Predigt über Kolosser 2,12-15

  • 24.04.2022 , 1. Sonntag nach Ostern - Quasimodogeniti
  • Prof. Dr. Andreas Schüle

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen.

 

 

Liebe Gemeinde,

 

sicher kennen Sie das Schmetterlingshaus im Botanischen Garten der Universität. Gerade zu dieser Jahreszeit, wo es draußen manchmal noch kühl ist, gehe ich gerne dorthin, weil es so schön tropisch warm ist. Und natürlich sind die bunten Falter gut fürs Gemüt, gerade in Zeiten, wo man gut daran tut, sich an den einfachen Dingen zu erfreuen. Bei einem Besuch – es ist inzwischen schon ein bisschen her – war da auch eine Familie mit kleinen Kindern. Gleich am Eingang gibt es ein Terrarium, wo man an einem Ast hängend die Kokons sehen kann, aus dem die Schmetterlinge schlüpfen. Der Vater erklärte seiner Tochter: ‚Wenn eine Raupe soweit ist, dann spinnt sie sich in einen Kokon ein, und nach einiger Zeit wird daraus ein Schmetterling.‘ Das Mädchen schaute ein wenig skeptisch und war noch nicht so ganz überzeugt. ‚Da muss sich der Schmetterling aber ganz ganz klein machen, dass er da reinpasst‘, grinste sie ihren Papa an. Sie schaute nochmal hin, und man merkte, wie die Sache an ihr arbeitete. Irgendwann strahlte sie dann auf einmal, und es brach aus ihr heraus: ‚Ich bin auch als kleiner Schmetterling auf die Welt gekommen!‘ Der Papa belehrte: ‚Ne ne, bei uns geht das anders. Du warst ein Baby bei Mama im Bauch.‘ ‚Doch, doch, ich bin auch ein Schmetterling‘, trotzte sie zurück und hüpfte und tanzte und schlug mit ihren Armen, als wären ihr tatsächlich gerade kleine Flügel gewachsen.

 

Quasimodogeniti infantes, nach Art der unmündigen Kinder, so heißt unser Sonntag. Und tatsächlich: Wäre diese Begebenheit im Botanischen Garten eine Theologieprüfung gewesen, hätte das kleine Mädchen mit wehenden Fahnen bestanden, und der Papa wäre krachend durchgefallen. Denn tatsächlich sind Raupe und Schmetterling seit früher Zeit Ostersymbole der Kirche. Sie stehen für Verwandlung, für das Zerbrechen einer toten Schale, aus der sich neues Leben erhebt. Christi Auferstehung ist die Verwandlung in ein neues Leben, das die Reste einer toten Existenz hinter sich lässt. Das ist nicht nur eine Geschichte, die wir uns einmal im Jahr erzählen, sondern das Geheimnis allen Glaubens: In jedem Moment unseres Lebens vollzieht sich beides, sterben und auferstehen; etwas Altes, Verbrauchtes zurücklassen und in etwas Neues, Lebendiges hineinwachsen. Karfreitag und Ostersonntag sind für den christlichen Glauben nicht nur zwei Tage im Jahr, sondern Realitäten, die unsere ganze Existenz bestimmen. Das Mädchen im Botanischen Garten konnte sich ganz spielerisch auf diesen Gedanken eingelassen – eine Leichtigkeit, die einem verlorengeht, je mehr man im vermeintlich erwachsenen Leben ankommt.

 

Auch der Autor unseres Predigttextes, Paulus, möchte seinen Adressaten diese elementare Wahrheit über das christliche Leben in Erinnerung rufen, möchte sie wachrütteln, möchte, dass der Glanz von Ostern nicht zur kirchlichen Saisonware verkommt, sondern mitgeht, wenn der dunsttrübe Alltag weitergeht. Das klingt so:

Mit Christus seid ihr begraben worden in der Taufe; mit ihm seid ihr auch auferweckt durch den Glauben aus der Kraft Gottes, der ihn auferweckt hat von den Toten. Und Gott hat euch mit ihm lebendig gemacht, die ihr tot wart in den Sünden und in der Unbeschnittenheit eures Fleisches, und hat uns vergeben alle Sünden. Er hat den Schuldbrief getilgt, der mit seinen Forderungen gegen uns war, und hat ihn aufgehoben und an das Kreuz geheftet. Er hat die Mächte und Gewalten ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt und über sie triumphiert in Christus.

Zugegeben, das ist nun sehr erwachsene, religiöse Sprache – fernab von dem Erlebnis des Mädchens im Botanischen Garten. Paulus spricht hier Menschen an, die vielleicht ein bisschen zu erwachsen geworden sind. Paulus spricht zu Menschen, die – wir würden sagen – ‚angekommen‘ sind, und zwar so sehr, dass ihnen der eigene Bauchnabel zum Zentrum ihres Weltbildes geworden ist. Christlich leben, österlich leben ist etwas anderes: Es bedeutet zu verstehen, dass ich Teil einer unerlösten Welt bin, die sich selbst verbraucht, aufzehrt und keine Zukunft hat – eine Welt die, wie Paulus sagt, am Kreuz stirbt. Es bedeutet aber auch, dass ich Teil einer Welt bin, die neu wird und sich verwandelt; eine Welt, in der Dinge heil werden und dem Sog des Todes widerstehen. Das meint Paulus mit dem Leben aus der Auferstehung Christi.

 

Für den christlichen Glauben führen wir im Grund zwei Leben gleichzeitig: Ein Leben, das stirbt, und ein Leben, das aufersteht. Und es kommt darauf an, beides an sich geschehen zu lassen. Das ist sicher nicht, was die meisten Zeitgenossen erleben oder überhaupt wollen. Menschen heute leben im Moment und treten auf der Stelle. Real ist, was jetzt dran ist. Nach zwei Jahren Pandemie hinter uns und wer weiß wie viele Jahre Kriegsgeschehen vor uns staucht sich das Leben zusammen. Da will man irgendwie halbwegs ungestreift durchkommen.

 

Deswegen beschränken sich viele Menschen auf die Welt um sie herum: den Partner, die Partnerin, Familie, den unmittelbaren Freundeskreis. Wo so vieles fraglich, unsicher oder willkürlich geworden ist, braucht es sicheren Boden unter den Füßen – selbst wenn das nur ein paar Quadratzentimeter sind. Das ist verständlich, vielleicht auch nötig und heilsam. Manchmal muss man sich irgendwo einkuscheln, einfach nur durchatmen und hoffen, dass alles wieder freundlicher aussieht, wenn man aufwacht.

 

Damit sind wir gar nicht so weit weg von den Frauen und Männern, die den ersten Karfreitag und das erste Ostern erlebt haben. Nach dem Horror der Kreuzigung und den nicht weniger verstörenden Erlebnissen am leeren Grab, verkrochen sich diese ersten Christinnen und Christen erst einmal – irgendwo in den Winkeln Jerusalems oder fernab vom Schuss in den Dörfern Galiläas. Und vielleicht warteten sie, wie auch wir in unseren Tagen, auf bessere Zeiten, wenn das Leben nicht mehr so beschwerlich und so niederschmetternd sein würde. Aber es geschah etwas anderes. Sie begannen zu begreifen, dass Karfreitag und Ostern von nun an ihr ganzes Leben begleiten würden.

 

Seit Karfreitag und Ostern hat die Welt eine andere Tiefe und eine andere Höhe. Seit Karfreitag und Ostern ist unsere Trauer abgründiger, aber unsere Freude auch heller geworden. Seit Karfreitag gibt es keinen Grund mehr, für Leid und Tod Erklärungen und Entschuldigungen zu finden. Und seit Ostern dürfen wir daran glauben und müssen uns mit nicht weniger zufriedengeben als mit dem neuen Leben des Auferstandenen.

 

Dieser Glaube, liebe Gemeinde, macht die Welt nicht hübscher, entspannter oder gefälliger. Wer einfach nur ein Leben irgendwo mittendrin und hart am Durchschnitt haben möchte, braucht keinen Glauben. Da reicht auch schon ein bisschen Spiritualität oder irgendetwas Religiöses. Nein, Glaube heißt, sich mit allem, was man ist und hat, dem Gekreuzigten und Auferstanden in die Arme werfen und so die Welt überwinden.

 

Paulus findet dazu mutige Worte, über die ich lange nachdenken musste. Er schreibt am Ende unseres Predigttextes: „Gott hat die Mächte und Gewalten ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt und über sie triumphiert in Christus.“ Das ist eine kühne Ansage. Vielleicht zu kühn? Vielleicht ein bisschen zu selbstbewusst? Wir erleben ja gerade, dass es nicht weit vor unserer Haustüre Mächte und Gewalten gibt, die Leid und Elend verbreiten. Ist das, was in der Ukraine passiert, nicht gerade die zynische Widerlegung dessen, was Paulus schreibt? Da ist ein Mächtiger, ein Diktator, der nicht nur flächendeckend Menschen umbringt, sondern dabei auch noch uns hier am Gängelband führt, weil es ohne dessen Öl und Gas ungemütlich und für diejenigen mit schmalem Geldbeutel sogar kritisch werden könnte.

 

Hat dieser Diktator also schon gewonnen, egal wie es am Ende ausgehen wird? Ja, das hat er – dann nämlich, wenn wir, wie das Volk am Karfreitag wütend, gelähmt, betroffen oder gar ein bisschen voyeuristischer auf die Bilder von zerstörten Häusern und leblosen Körpern am Straßenrand starren. Er hat gewonnen, wenn wir uns mehr um den Wohlstand sorgen, der uns so langsam durch die Finger rinnt, als um die Menschen, die vor dem Nichts stehen. Er hat gewonnen, wenn der Krieg im Osten zur Profilierungschance der Politik im Westen umgebogen wird. Und er hat gewonnen, wenn wir uns darüber zerfleischen, wie man nun politisch korrekt für oder gegen Russland zu sein hat.

 

Aber was, wenn wir beginnen so zu denken und zu leben, wie Paulus uns das zuruft: „mit Christus seid ihr auferweckt durch den Glauben aus der Kraft Gottes. Und Gott hat euch mit ihm lebendig gemacht, die ihr tot wart.“ Lassen wir uns dieses Leben zusagen? Wir sind inzwischen so geübt darin, uns in den Kokon all der Krisen und Katastrophen um uns herum einzuspinnen, dass uns dieser Kokon schon fast zur zweiten Haut geworden ist. Aber wenn wir denn wirklich am Ostermorgen ankommen in der Art, wie wir denken und leben, trauern und hoffen, fallen und aufstehen, weinen und lachen, dann wird der Mächtige, der die Welt in Geiselhaft hält, als das erkennbar, was er für den Glauben ist: ein aus der Zeit gefallener, ewig gestriger Aggressor, für dessen Gewalt es am Ende keine Zukunft gibt. Das heißt nicht die rosa Brille aufsetzen, aber es heißt ernst nehmen und das eigene Leben davon bestimmen lassen, dass auf Karfreitag Ostern folgt, dass der Schmetterling nicht in seinem Kokon bleibt, sondern die Flügel spreizt und fliegt.

 

Vor etwas über 50 Jahren hat der große Theologe und ‚Kirchenvater des 20. Jahrhunderts‘, Karl Barth, am Vorabend seines Todes folgende Sätze gesagt, die aktueller nicht sein könnten: „Ja, die Welt ist dunkel. .... Nur ja die Ohren nicht hängen lassen! Nie! Denn es wird regiert, nicht nur in Moskau oder in Washington oder in Peking, sondern es wird regiert, und zwar hier auf Erden, aber ganz von oben, vom Himmel her! Das mag uns daran erinnern, dass wir nicht die Ersten sind und nicht die Letzten sein werden, die durch harte Zeiten gehen. Vor allem aber sagen diese Sätze, was Ostern ist und wie es Ostern bleibt, weil wir mit Christus auferweckt sind durch den Glauben aus der Kraft Gottes. Und Gott hat uns mit Christus lebendig gemacht, die wir tot waren.

 

Amen.