Predigt über Lukas, 18,28-30

  • 24.09.2017 , 15. Sonntag nach Trinitatis
  • Prof. Dr. Andreas Schüle

Gnade sei mit uns und Friede von Gott dem Vater und unserem Herrn Jesus Christus.

Der Predigttext für den heutigen Sonntag ist ein kurzer Abschnitt aus dem Lukasevangelium, im 18. Kapitel, Verse 28-30:

28 Da sprach Petrus: Siehe, wir haben, was wir hatten, verlassen und sind dir nachgefolgt. 29 Er aber sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Es ist niemand, der Haus oder Frau oder Brüder oder Eltern oder Kinder verlässt um des Reiches Gottes willen, 30 der es nicht vielfach wieder empfange in dieser Zeit und in der kommenden Welt das ewige Leben.

Liebe Gemeinde,

Stellen Sie sich vor, unter den vielen Wahlplakaten, die uns in den letzten Wochen rechts und links des Weges begegnet sind, wäre auch eines gewesen, das einen jungen, orientalisch aussehenden Mann mit ernster Mine gezeigt hätte und daneben als Slogan: „Verlasst alles und folgt mir nach!" Vermutlich wären Sie mindestens stutzig geworden, möglicherweise hätten Sie sogar zum Telefonhörer gegriffen und beim Verfassungsschutz nachgefragt, ob so etwas denn rechtens sei. Nein, wir haben es nicht so mit Menschen, denen wir nachfolgen sollen, schon gar nicht, wenn man den Eindruck hat, dass das etwas mit religiöser Ideologie oder gar mit Fundamentalismus zu tun hat. Für Menschen, die irgendwelchen Dämagogen und selbsternannten Heilsbringern hinterherlaufen, gibt es in unserer Welt zu viele Beispiele, die alle eines gemeinsam haben, nämlich dass sie immer in Einschüchterung, Gewalt und Zerstörung enden. Nein, „Verlasst alles und folgt mir nach!" ist kein Satz, auf den wir uns einfach so einlassen wollen.

Heute ist Wahltag. Dabei geht es aber nicht nur um Parteien und PolitikerInnen. Mit dem Kreuz auf dem Stimmzettel sagen wir etwas darüber, was uns wichtig und erstrebenswert erscheint. Es geht um unsere Vorstellung vom guten Leben, das wir für uns und die Menschen wollen, die uns am Herzen liegen. Wir wollen, dass es genügend Kita-Plätze und gute Schulen gibt, dass die Rente sicher ist, dass am Monatsende gerne auch ein paar Euro mehr übrig bleiben, dass wir keine Angst haben müssen, wenn wir vor die Haustür treten, und vieles andere mehr. Und wenn wir uns nicht auf das Hier und Jetzt begrenzen, sondern nach dem großen Ganzen fragen, dann ist da auch die Sorge, ob die Art und Weise, in der wir heute leben, die Schöpfung so auszehrt und aufheizt, dass die Luft im wörtlichen Sinne irgendwann einmal sehr dünn werden wird. Das alles steht heute zur Wahl.

Einige Bekannte haben mich darauf angesprochen, dass ich ja heute predigen würde, und wollten wissen, ob es so etwas wie eine christliche Wahlempfehlung gäbe. Ja, vielleicht schon: Dass wir in unseren Vorstellungen des guten Lebens auch denen Raum geben, die kein gutes Leben haben - sei es hier, in unserer Stadt, in unsrem Land oder auch anderswo. Und dass wir, wenn wir wählen, auch das Wohl derer in unserem Herzen halten, die schon lange hier sind oder auch erst seit kurzer Zeit, die aber kein Wahlrecht haben und für die wir mit entscheiden.

Aber nun kommt unser Predigttext daher und spricht eine doch ganz andere Sprache. Wir sollen uns nicht um diese Welt sorgen, uns nicht in ihr einnisten, sondern, im Gegenteil, wir sollen sie hinter uns lassen. Petrus als Sprecher des Jüngerkreises kommt zu Jesus und sagt zu ihm: „Wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt." Und Jesus antwortet unmissverständlich und verheißt seinen Jüngern und allen, die ihm auf diese Weise nachfolgen, das ewige Leben.

Und das ist keine Ausnahme. Eins ums andere Mal macht Jesus unmissverständlich klar, dass er es ernst meint mit dieser radikalen Nachfolge. Da kommt ein junger Mann zu ihm, will sich ihm anschließen, aber zuvor noch seinen verstorbenen Vater begraben. Dem antwortet Jesu fast gefühlskalt: „Lass die Toten ihre Toten begraben und folge mir nach." Von einem Reichen, der sich nicht dazu entschließen kann, sein Hab und Gut zu verkaufen, sagt er: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher ins Reich Gottes gelangt." Das sind Sätze, die man eigentlich nicht missverstehen kann, Sätze, die mehr verstören als einladen, eher vor den Kopf stoßen als Wohlfühlatmosphäre versprühen.

Ich versuche mir vorzustellen, was das für Menschen waren, die sich darauf einließen, und warum sie sich auf den Weg dieser Nachfolge begaben. Da sind die Jünger Jesu, über die wir außer ihren Namen und ein paar spärlichen Details nicht viel wissen. Waren das im Grunde gescheiterte Existenzen, denen es leicht fiel zu sagen „Wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt", weil sie gar nicht viel zu verlassen hatten? Waren das Aussteiger, denen das Korsett eines gutbürgerlichen Lebens zu eng geworden war und die nochmal ganz von vorn anfangen wollten? Oder waren es Revolutionäre, die alles in Frage stellten - das politische System des Römerreiches, die Koalitionspolitik der jüdischen Oberschicht, die Gleichgültigkeit und Selbstbezogenheit der Menschen auf den Straßen? Standen also vor allem Frustration und das Bedürfnis, alten Ballast abzuwerfen, hinter diesem Satz „Wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt"?

Oder war es anders: Hatten die Jünger ein Leben verlassen, in dem sie sich doch eigentlich wohlgefühlt hatten; ein Leben mit dem gar nichts falsch war und das sie trotzdem gegen das eintauschten, was die Nachfolge Jesu ihnen versprach. Führen wir uns das ganz konkret vor Augen: Stellen Sie, meine Damen, sich einmal vor, ihr Mann, der vielleicht gerade neben ihnen sitzt, würde zu ihnen sagen: „Schatz, ich liebe dich sehr und auch unsere Kinder, aber ich bin jetzt an einem Punkt angelangt, an dem ich für mich neu beginnen muss." Zur Zeit Jesu war das vermutlich nur Männern möglich; aber, meine Herren, fühlen sie sich nicht zu sicher, denn heutzutage könnten die Rollen natürlich auch umgekehrt sein: „Liebling, du bist ein toller Typ, aber für mich geht die Reise jetzt anders weiter."

Sehr viel sagen uns die Evangelien nicht darüber, was für Charaktere die Jünger waren, aber so ein wenig kann man doch hinter den Vorhang schauen. Petrus, der Wortführer unserer Erzählung, und sein Bruder Andreas waren Fischer am See Genezareth. Ein ganz normaler Beruf in dieser ländlichen Gegend fernab des Trubels der großen Städte wie Jerusalem.

Petrus wohnte in Kapernaum, einem Dorf - oder vielleicht darf man es für damalige Verhältnisse auch schon eine Kleinstadt nennen. Wer heute dorthin reist, kann immer noch die Grundmauern aus der Zeit Jesu sehen, darunter auch ein Haus, von dem viele annehmen, dass es das Haus des Petrus war. Wir kennen den Namen seines Vaters, der hieß Jona. Auch seine Schwiegermutter wird erwähnt. Petrus war also verheiratet, was für die damalige Zeit bedeutete, dass er wohl auch Kinder hatte. Von ‚Frau Petrus' ist allerdings nie die Rede, und so wissen wir nicht, wie es ihr erging, als ihr Mann ein Jünger Jesu wurde. Gerne würde man sie nach ihrer Geschichte fragen, wie sie die Worte ihres Mannes erlebte, „Wir haben alles verlassen", denn sie war eine der Verlassenen.

Aus alle dem entsteht kein lückenloses Bild, aber Petrus war jemand, der etwas zu verlieren hatte, der ein funktionierendes Leben aufs Spiel setzte, um diesem Jesus nachzufolgen. Ich kann mir vorstellen, dass in diesem Satz „Wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt" etwas Flehendes war: Lieber Jesus, sag uns jetzt bitte nicht, dass wir auf den Falschen gesetzt haben und dass alle Entbehrungen umsonst waren. Sag uns, dass es richtig, dass es die Sache wert war.

Die Jünger und allen voran Petrus werden uns als Menschen vorgestellt, die von der Mitte an den Rand ihrer Existenz traten - an einen Ort, wo man zurück sieht, auf sein Leben schaut, an dem man aber auch ahnt und auch schon in Umrissen sehen kann, dass dieses Leben nicht alles ist, dass andere Möglichkeiten bestehen, dass es einen Sinn und eine Intensität gibt, die sich einem nicht erschließen, wenn man sich in der Wärme und manchmal im Mief der eigenen Wohlfühlzone einnistet. Der Ruf in die Nachfolge Jesu ist der Ruf von der Mitte an den Rand der eigenen Existenz - dort, wo vieles brüchig und fragwürdig wird, wo sich aber auch Raum für Neues auftut. Und die Frage, die Jesus an seine Jünger stellt, ist die: Traut ihr euch das? Oder erschöpft sich euer Vorstellungsvermögen in der Welt, wie ihr sie kennt?

Nun wird kein vernünftiger Mensch einen solchen Schritt von der Mitte an den Rand tun, wenn dort nur der Abgrund lauert. Ich denke an die vorwiegend jungen Menschen, die sich heute extremistischen oder fundamentalistischen Bewegungen (etwa dem Islamischen Staat) anschließen und die ja auch alles hinter sich lassen, weil sie meinen, dort das Heil zu finden. Aber was dann kommt, sind Entmündigung, Verrohung und Gewalt, ist ein Leben mit Feindbildern im Kopf und einem Sprengstoffgürtel um den Bauch. Nein, so etwas ist keine Nachfolge, sondern ein Höllentrip.

Wenn Petrus sagt, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt, dann meint er damit die Hoffnung auf das Reich Gottes, dessen Anbrechen Jesus verkündigt. Was da herrschen soll, ist nicht nur die eigene Ideologie, sondern Recht und Gerechtigkeit für alle; nicht nur die eigenen Bedürfnisse, sondern Barmherzigkeit und das genuine Interesse am Wohl des Nächsten; das Reich Gottes ist nicht nur „fun", sondern Freude am Leben in seiner Fülle und Vielfalt, kein „event", sondern ein Ereignis, das zwischenmenschliche Verbindungen prägt und verwandelt.

Dietrich Bonhoeffer, ein berühmter Theologe aus der Zeit des Nationalsozialismus, schrieb unter dem Eindruck der damaligen Verhältnisse ein Buch mit dem Titel „Nachfolge", und auch unser Predigttext wird darin ausgelegt. Darin fragt sich Bonhoeffer, was Christsein - Christus nachfolgen - bedeutet, vor allem wenn Nachfolge um den Preis des eigenen Lebens geschieht. Und er bringt das auf eine erstaunliche Formel. Christus nachfolgen bedeutet für Bonhoeffer „außerordentlich leben" - und zwar im doppelten Sinne des Wortes. Außerordentlich, weil Nachfolge eben nicht immer ordentlich und regelkonform sein kann und weil sie verweigert werden muss, wenn Ordnungen brutal und lebensverachtend werden. Das hat Bonhoeffer am eignen Leib erlebt, weil Nachfolge Christi für ihn nicht den Friedensschluss mit der NAZI-Ideologie bedeuten konnte. Aber „außerordentlich" meint andererseits auch das Besondere, das Neue und Unerwartete, das gerade dann zu leuchten beginnt, wenn es dunkel wird in der ordentlichen Welt.

Vielleicht sollte man diesen Gedanken Bonhoeffers für unsere eigene Zeit etwas abwandeln und von Nachfolge weniger als dem außerordentlichen, sondern als dem ‚außergewöhnlichen' Leben sprechen. Meine Sorge, liebe Gemeinde, ist, dass wir uns heute zu oft und zu gern mit dem Gewöhnlichen zufrieden geben - mit den Angeboten und Möglichkeiten, die die Wohlstandsgesellschaft für uns bereithält. Für fast alle unsere Bedürfnisse gibt es das passende Produkt; über die Probleme, die uns tagtäglich begegnen, hat schon irgendjemand nachgedacht und dafür eine Lösung gefunden. Und irgendwie ist auch klar, was „in" ist und was „out", was „schick" ist und was „gar nicht geht." Für jedes Leben gibt es eine Konfektionsgröße. Wir wählen nicht wirklich, was wir sein wollen, sondern wir suchen unsere Individualität zusammen aus den Angeboten, die vor uns ausgebreitet werden. Und dabei führen wir - sei es unbewusst oder mit voller Überzeugung - ein gewöhnliches Leben.

Die Meinungsforscher waren sich in den Monaten vor der Wahl heute ja einig: eine Aufbruchstimmung herrscht nicht unter den Deutschen. Oder wie Roman Herzog das vor Jahren einmal so prägnant zusammengefasst hat: ein Ruck geht nicht durchs Land. Da hat der Satz des Petrus „Wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt" wenig Chancen, Gehör zu finden, denn in ihm drückt sich ein Verlangen aus, ein Sehnen nach einem außergewöhnliches Leben, das nie ganz passt, nie ganz heimisch ist, nie ganz in sich ruht - oder um es ganz frontal in christlicher Sprache auszudrücken: ein Leben, das aus ganzem Herzen glaubt, hofft und liebt.

Aber selbst wenn wir uns nicht so ohne weiteres zu den Jüngern gesellen wollen, die radikal alles verlassen haben, dann stellt uns unser Predigttext trotzdem vor die Frage, wo wir denn hinwollen, wofür wir etwas aufzugeben bereit sind und was uns umgekehrt wirklich etwas wert ist. Was würden wir in dieser Situation zu Jesus sagen? „Wir haben uns sehr bemüht dir nachzufolgen und manchmal hat es auch geklappt"? Oder: „Wir würden dir ja gerne nachfolgen, aber gibt es das auch in einer sozial verträglichen Variante?" Insgeheim würden wir gerne Christen und Christinnen sein als die Menschen, die wir nun einmal sind.

Nun weiß ich nicht, ob Jesus mit uns heute großzügiger umgehen würde als mit den Menschen seiner eigenen Zeit. Aber schauen wir zum Schluss noch einmal auf die Jünger und was aus ihnen wurde als Jesus nicht mehr da war. Sie kehrten nicht einfach zurück in ihr früheres Leben, sie wanderten auch nicht mehr von einem Ort zum anderen wie sie das mit Jesus getan hatten. Sie taten etwas Neues, sie gründeten die ersten Gemeinden. Das waren keine Aussteigerkommunen, sondern im Gegenteil Gemeinden für Eltern und Kinder, für Alte und Junge, für Menschen mit Berufen und allen alltäglichen Sorgen. Die Jünger riefen die Menschen nicht mehr dazu auf, alles zu verlassen, sondern allem, was sie waren, eine neue Richtung zu geben, jeden Stein ihres Lebens umzudrehen daraus etwas Neues zu machen. Den meisten ihrer Zeitgenossen erschien das abwegig - etwas für Sonderlinge, die sich nicht an den Zeitgeist gewöhnen wollten. Diese Gemeinden entstanden nicht im Zentrum, sondern an den Rändern der Gesellschaft, nicht aus Frustration oder Desinteresse, sondern weil die Ränder der Ort sind, an dem das Gewöhnliche brüchig wird, an dem das Ordentliche den Schein des Letztgültigen verliert, an dem sich aber die Umrisse dessen zeigen, was Jesus das Reich Gottes nennt.

Wir gehen heute wählen, aber das Reich Gottes steht nicht auf dem Stimmzettel. Und doch ist es eine Wahl, die wir aber nicht mit einem Kreuz auf dem Papier treffen, sondern mit unserem ganzen Leben - oder, wie man in der Thomaskirche vielleicht besser sagt: Mit Herz und Mund und Tat und Leben.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne - in Christus Jesus. Amen.

Prof. Dr. Andreas Schüle
andreas.schuele@uni-leipzig.de