Predigt über Johannes 4,46-54

  • 22.01.2017 , 3. Sonntag nach Epiphanias
  • Vikarin Teresa Tenbergen

Gnade sei mit euch, und Friede von dem, der da ist und der da war, und der da kommt. Amen.

Auf der Bühne geht das Licht an. Sie ist noch leer, an die Kulisse ist eine dörfliche Siedlung gemalt. Es könnte überall sein. Der Mann, der nun seinen Auftritt hat, wirkt abgehetzt. Seine Kleidung ist edel, aber staubig. Suchend sieht er sich um, voller Unruhe. Sein Körper verrät seine Anspannung und zugleich große Erschöpfung. Er scheint eine Weile unterwegs gewesen zu sein. Endlich sind Stimmen zu hören, eine kleine Gruppe taucht am Bühnenrand auf, einige Männer und Frauen, so in die Unterhaltung vertieft, dass sie den Mann nicht wahrnehmen. Gesprächsfetzen dringen durch den Raum. Der dort Wartende scheint sie nicht zu hören, sein Blick ist fest gerichtet auf einen Mann in der Mitte der kleinen Gruppe. Als wären da keinen anderen Menschen, als wäre da keine Zeit und kein Raum, eilt er ihm entgegen, unterbricht die Unterhaltung. Er bittet ihn, mit ihm zu gehen und seinen Sohn zu heilen, der todkrank sei. Mehr Worte macht er nicht. Aber seine Körpersprache verrät, wie ernst es ihm ist. Fast scheint es, als wolle er den Anderen mit sich ziehen, ihn, den sie Jeschua nennen, Jesus. Aber der weicht zurück. Sein Blick ist seltsam hart, als er dem Bittenden diesen Brocken Text hinwirft: „Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so glaubt ihr nicht." Als hätte er ihn nicht gehört und ohne seinen Abstand zu verändern, wiederholt der gut Gekleidete laut und dringlich: „Komm herab, ehe mein Kind stirbt, Kyrie, Herr." Die Menschen der Gruppe sind nicht mehr zu sehen, die Scheinwerfer sind ausschließlich auf die beiden Männer gerichtet. Sie sehen sich an. Die Stille ist kaum auszuhalten. Und dann endlich antwortet Jesus tatsächlich: „Geh hin, dein Sohn lebt!" Der Andere nickt nur. Wie benommen dreht er sich weg, geht, rennt. Die Drehbühne ist sein Widerstand, ihrer Bewegung entgegengesetzt läuft er. Und am Bühnenhimmel geht die Sonne unter und wieder auf. Und er läuft, bis ihm andere Menschen entgegenkommen. Sie rufen seinen Namen, reißen ihn mit sich, in ihr Lachen mischen sich Tränen und darunter ihr Ruf: Dein Sohn lebt. Und der Mann lacht und er weint mit ihnen. Und als sie die Sprache wiedergefunden haben, fragt er nach, denn Zeit und Raum haben plötzlich wieder Bedeutung. Wann? Ja, zu eben dieser Zeit, da der Andere oben in Kana ihm in die Augen gesehen und gesagt hatte: dein Sohn lebt. Und wieder lacht der Mann und das Bühnenlicht taucht den Tag in Glanz, als er seinem Haus entgegenläuft, seinen Sohn in die Arme zu nehmen. Und dann schließt sich der Vorhang.

Da sitze ich in unserem sonntäglichen Zuschauerraum und blinzele nach links und rechts. Wie mag es den Menschen neben mir gegangen sein mit diesem von Johannes so eindrücklich inszenierten Bühnenstück? Was haben die Konfirmandinnen und Konfirmanden gedacht, die eben getauft wurden? Ist das eine Geschichte ihres Glaubens? Was haben ihre Eltern empfunden, für die doch das Leben ihrer Kinder so kostbar ist wie für den Vater auf der Bühne? Was mag die Frau gedacht haben, deren eigene Diagnose nur noch durch ein Wunder verändert werden könnte? Was der Mann, dessen Familie gerade zerbrach und dem das in Licht getauchte Ende mehr als fern ist? Und wie ging das eigentlich weiter, nachdem der Vorhang gefallen war? Blieb das heil?
Wir sind Zuschauerinnen und Zuschauer dieses Stücks. Wir sehen es mit den je eigenen Augen. Mit den Glaubens- und Lebenserfahrungen, die wir gemacht haben oder auch nicht. Bei den biblischen Texten, die das Wirken Gottes jenseits rational erklärbarer Zusammenhänge beschreiben, gilt das vielleicht in besonderer Weise. Nicht von ungefähr gibt es innerhalb der Theologiegeschichte ein sehr breites Feld von Deutungen solcher Wunder-Erzählungen. Wir sind und wir bleiben Zuschauerinnen und Zuschauer dieses Stücks. Und nehmen zugleich auch unsere Rollen in ihm ein. Denn das, was in den handelnden Personen der johanneischen Inszenierung da zur Aufführung kommt, fragt durchaus existentiell nach unserem Platz zwischen Bühne und Zuschauerraum:
Das Stück von der Heilung des königlichen Beamtensohnes erzählt von Grenzerfahrungen. Ja, es geht um Grenzen. Die ganz wörtlichen und die, die unausgesprochen da sind. Jesus hatte schon Grenzen übertreten, zuerst in Jerusalem, als er die Händler aus dem Tempel getrieben hatte und dann unterwegs, als er mit der Frau aus Samarien sprach, als wäre er kein Jude und sie keine Samaritanerin. Und jetzt ist er hier, in Galiläa, auf dem Land, fernab des urbanen Lebensstils. In Kana, wo das mit den Zeichen und Wundern doch angefangen hatte. Und auch der Mann, der da zu ihm tritt, hat Grenzen überschritten. Die seines eigenen Standes. Immerhin gehört er an den königlichen Hof. Er hätte Jesus nicht selbst aufsuchen müssen. Aber er übertritt diese Grenze. Und die seiner Angst. Schon ein normales Fieber kann Eltern in Schrecken versetzen. Dieses aber hätte seinen Sohn in den Tod geführt. Vielleicht gehört das zu den äußersten Grenzerfahrungen, die ein Mensch machen kann. Aber der Mann bleibt nicht in seiner Angst. Er sucht einen Ort für sie. Und überschreitet dabei seine eigenen Grenzen.
Das Bauen von Zäunen an den Grenzen der Angst bringt keine Sicherheit, nur größere Angst.
Wenn das Licht angeht auf der Bühne und auf einen Menschen fällt, der sich in völkischen und geschichtsvergessenen Parolen ereifert und sich der Angst in den Herzen von Menschen bedienen will, um Zäune zu bauen, dann würde ich gerne ein Stück sehen, in dem die umstehenden Zuhörer nicht jubeln. Sondern einfach weggehen. Und die mit sich ziehen, die sich ängstigen.
Der Weg hinaus geht manchmal nur über die eigene Grenze der Angst. Aber er führt weit.
Das Stück von der Heilung des königlichen Beamtensohnes erzählt nämlich auch von Veränderung. Von einer tatsächlichen Veränderung. Auf der Bühne ist das nur bei genauem Hinsehen zu erkennen, aber die Regieanweisungen von Johannes machen es sehr deutlich: Der königliche Beamte wird am Anfang der Erzählung als „ein Mann" bezeichnet, im Griechischen sogar nur einfach „irgendeiner". Als Jesus ihn zu seinem Sohn zurückschickt, heißt es von ihm: „der Mensch glaubte dem Wort". Und dann schließlich, als er all das Geschehene auch mit seinem Verstand zu fassen beginnt, da erkennt er die Situation als „Vater". Er wird erst im Laufe der Erzählung zu dem, der er hatte sein wollen die ganze Zeit. Erst, als Gott ihn trifft in seinem tiefsten Menschsein, als er im neu geschenkten Leben seines Sohnes dem Lebendigen begegnet, da ist er ganz und gar bei sich angekommen.
Spätestens jetzt würde ich mich gerne ein bisschen mehr in Richtung Bühne vorwagen. Es zieht mich hinein in dieses Stück.
Und ich sehe erst jetzt: Dass die Rückkehr ins Leben für den Sohn des königlichen Beamten ohne eine Berührung, ohne eine Tat Jesu auskommt, steht in der Inszenierung von Johannes für eine Wirklichkeit, die schon über das Wirken Jesu in dieser Welt hinausweist. In dem Satz: „Dein Sohn lebt", da klingt auch schon das Nachösterliche. Jesus verheißt den Seinen den Geist Gottes, der ihnen bleibt. Das Stück von der Heilung des königlichen Beamtensohnes erzählt auch von der Geistes-Gegenwart Gottes. Dieser Geist Gottes wirkt Leben. Das sprengt auch eine Verengung auf: Heilung muss nicht notwendigerweise Gesundheit bedeuten. Heilung bedeutet Leben, das Veränderungen, Grenzüberschreitungen einschließt. In der Geistes-Gegenwart Gottes ist das eigentliche Wunder die Erfahrung von Leben in der Realität des Todes. Der Sohn des königlichen Beamten wird irgendwann sterben. Und jeder glaubende Mensch kann mit dem Ausbleiben des Wunders konfrontiert sein. Ein Bühnenstück wie dieses löst unsere Wirklichkeit nicht auf. Aber es vermag sie zu beleuchten. Dass bei Johannes von Zeichen die Rede ist, weist über ein situatives Wunder noch hinaus. Zeichen kommt von zeigen. Gott zeigt sich als der, der er ist. Der Menschen begegnet. Der Grenzen überschreitet und Leben verändert. Dessen Geist zu einem weiten Leben befreit.
Nun bin ich mittendrin im Bühnengeschehen. In einer Schwebe zwischen Vertrauen und Glauben und eigenem Tun.
Ich ersehne und ich glaube an die welt- und lebensverändernde Geistes-Gegenwart Gottes, die mir unverfügbar bleibt. Und bin doch nie nur Zuschauerin.
In der Mitte der Bühne steht der, der mir zuruft: Geh hin, denn du lebst.
Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus, unserem Herrn.