Predigt über Lukas 18,31-43

  • 23.02.2020 , Sonntag vor der Passionszeit - Estomihi
  • Prof. Dr. Andreas Schüle

Liebe Gemeinde,

 es sind nur ein paar Wochen seit die letzten Schwibbögen aus den Fenstern und die Herrnhuter Sterne aus den Häusereingängen verschwunden sind.  Dem ein oder anderen werden, zumal an diesem Ort, vielleicht auch noch die letzten Kantaten des Weihnachtsoratoriums im Ohr nachklingen. Es gibt immer noch Glühwein zu kaufen, und vielleicht liegt auch noch irgendwo das letzte Weihnachtsgebäck herum, das aber nun wirklich weg muss.

 Während wir gefühlt immer noch so ein wenig der Weihnachts- und Epiphaniaszeit nachhängen, wirft uns der Kalender des Kirchenjahres so ein bisschen schroff und unsanft vom Anfang ans Ende der Lebensgeschichte Jesu. Ab nächster Woche beginnt die Passionszeit und damit die Meditation über das Leiden und Sterben Christi. Und es wird wohl so sein wie in jedem Jahr: Während Weihnachten ein Fest für alle ist, weil die Geschichte vom Kind in der Krippe schön und hoffnungsvoll ist, wird die Passionszeit an den meisten Menschen, innerhalb und außerhalb der Kirchen, eher spurloser und teilnahmslos vorübergehen. Die Frage, warum Jesus leiden und sterben musste, ist kein besonders sympathischer Gegenstand des Nachdenkens, und wenn man ganz ehrlich ist, leuchtet uns das auch nicht mehr ein. Dass da einer für andere leidet und stirbt, sein Leben dahingibt und derlei mehr – das klingt doch arg nach Glaubensbeständen vergangener Zeiten. Abgesehen davon ist es doch schlicht und ergreifend inhuman und gefährlich anzunehmen, dass aus Leiden und Sterben für irgendjemand irgendetwas Gutes erwachsen könnte.

 Nein, da muss man nicht gleich mitgehen können. Und damit sind wir auch gar nicht allein, denn selbst der Jüngerkreis um Jesus konnte da nicht mitgehen. Oder anders gesagt: Immer wenn Jesus von seiner Passion spricht, sind die Jünger raus. So auch im Predigttext für den heutigen Sonntag:

 Er nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn.

 32 Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden,

 33 und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen.

 34 Sie aber begriffen nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war.

 35 Es begab sich aber, als er in die Nähe von Jericho kam, dass ein Blinder am Wege saß und bettelte.

 36 Als er aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was das wäre.

 37 Da berichteten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorbei.

 38 Und er rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!

 39 Die aber vornean gingen, fuhren ihn an, er solle schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!

 40 Jesus aber blieb stehen und ließ ihn zu sich führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn:

 41 Was willst du, dass ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen kann.

 42 Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen.

 43 Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das es sah, lobte Gott.

 

Es geht um das letzte Stück Weg, das Jesus und die Jünger vor sich haben, hinauf nach Jerusalem. Von Jericho aus, ganz unten am Toten Meer, ist das ein mühsamer Aufstieg. Über 1000 Meter geht es hinauf durch ein tief geschnittenes Bachtal. Den Weg gibt es noch heute.  Aber es ist nicht die Aussicht auf die beschwerliche Reise, die die Jünger in Aufruhr versetzt, sondern das, was da oben, in Jerusalem geschehen wird. Was Jesus ihnen vor Augen führt, ist ein fertiges Drehbuch, das nur noch darauf wartet, in Szene gesetzt zu werden. So wird es geschehen und nicht anders: Jesus wird leiden, sterben und auferstehen. Änderungen sind nicht vorgesehen.  

 

Aber wer will da mit? Wer kann da mit? Die Jünger jedenfalls nicht. Für die ist das – um im Bild zu bleiben – zu abgefahren. Ja, sie werden schließlich doch hinaufsteigen nach Jerusalem, aber dann einer nach dem anderen verschwinden. Petrus packt noch einmal seinen Beschützerinstinkt aus, aber wie wir wissen, folgt den großen Worten keine große Tat.

Nein, die Jünger sind raus. Aber wer ist dabei?

 Der Blick fällt auf einen blinden Bettler am Wegesrand. Der hört,  dass Jesus vorbeiläuft und setzt alles in Bewegung, um an ihn heranzukommen. Dabei muss er sich fast durchkämpfen, denn seine Nachbarn weisen ihn zunächst einmal in die Schranken: Für ihn gehört sich das nicht. Blinde Bettler sitzen brav da und warten dankbar, bis sich jemand kümmert. Dieser aber nicht. Er fängt laut an zu schreien: „Erbarme dich meiner!“ Oder etwas unbiblischer ausgedrückt: „Kümmre dich um mich, denn mir geht’s dreckig!“ Und als er dann vor Jesus steht, fragt dieser ihn: „Was willst du, dass sich für dich tue!“ Eine auf den ersten Blick seltsame Frage. Was wird ein Blinder wohl vor allem wollen  ... ? Und dennoch will diese Frage eine Antwort.

 Ich überlege mir: Hätte ich auf diese Frage eine Antwort? „Was willst Du, dass ich für Dich tue?“ Natürlich gehen mir zehntausend Dinge durch den Kopf, die anders sein könnten in meinem Leben. Aber ganz ehrlich habe ich Schwierigkeiten, denn letztlich will diese einfache Frage wissen, was mir wirklich – also wirklich – wichtig ist. Die Antwort sagt nicht nur, was ich gerne hätte oder brauchen könnte, was angenehm oder lustvoll wäre. Die Antwort sagt etwas darüber aus, woran ich glaube, oder, wie Martin Luther das einmal so schön gesagt hat, woran ich mein Herz hänge.   

 Es gibt viele gute Antworten auf diese Frage: Dass das Leben gelingt, mit dem Menschen, den ich liebe. Dass die Welt, in welchem Ausmaß auch immer, mit mir ein besserer Ort ist als ohne mich. Ja, es gibt Dinge, an die man sein Herz hängen kann, und wenn man für wahr hält, dass solche Dinge tatsächlich gelingen können, dann glaubt man.

 „Mach, dass ich sehend werde!“ Sagt der Blinde unserer Erzählung, und er traut Jesus zu, dass dieser die Macht hat, genau das zu tun. Das ist Glaube. Nur etwas wollen, ohne die Aussicht, dass dies auch geschehen kann, ist Tagträumerei. Und nur anzunehmen, dass es so etwas zwar gibt, aber nicht auch für mich, ist Depression.

 „Dein Glaube hat dir geholfen“, so sagt Jesus das, und damit wird dieser Blinde zur Hauptfigur unserer Geschichte. Nicht die Jünger sind die Helden und schon gar nicht die etwas pomadig auftretenden Bürger von Jericho. Selbst Jesus tritt fast in den Hintergrund. Er nimmt gar nicht in Anspruch, den Blinden geheilt zu haben. „Dein Glaube hat dir geholfen.“ 

 Liebe Gemeinde, wir hatten gefragt, wer noch dabei ist, wer mit Jesus hinaufgeht nach Jerusalem. Wer kann noch mit, wenn sich die Geschichte Jesu ihrem dramatischen Ende zuneigt? Und darauf gibt es nun eine Antwort: dieser blinde Mann. Dieser wird nicht sehend und kehrt dann auf dem Absatz um, zurück in sein altes Leben. Was da mit ihm geschehen ist, woran er glaubt, setzt ihn auf eine andere Spur. Er folgt Jesus nach.

Auch im Markusevangelium wird von diesem Blinden erzählt, und dort erfahren wir sogar seinen Namen: Bartimäus, heißt er. Und wenn ein solcher Name genannt wird, war diese Person in den frühen christlichen Gemeinden vermutlich gut bekannt. Bartimäus’ Geschichte hat man erzählt, und vielleicht genau als Geschichte von jemandem, der sich Jesus anschloss, wo andere dabei waren abzuspringen.

 Aber warum? Was hat dieser Bartimäus begriffen, das den anderen, selbst den Jüngern, irgendwie fehlt?

 Vielleicht geht er mit, weil er am eigenen Leib und Leben erlebt hat, was Leiden, Sterben und Auferstehen bedeuten. Vielleicht war ihm gar nicht so fremd, was Jesus als sein eigenes Schicksal ankündigt. Als Blinder in der damaligen Zeit wurde er vermutlich als Mensch zweiter Klasse wahrgenommen. Unsere Geschichte sagt ja auch, dass er von seinen Mitmenschen kräftig gemobbt wurde. Wenn man sein Leben im körperlichen und sozialen Dunkel fristet, dann weiß man, wie es sich anfühlt, am Nullpunkt zu existieren. Und wenn es dann Licht wird, wenn das Leben zurückkehrt und zwar in neuer und bis dahin noch nicht gekannter Helligkeit, dann weiß man, was wichtig ist, woran man glauben und wo man mitgehen soll.

Für jemanden wie Bartimäus ist die Aussicht darauf, dass da jemand brutal misshandelt und ans Kreuz geschlagen wird, nicht weniger furchtbar als für die Jünger. Aber anders als die Jünger bleibt ein Bartimäus nicht bei der Empörung, beim Protest, und letztlich auch bei der Angst stehen. Bartimäus weiß, dass er in einer Welt lebt, in der es so etwas gibt, in der so etwas geschieht und vor der man nicht weglaufen kann. Aber er hat eben auch erlebt, dass Gott selbst solchem Leiden nicht das letzte Wort überlässt. Man muss dabei sein – mit aller Kraft des Entsetzens und des Widerstandes, aber auch mit dem Glauben, dass Gott genau dort, wo dies geschieht, mit der Kraft des Schöpfers sein großes ‚Nein’ spricht. Ein ‚Nein’, das dem Leiden und Sterben, wer und warum auch immer es verursacht, jeden Anschein von Sinn und Legitimität nimmt.

 Die Passion Jesu damals und die vielen Passionen unserer eigenen Welt sind Orte, wo Gott nein sagt – ein Nein, das seine Kraft daraus schöpft, dass es eingreift, verändert und Leben schafft, wo andere Tod wollen. Das hat Bartimäus erfahren und daran glaubt er.

 Tun wir das auch? Lassen wir die ganze Tiefe der Passion und die ganze Höhe der Auferstehung in unserem Leben Raum greifen? Oder bleiben wir bei den Jüngern stehen, die weder bei dem einen noch bei dem anderen dabei sind, sondern alles aus sicherer Distanz beäugen wollen?

 Liebe Gemeinde, gestern habe ich mir die Postings einer Facebook-Gruppe durchgelesen, wo Predigerinnen und Prediger ihre Entwürfe für den Sonntag ins Netz stellen. Und ja, Sie ahnen richtig, es gibt vermutlich heute keine Predigt auf den Kanzeln der Republik, die unsere Geschichte nicht in ein Verhältnis zum Attentat von Hanau setzt:

 -- Wie müssen sehend werden, so wie der Blinde in unserer Geschichte, und dürfen nicht wegschauen und ignorieren, was da vor unseren Augen geschieht – so sehen es Einige. 

 -- Der Blinde ist einer der Ausgegrenzten, so wie das heute Migranten in unserer Gesellschaft sind, und wir müssen es besser machen als die Bewohner von Jericho und vor allem besser als die Bewohner von Jerusalem. So sagen Andere. Solche Menschen brauchen unseren Schutz, während die Täter und geistigen Brandstifter keinerlei Toleranz verdienen.

-- Und dann gibt es auch ganz konkrete Appelle, wie der Ruf nach dem Verbot oder der strengeren Beobachtung radikaler Parteien und Gruppierungen.

 All das kann man und sollte man beherzt bejahen. Ja. Aber ich weiß nicht, ob wir damit schon fertig sind. Viele der Predigten, die ich gestern gelesen habe (und vielleicht ja auch meine eigene), klingen so als wären sie von den Jüngern der Passionsgeschichte geschrieben worden. Betroffen und, wenn man auf Petrus schaut, auch irgendwie aktivistisch. Aber vielleicht doch ein bisschen zu selbstsicher und zu aufgehoben in der eigenen Komfortzone, um dort mitzugehen, wo die Dinge schwierig oder gar unbegreiflich werden; da hat man gutgemeinte Weltsichten und Appelle im Gepäck, aber das bleibt dann auch schnell oberflächlich und austauschbar.

 Der frühere amerikanische Präsident Obama hat nach einem Amoklauf mit noch mehr Toten als denen von Hanau einmal eine Fernsehansprache gehalten und dabei sinngemäß gesagt: ‚Ich bin es leid, immer wieder das Gleiche zu sagen; wie schlimm das ist; wie verabscheuungswürdig die Motive der Täter; und was man nicht alles tun müsste; ich weiß, was man jetzt sagen muss; aber ich weiß auch, dass ich die gleiche Rede in ein paar Monaten wieder halten werde, und dann wieder und wieder.’

 Selbst ehrlich gemeinte Betroffenheit und die besten Absichten stehen in der Gefahr, Teil eines immer gleichen Spiels zu werden. 

 Mir kommt dabei noch einmal die Frage Jesu an den blinden Bartimäus in den Kopf: Was willst Du, das ich für dich tue? Bartimäus antwortet nicht: ‚Mach, dass meine Gesellschaft toleranter mit Blinden umgeht!’ Oder: ‚Zieh’ die Menschen zur Rechenschaft, die mir das Leben zum Albtraum machen!“ Das wären die normalen, zu erwartenden Antworten gewesen. Aber nein, er gibt die passionierte Antwort, die keine andere Plausibilität hat als die seines eigenen Glaubens: „Mach mich sehend!“

 Stellen wir uns vor,  Jesus würde uns das fragen; heute, in dieser Woche nach Hanau: „Was wollt ihr, das ich für euch tue!“ Wie würden wir antworten? Hätten wir überhaupt eine Antwort die über ein kindliches „Mach, dass niemand mehr leiden muss“ hinauskommt? Würden wir ihm etwa einen Katalog gut gemeinter Empfehlungen vorlegen – das, was in Medien und sozialen Netzwerken kommuniziert wird? Vermutlich doch eher nicht.

 Das würde ein Bartimäus heute Jesus antworten? Vielleicht das: Lass die Kraft deiner Auferstehung in den Passionen unserer Zeit wirksam werden! Lass die Kraft deiner Auferstehung das große Nein gegen die Passionen sein, die wir selbst erleiden und die wir anderen zufügen!  

Das ist keine weltverbessernde Antwort, aber eine Antwort des Glaubens und vielleicht eine, der beschieden würde: Geh’ hin, dein Glaube hat dir geholfen.

 Amen. 

Prof. Dr. Andreas Schüle
andreas.schuele@uni-leipzig.de