Predigt über Johannes 9,1-7

  • 02.08.2020 , 8. Sonntag nach Trinitatis
  • Pfarrer Martin Hundertmark

 

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

 

Liebe Gemeinde,

wir suchen gerne Ursachen für allerlei Dinge, die uns Mühe bereiten, sie zu verstehen. Für die Naturwissenschaft ist dieser Drang die Energiequelle für immer weiteres Forschen. Was war am Anfang? Wo kommen wir her? Welche Zusammenhänge gibt es? Sind sie gefunden, lassen sich Dinge erklären und die daraus notwendigen Schlüsse ziehen. Im besten Falle wird Leben lebenswerter und bequemer bzw. attraktiver.

Jede Krankheit ist eine gerechte Strafe für eine begangene Sünde – so glaubten Jesu Zeitgenossen und viele Generationen vor ihnen. Schon damals stockte den Menschen der Atem beim Lesen oder Hören solcher Sätze.

Krankheit als Strafe Gottes? Wie soll das zusammen gehen, wird z. B. ein Neugeborenes in den Blick genommen. Was kann ein Kind für seine Krankheit, wenn es blind zur Welt kommt? Wenn es schon Schuldige gibt, müsste man diese dann doch eher bei den Eltern suchen? Aber auch hier kommen wir schnell an Grenzen. Denn die Frage ließe sich weiter stellen. Was können die Eltern dafür, dass ihr Kind krank geboren wird?

Nun mag man einwenden, dass es durchaus gewisse Kausalitäten gibt zwischen gesundheitlicher Verantwortung für den eigenen Körper und dementsprechenden Krankheiten, pauschal jedoch führt die Argumentationskette:

Krankheit = Strafe für Sünde ins Abseits, weil dem davon Betroffenen neben aller Lebenslast auch noch die Verantwortung für seine Schwierigkeiten aufgebürdet wird. Daran kann man schlicht nur zerbrechen.

Jesus will heilen, was zerbrochen ist. Deshalb durchbricht er diese Kette. Mehrfach wird davon in der Bibel erzählt. Am heutigen Sonntag hören wir eine Version des Evangelisten Johannes aus dem 9. Kapitel seines Evangeliums:

 „1 Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. 2 Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? 3 Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. 4 Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. 5 Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. 6 Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden 7 und sprach zu ihm: Geh zu dem Teich Siloah – das heißt übersetzt: gesandt – und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.“

Die Antwort Jesu auf die Kausalkettenfrage ist auch hier recht eindeutig:
Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern.“ Damit wird der Deckel auf das unselige Schuldzuweisen gelegt.

Trotzdem: Wie geht es weiter? Die Geschichte des heutigen Sonntags macht den Blinden am Wegesrand, welcher im Vorübergehen entdeckt wird, zum Objekt und erst später zum Subjekt.
Denn im zweiten Teil der Antwort sagt er:
„es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.“
Damit ist die Richtung klar: Es geht um Christi Handeln und Wirken. Ihn ihm wird Gott erkannt als derjenige, der ihn in die Welt gesandt hat. Im Kapitel zuvor wird mit einem der eindrücklichsten Symbole des Johannesevangeliums deutlich, wozu ihn Gott gesandt hat: Christus ist das Licht der Welt.
Als solches durchbricht er die Dunkelheit oder im Duktus des Predigttextes gesprochen – eröffnet er neue Sichtweisen und Sehhorizonte.
Dabei zeigt Jesus einen einzigartigen, durchaus feinsinnigen und manchmal auch recht schwarzen Humor.
Er spuckt auf die Erde, an sich ist das eine recht unappetitliche Angelegenheit. Wer vor jemanden anderen ausspuckt drückt damit seine Verachtung aus. Zu spuckenden Dreißigjährigen würde uns an erster Stelle wohl eher nicht Jesus einfallen, sondern eher Frank Rijkaard und Rudi Völler. Aber wohin Jesus spuckt ist schon eine Form des feinsinnigen Humors. Er spuckt in den Staub und verrührt diesen zu einem Brei.
Damit war klar, hier wird der Schöpfer tätig. Im zweiten Schöpfungsbericht, kreiert Gott aus dem Staub der Erde den Menschen.
Nun werden die Augen des Blinden mit diesem Brei bestrichen. Damit ist das Werk des Schöpfers getan, aber noch nichts passiert.
Jesus schickt den somit bekleisterten zum Teich Siloah – ein feinsinniges Wortspiel, heißt doch Siloha „gesandt“. Aber wie bitteschön soll denn der Blinde, nun auch noch mit Erdbrei bestrichenen Augen, diesen Teich überhaupt finden? Denn erst nach dem Auswaschen der Augen wird der Blinde ja sehend.

Nicht sehen können
Jesu Heilungswunder ist deshalb so bemerkenswert, weil zu seiner Zeit Blindheit als schlicht unheilbar galt. Indem er es tut, zeigt sich darin seine schöpferische Kraft und infolgedessen die Offenbarung als Gottessohn.
Dem Geheilten Blinden offenbart sich Jesus als der, der er ist und provoziert dadurch dessen Glaubensbekenntnis.
Dort, wo wir blind vorrübergehen, dort, wo uns das Sichtfeld aufgrund eingeübter Bequemlichkeit eingeschränkt ist, will uns Jesus zur Sehhilfe werden.
Er sieht den Blinden, an dem alle sonst vorrübergehen am Wegesrand. Er sieht ihn zuallererst als Menschen, richtet ihn auf und eröffnet ihm dadurch eine neue Sicht auf sein Leben und infolgedessen auch Entwicklungsmöglichkeiten in eigener Verantwortung.
Alle Umstehenden können die sehen, aber erkennen tun sie es nicht. Jesus spielt mit dem Motiv der Blindheit auch bei körperlich unversehrten Menschen.
Wer ihn aber erkennt als denjenigen, der Menschen im direkten Anschauen ihre Würde gibt, bei dem verändert sich auch die eigene Sichtweise.

Die Geschichte geht weiter

Wer Licht ins Dunkle bringt, eckt an. Dem Blinden vom Wegesrand sind zwar die Augen geöffnet, aber er steht plötzlich alleine da. Keiner will ihm glauben. Jetzt wird er zum Subjekt und handelt selber, indem er für sich selber spricht.
Sein Bekenntnis zu Christus wird zum Ausschlusskriterium aus der Gemeinschaft. So werden am Ende des 9. Kapitels die Blinden sehend, weil sie in Christus den Schöpfer und Heiland erkennen und die Sehenden bleiben gefangen in ihrer Dunkelheit, weil sie nicht wahrhaben wollen, dass im Gottessohn die Kraft für Veränderungen innewohnt. Anstatt sich darauf neugierig und hoffnungsvoll einzulassen, verharrt man lieber in den alten Denkmustern.
Jesus traut uns zu, ihm auch in Taten nachzufolgen, in dem wir Licht in manches am Wegrand des Lebens fristendes Dasein bringen.
Denn wir sind Salz der Erde und Licht der Welt.
Solchermaßen begabt, vermögen wir, die Dinge zum Besseren zu bewegen. Welch großartige Zusage und Zumutung zugleich, liebe Gemeinde,
raus aus dem Schneckenhaus des privatgelebten Glaubens hinein in eine Welt, die uns schlicht braucht! Da gibt es keinen Aufschub. Jetzt ist die Zeit, sagt Jesus Christus. Jetzt ist Zeit, den Menschen im Mitmenschen zu entdecken – jenseits aller augenscheinlichen Dinge.
Er ermutigt uns, das allseits beliebte, ausflüchtende „man müsste“ in ein tatkräftiges „ich mache es jetzt“ zu verwandeln.
Dafür nötige Schritte mögen zu Beginn klein sein. Wichtig ist, dass sie gegangen werden voller Mut, voller Glauben, voller Hoffnung und voller Liebe.

Amen. Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unser Verstehen, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.