Predigt über Johannes 21,1-14

  • 11.04.2021 , 1. Sonntag nach Ostern - Quasimodogeniti
  • Prädikantin Dr. Almuth Märker

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und unserm Herrn Jesus Christus. Amen.

So ist mit Ostern nun also das Johannesevangelium zu Ende. Der Evangelist Johannes hatte es eigentlich so geplant. Er hatte vom Ostermorgen berichtet. Davon, dass eine der Frauen aus Jesu Umfeld die erste war, die das leere Grab entdeckte. Dass diese Maria aus Magdala es dann den anderen Jüngern erzählte. Dass die sich dann auch davon überzeugten: Das Grab ist leer.
Johannes hatte im Anschluss  zwei tolle Ostergeschichten erzählt, die so richtig unter die Haut gingen: Wie Jesus dieser Maria noch einmal im Garten begegnet, sie ihn – weinend erst und ihn dann erkennend – anredet. Und die andere Ostergeschichte, wie Jesus durch die verschlossene Tür zu den Jüngern reingeht und sich dann mit Thomas, dem ewigen Zweifler – also mit uns – einen Dialog liefert. Jesu Schlusswort: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“, wie wir es eben im Evangelium gehört haben.
Damit ist doch eigentlich alles gesagt. Ein Satz, mit dem wir als Christinnen und Christen – sei es unterm Kreuz, sei es vor dem leeren Grab – ein Leben lang zu tun haben, an dem wir knaupeln können. „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ Noch zwei Verse, und das Johannesevangelium ist zu Ende.

… ist zu Ende gewesen. So war sein ursprünglicher Schluss.

Fügt doch aber Johannes später ein Kapitel an! Wie kommt sowas? Ich persönlich kenne solche Situationen: Ich habe etwas erzählt oder besprochen; ich bin mit meinen Ausführungen eigentlich zu Ende, stehe schon auf der Schwelle, habe mich schon verabschiedet, die Klinke in der Hand. Da fällt mir noch etwas ein. Etwas, das ich scheinbar vergessen hatte. Etwas, mir aber wichtig ist. Was ich jetzt, quasi als Nachtrag, erzähle, wird meinem Gegenüber in Erinnerung bleiben. So können wir uns den Predigttext für den heutigen Sonntag vorstellen: Das Johannesevangelium ist zu Ende. Jesus ist am Kreuz gestorben, er ist auferstanden, er ist Jüngerinnen und Jüngern erschienen. Und nun kommt noch etwas. Mal sehen, mal hören, was es ist:

(Joh. 21, 1-14)

„Danach offenbarte sich Jesus abermals den Jüngern am See von Tiberias. Er offenbarte sich aber so: Es waren beieinander Simon Petrus und Thomas, der Zwilling genannt wird, und Nathanael aus Kana in Galiläa und die Söhne des Zebedäus und zwei andere seiner Jünger. Spricht Simon Petrus zu ihnen: Ich gehe fischen. Sie sprechen zu ihm: Wir kommen mit dir. Sie gingen hinaus und stiegen in das Boot, und in dieser Nacht fingen sie nichts.
Als es aber schon Morgen war, stand Jesus am Ufer, aber die Jünger wussten nicht, dass es Jesus war. Spricht Jesus zu ihnen: Kinder,habt ihr nichts zu essen? Sie antworteten ihm: Nein. Er aber sprach zu ihnen: Werft das Netz aus zur Rechten des Bootes, so werdet ihr finden. Da warfen sie es aus und konnten’s nicht mehr ziehen wegen der Menge der Fische.
Da spricht der Jünger, den Jesus lieb hatte, zu Petrus: Es ist der Herr! Als Simon Petrus hörte: »Es ist der Herr«, da gürtete er sich das Obergewand um, denn er war nackt, und warf sich in den See.
Die andern Jünger aber kamen mit dem Boot, denn sie waren nicht fern vom Land, nur etwa zweihundert Ellen, und zogen das Netz mit den Fischen. Als sie nun an Land stiegen, sahen sie ein Kohlenfeuer am Boden und Fisch darauf und Brot. Spricht Jesus zu ihnen: Bringt von den Fischen, die ihr jetzt gefangen habt! Simon Petrus stieg herauf und zog das Netz an Land, voll großer Fische, hundertdreiundfünfzig. Und obwohl es so viele waren, zerriss doch das Netz nicht.
Spricht Jesus zu ihnen: Kommt und haltet das Mahl! Niemand aber unter den Jüngern wagte, ihn zu fragen: Wer bist du? Denn sie wussten: Es ist der Herr. Da kommt Jesus und nimmt das Brot und gibt’s ihnen, desgleichen auch den Fisch.
Das ist nun das dritte Mal, dass sich Jesus den Jüngern offenbarte, nachdem er von den Toten auferstanden war.“

Liebe Gemeinde, das lateinische Wort für Erinnerung heißt memoria. Memoria ist eine Gedächtnis- und Erinnerungskultur, die über Jahrhunderte praktiziert und über die in der Gegenwart schon viel geforscht und reflektiert wurde. Auch als Gemeinde begegnet sie uns in einer oft gehörten Formulierung aus der Abendmahlsliturgie beim Emporheben des Kelches: „Solches tut zu meinem Gedächtnis.“

Was hat es mit dieser Kultur des Erinnerns und Gedenkens auf sich?

Ich versuche die Erinnerung aus einer alltäglichen Erfahrung heraus für uns verständlich zu machen. Denn vielleicht kennen Sie das selbst: Sie haben einen Menschen, der ihnen wichtig war, verloren; durch Tod, durch Trennung, durch Entfremdung oder schlicht durch Umzug. In der ersten Zeit speist sich ihre Erinnerung an diesen Menschen aus den Bildern, die an ihrem inneren Auge vorüber ziehen. Es sind Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse, an Unternehmungen, einzelne Situation. „Bilder der Erinnerung“ ist das richtige Wort dafür, denn tatsächlich sind es sozusagen stehende Bilder, die wir verinnerlicht haben und immer wieder – auch um uns über den Verlust hinwegzutrösten – wach rufen. Wir blättern dann wie in einem mentalen Fotoalbum. Und wirklich! Häufig sind es ja für uns heutige Menschen die Fotografien – seien es die im Fotoalbum, seien es die auf dem Handy –, die uns erinnern helfen. Und seien wir ehrlich, manchmal können wir in unsern Köpfen abgespeicherte Fotos gar nicht mehr von echten Erinnerungen unterscheiden.

Nach dem Verlust eines nahen Menschen erinnern wir uns zunächst über Bilder. Das tut gut. Doch dann beginnt ein weiterer Prozess, ein anderer. Dafür braucht es Zeit und Abstand. Nach und nach sind es nicht mehr nur erstarrte Bilder, sondern im Nachdenken und Erinnern wird uns plötzlich klar, was uns dieser Mensch bedeutet hat, welche Dimension er oder sie in unserm Leben gehabt hat, welche Impulse wir von diesem Menschen erhalten haben und was das gemeinsam gegangene Stück Lebensweg mit mir und aus mir gemacht hat. Jetzt erst kommt der Trost. Und nun sind es auch nicht mehr bloße fotografische Bilder, sondern es sind ein Gefühl, eine Stimmung, es ist ein Wohlbehagen … oder auch ein Unbehagen, die Teil der Erinnerung werden. Die Erinnerung fügt den konkreten Bildern nun etwas Wesentliches hinzu: die Einsicht und die Überzeugung, was an diesem Menschen, der nicht mehr um mich ist, das Besondere gewesen ist. Was ihn ausgemacht und was von ihr ausgegangen ist. So erst, mit dem Bewusstsein für das Einzigartige, wird die Erinnerung zur Memoria. Sie überdauert und besteht auch dann noch, wenn längst alle Fotos vergilbt und alle Festplatten gelöscht sind.

So auch unser Predigttext.

Das Johannesevangelium hat uns eine Fülle von Geschichten an die Hand gegeben, mit denen es möglich ist, sich täglich Jesu Leben und Wirken und dann auch sein Leiden, seinen Tod und seine Auferstehung in Erinnerung zu rufen. Diese Geschichten sind wie Bilder und Fotografien. Sie helfen uns, uns zu erinnern. Sie halten unsern Glauben wach. Ich muss, wenn ich das beschreibe, an die Kindergottesdienstbildchen meiner Kindheit in Eisenach denken. Kleine gedruckte Zeichnungen in quadratischem Format: Jesus segnet eine Schar herziger Kinder, in deren Mitte er steht. Oder: zwei Frauen auf dem Weg zum Grab mit gerunzelter Stirn [„Wer rollt uns den Stein weg?“], aber der Stein ist schon weg.

Und nun gibt es zum Johannesevangelium diesen Anhang, diesen Nachtrag. Er wird uns wie eine Art Konzentrat oder Fazit des Evangeliums mitgegeben. Wir haben soviel gelesen über Jesus. Aber was  machte ihn eigentlich aus? Was soll bleiben von ihm in unserer Erinnerung?

Die Jünger nach Ostern fischen am See Tiberias. Sie gehen ihrer Arbeit nach, sind zum Alltag zurückgekehrt. Da offenbart sich ihnen Jesus. Er steht am Ufer. Auf seinen Rat hin fischen sie nach vergeblichem Zug erneut. Das Netz, es ist so voll, dass sie es nur mit Mühe an Land schaffen können. Dort, am Seeufer, steht Jesus. Er erwartet sie mit einem Mahl: mit Brot und gebratenem Fisch.

Alles Wesentliche ist hier gesagt:
Jesus begleitet uns über Ostern hinaus in unsern Alltag. Er ist da, wo wir sind. Dort schenkt er unerwartete Fülle.

Und:

Jesus hält mit uns Gemeinschaft im Mahl. Er versorgt uns mit dem Lebensnotwendigen – bei Johannes mit gebratenen Fischen. Und Jesus teilt mit uns das Brot des Lebens. Dadurch legt er den Grund einer liebevollen Verbundenheit unter denen, die sich in seinem Namen versammeln.

Gern, liebe Gemeinde, würde ich mit Ihnen am Seeufer stehen und im Namen Jesu auf einem Kohlfeuer gebratene Fische und frisches Brot teilen.

Gerade will ich meinen Predigttext zuklappen. Ich glaube, er hat sich mir erschlossen. Aber halt! Da funkelt doch noch was … Habe ich doch noch etwas übersehen? Ich schlage den Text noch einmal auf, trete etwas zurück, um besser erkennen zu können. Und ja! Jetzt sehe ich, woher das Funkeln kommt. Es sind nur zwei Worte. Doch sie stehen ganz genau in der Mitte: „Der Herr ist's.“ So erkennt der Lieblingsjünger vom Boot aus Jesus, der am Ufer steht.

Diesen funkelnden Edelstein mitten aus der Mitte des Textes nehme ich mit. „Der Herr ist's.“ Der Gekreuzigte. Der Auferstandene. Der, der lebt. Der, der mit mir geht. „Der Herr ist's.“

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und unser Beginnen in Christo Jesu. Amen

Prädikantin Dr. Almuth Märker
almuth.maerker@web.de