie und ich ihn vermutlich übersehen hätten, wenn er neben uns in der Einkaufsschlange gestanden hätte. Nein, irgendwie wollen diese Ostergeschichten nicht zu dem passen, was wir vielleicht gerne hören würden.

Das führt uns in unsere unserer Erzählung aus dem Johannesevangelium hinein. Wir finden sieben der zwölf Jünger am Ufer des Sees Genezareth. Es ist noch Nacht, also die beste Zeit zum Fischen; und so beschließt Petrus, dass er hinausfahren will. Das ist schließlich sein Beruf. Und die anderen sechs haben offenbar auch nichts anderes vor und begleiten ihn. Aber sie haben kein Glück, nichts geht ihnen ins Netz. Dann auf einmal, als der Morgen schon anbricht, steht da jemand am Ufer und ruft zu ihnen hinüber. Ob sie denn nichts zu essen gefangen hätten, will der Mann wissen. „Nein" müssen sie zugeben. Und dann sagt ihnen dieser Mann, dass sie es nochmal versuchen sollen, aber diesmal auf der anderen Seite, rechts vom Boot. Seltsame Anweisung ... ! Aber siehe da, die Netze werden voll. Daraufhin erkennt erst ein Jünger und dann offenbar alle, dass dieser Mann Jesus ist. Und als sie das erkannt haben, springt Petrus aus dem Boot und will hin zu ihm. Gerade noch streift er sich ein Gewand über. Im Boot war er offenbar nackt - warum auch nicht, vermutlich war es warm, die Klamotten hätte man ohnehin hinterher trocknen müssen, und hier waren ja Männer unter sich. Aber so ganz nackt will er seinem Herrn und Heiland offenbar doch nicht gegenübertreten. Irgendwann sind dann auch alle anderen Jünger am Ufer angekommen und essen mit Jesus. Brot und Fisch gibt es, heute würde man sagen „fish and chips". Und dann bricht die Erzählung ab. Einfach so.
Man kann nicht gerade sagen, dass das eine besonders aufregende oder gar aufwühlende Geschichte wäre. Kein Stoff für großes Kino. Im Gegenteil wirkt das alles auffallend unauffällig. Immerhin erscheint hier der Auferstandene, also der Mann, den Gott vom Kreuz herab und aus dem Grab heraus errettet hat, der Mann, der nach dem Glauben der Kirche die Pforten der Hölle aufgebrochen hat - und alles, was der nun tut, ist vom Seeufer aus seltsame Anweisungen geben und Fische braten. Das wirkt, wie man heute so schön sagt, ziemlich ‚tiefenentspannt.' Aber vielleicht liegt in diesem provokativen Mangel an Spektakel ja gerade ein Schlüssel. Hier wird alles dafür getan, um den Auferstanden nicht zu einem Geist oder einem Superhelden mit überirdischen Fähigkeiten zu machen. Dieser Auferstandene ist so irdisch wie man nur sein kann. Er ist aus Fleisch und Blut, er redet und handelt wie er das auch schon zu Lebzeiten getan hatte. Alles Gewicht liegt darauf zu zeigen, dass Auferstehung etwas ist, das man mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Ohren hören und mit eigenen Händen tasten kann. Die Auferstehung Jesu - das ist offenbar nichts, was uns auf wundersame Weise aus unserem Leben herausreißen will, sondern, genau umgekehrt, etwas, das in unser Leben hinein geschieht. Es geht nicht um eine Inszenierung der Person und der Macht Jesu. Nein, die Frage ist, was die Auferstehung Jesu mit uns macht, was sich verändert, wenn sie unser Leben berührt. Genau davon handelt unser Predigttext.
Lasse Sie mich versuchen, das an drei Motiven der Erzählung deutlich zu machen.
Da ist zunächst der eigentümliche Fischzug. Wie gesagt, die Jünger waren schon dabei, es gut sein zu lassen und ans Ufer zurückzukehren. Denn wie jeder Fischer weiß: Solche Tage gibt es, da beißt einfach nichts, egal wie man sich verrenkt. Aber dann werfen die Jünger ihre Netze doch noch einmal aus. Petrus muss da eigentlich ein Déjà-vu Erlebnis gehabt haben, denn die gleiche Geschichte hatte sich so ähnlich schon einmal zugetragen, nämlich bei seiner Berufung zum Jünger. Auch damals waren er und seine Kollegen die Nacht über draußen gewesen und mit leeren Händen zurückgekehrt. Und auch damals hatte Jesus sie nochmal hinausgeschickt. Sie hatten dann soviel gefangen, dass die Netze rissen und ein zweites Boot zu Hilfe kommen musste. Schließlich waren beide Boote wegen der Masse an Fischen so überladen, dass sie kentern. In unserer Erzählung ist das anders: da braucht es offenbar kein solches Spektakel. Nichts reißt, nichts kentert, die Netze halten, das Boot kehrt nach getaner Arbeit ans Land zurück. Die Begegnung mit dem Auferstandenen führt nicht dazu, dass die Gesetze der Schwerkraft ausgehebelt werden - oder irgendetwas in dieser Art. Die Botschaft ist eine andere: ‚Mach' dich nochmal auf, versuche noch einmal, was Du eigentlich schon aufgegeben hattest! Finde dich nicht einfach damit ab, weil dir deine eigene Erfahrung, der gesunde Menschenverstand oder die allgemeine Meinung sagen, dass es nicht geht oder dass es nichts bringt.' Dazu will Ostern uns Mut machen. Jesus war tot und begraben. Stein davor - Ende. Aber das lassen die Frauen nicht so stehen. Sie gehen nochmal zum Grab, weil sie mit diesem Tod noch nicht fertig sind. Sie schauen nochmal hin - sonst wäre das Grab leer gewesen, und keiner hätte es je bemerkt. In unserer Geschichte sind es nun die Jünger, denen Jesus es nicht zulässt, sich mit leeren Netzen abzufinden.
Liebe Gemeinde, vielleicht geht es ihnen auch manchmal so: Ich jedenfalls erwische mich dabei, dass ich beim Nachrichtensehen, Zeitunglesen oder auch nur bei einem Gang durch die Stadt so etwas wie eine empörte Gleichgültigkeit entwickle. Es gibt so vieles, gegen das man sich stemmen und mit dem man sich nicht abfinden sollte, aber irgendwie lasse ich es dann dabei. Ich schalte den Fernseher aus oder lege die Zeitung weg und kehre in die Welt zurück so wie sie mir vertraut und heimelig ist. Wenn man jeden Tag hört, wo es auf der Welt gerade wider brennt und kracht, wo wieder ein Bus attackiert wurde, dann bekommt auch das irgendwann den Charakter von Normalität. So ist die Welt und irgendwie muss man sich damit arrangieren in der Hoffnung, dass es einen nicht selber trifft.
Dietrich Bonhoeffer schreibt in seinen berühmten Briefen aus dem Gefängnis von Tegel einmal, dass wir die fragwürdige Fähigkeit entwickelt haben, uns, wie er sagt, immer und überall „schamlos zuhause" zu fühlen. Diese Fähigkeit des schamlosen Zuhauseseins ist wahrscheinlich ein uns angeborener Selbstschutz; man kann nicht alles an sich heranlassen. Aber irgendwann wird der Selbstschutz zur Hornhaut, die nichts mehr durchlässt. Auferstehung meint dagegen eine Kraft, die einer solchen Verhornhautung des Lebens widersteht. ‚Macht euch auf, werft die Netze noch einmal aus! Gebt euch nicht dem Fatalismus hin, der da sagt: so ist das nun mal, findet euch damit ab!' Das ist der Ruf des Auferstandenen in unser Leben hinein.
Das zweite Motiv, das an unserer Erzählung ins Auge sticht, ist der nackte Petrus. Der wirft sich gerade noch ein Gewand über, springt über Bord und schwimmt ans Ufer. Auch das haben wir so ähnlich schon einmal gehört, nämlich in der Erzählung vom Seewandel Jesu. Da läuft Jesus übers Wasser und Petrus will ihm das nachmachen und ihm auf dem Wasser entgegengehen. Aber das ist dann doch eine Nummer zu groß für ihn. Und wieder scheint es so, dass unser Text sagen möchte: Irgendwelche übernatürlichen Fähigkeiten und Wunder braucht es gar nicht, um dem Heiland zu begegnen. Was es aber braucht, ist der Wille dazu. Und als Petrus weiß, dass der Auferstandene am Ufer steht, will er unbedingt dahin - schwimmend, laufend, tauchend, egal wie. Vielleicht klingt ihm noch ihm Ohr, was der Engel am leeren Grab gesagt hatte: ‚Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?' Und da steht er nun: der Lebendige, der Auferstandene, und Petrus will nicht mehr warten, sondern wirft sich ins Wasser.
Seit früher Zeit ist dieses Bild des zuerst nackten Petrus, der sich anzieht, im Wasser untertaucht und dann auf der anderen Seite ankommt, ein Bild für die Taufe gewesen - ein Bild für die Bewegung vom Tod ins Leben, von einer alten in eine neue Existenz hinein.
Daran gemessen ist es mehr als zynisch, wie sich die US Regierung während der Karwoche zu ihrem jüngsten Militärschlag gegen den Islamischen Staat in Afghanistan äußerte. Man habe gegen die Terrormilizen die „Mutter aller Bomben" (the mother of all bombs) eingesetzt. Und dafür wollte man offenbar bewundert werden. Aber wie pervers muss man eigentlich sein, wenn man das Bild der Mutter, das Ursymbol von Schutz, Vertrauen und Leben, zum Namen einer Megabombe macht, deren einziger Sinn darin besteht, so viele Leben wie möglich zu beenden. Und die russische Antwort ließ nicht lange auf sich warten, denn dort brüstete man sich damit, eine noch viel größere Bombe, nämlich den „Vater aller Bomben" im Arsenal zu haben. Das war die Botschaft der beiden Großmächte zu Ostern. Noch abgründiger geht es eigentlich nicht. Da wird der Tod zelebriert gegen das Leben. Das ist so als würde man die Auferstehungsgeschichten rückwärts laufen lassen: von der Auferstehung zurück ins Grab. Dagegen, liebe Gemeinde, feiern wir Ostern. Und unser Feiern und Glauben muss mehr denn je eine Absage an die Faszination für Gewalt und Tod sein, die sich in unserer Zeit wieder auszubreiten beginnt.
Das dritte und letzte Motiv, das an unserer Erzählung auffällt, ist das Mahl, das Jesus am Ufer mit seinen Jüngern hält. Die Jünger sind gerade zurück, und nun haben sie ja auch etwas gefangen und wollen das Frühstück vorbereiten, wie man das nach einem nächtlichen Fischzug tut. Aber dann kommen sie und sehen, dass schon alles bereit ist. Da sind schon Brot und Fische. Selbst wenn sie nichts gefangen hätten, selbst wenn die Netze leer geblieben wären, hätten sie doch zu essen gehabt. Und noch ein letztes Mal verzichtet unsere Erzählung auf jede Art von Wundereffekt: da werden keine Brote und Fische vermehrt, ja vertausendfacht, wie wir das aus anderen Geschichten kennen. Nein, es ist einfach für jeden genug da. Auch das ist ein Bild für das Leben in der Auferstehung: sich an einen gedeckten Tisch setzen dürfen; nicht sorgen müssen, sondern versorgt sein; die Erfahrung machen, dass es eine Güte gibt, die nicht von unserem Mühen und Eifern abhängt. An die Auferstehung Jesu glauben, so beschreibt es unsere Erzählung, hat etwas mit der Bereitschaft zu tun, nicht aufzugeben, Dinge nochmal zu tun, sich wie Petrus in die Fluten zu stürzen und auf der anderen Seite wieder herauszukommen. Aber all' das wäre umsonst, gäbe es nicht auch den gedeckten Tisch und wäre da nicht diese großzügige Gnade, die uns einfängt, hält und trägt. Das ist das eigentliche Wunder von Ostern.
Liebe Gemeinde, ich hatte eingangs das kleine Gespräch mit Herrn Böhme über Bachs Ostermusik erwähnt. Nun, heute wird es als Orgelnachspiel keinen Bach geben, sondern ein Stück von Olivier Messiaen zur „Auferstehung Christi". Ich warne Sie schon einmal vor: es wird laut und es wird gewaltig. Messiaen will mit mächtigen Akkorden den Auferstanden darstellen, der sich siegreich und herrlich aus dem Grab in den Himmel erhebt - ganz so wie sich die kirchliche Tradition dies auch immer wieder vorgestellt hat. Aber wie wir gesehen haben ist die Bibel selbst mit solchen Bildern vorsichtig und zeichnet einen eher unscheinbareren Auferstandenen - jemanden wie du und ich. Wenn ich Messiaen höre, denke ich für meinen Teil auch gar nicht an Christus als Person, sondern ich verstehe diese Musik als Ausdruck des Glaubens an die Auferstehung -kraftvoll und erfüllend; ruhig und unwiderstehlich; ohne künstlichen Heilandszauber; dissonant und doch bejahend. Aber hören Sie nachher selbst.

Und der Friede Gottes, welche höher ist denn alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne, in Jesus Christus. Amen.