Predigt über Lukas 19,1-10

  • 13.09.2020 , 14. Sonntag nach Trinitatis
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus.

Liebe Gemeinde,

vielleicht ist das mit die schlimmste Furcht in unserem Leben: Die Furcht davor, beschämt zu werden. Das Gesicht zu verlieren. Oder besser, denn meistens ist es das, denke ich: das Bild von sich selbst. Das Bild, an dem man so schön und so lange herumgebastelt hat. Die Angst, beschämt zu werden. Dass einer sieht, wie es wirklich in mir aussieht und merkt, was ich mir vormache. Und dass dann rauskommt. Unangenehm bis unerträglich der Gedanke! Und da ist es dann kein Wunder, nur allzu oft trotzdem so und auf dieser Schiene weiterzumachen. Und die Gedanken, so geht es eigentlich nicht, zurückzudrängen. Weil es vielleicht noch schlimmer ist, vor sich selbst beschämt dazustehen als vor anderen.

Ich denke, eigentlich kann man es nur so oder so ähnlich erklären, wie Leute sich immer weiter reinreiten. Wie sich Leute zum Beispiel auf Teufel komm raus weiter reinsteigern in ihre Verschwörungstheorien. Dass es da noch absurder und absurder wird und manche gar eine Karriere vom Impfskeptiker bis zum Anhänger der QAnon – Bewegung hinlegen und sich in antisemitische, rassistische und andere Abgründe hineinzuwagen und das um der Angst vor der Beschämung willen auszublenden offenbar in der Lage sind. Auch wenn man sich dazu nicht zählen mag: Dass es nur diese eine Richtung gibt, wenn man beim Denken mal falsch abgebogen ist, das kenne ich bei mir selbst, und das ist bisweilen gefährlich. Nur diese eine Richtung, in der man meint weitermachen zu können. Für mich ist das letztlich auch die Erklärung dafür, dass Typen wie Trump immer noch wieder eins draufsetzen mit ihren Lügen. Und letztlich steht auch das hinter dem, was sich im Camp Moria abgespielt hat. Dass Europa lange darauf verzichtet hat, beschämt zu sein über das, was da passiert. Was man hat laufen lassen sodass es zu dieser Katastrophe mit Ansage gekommen ist. Man kann fast sagen, grenzwertig, ich weiß, aber: Gottseidank hat es dort jetzt gebrannt. Denn es brennt dort schon länger, viel zu lang. Europa hat die Zeit nicht genutzt für eine gemeinsame Lösung. Und kann jetzt noch nicht mal die Beschämung darüber zugeben. Es bedeutet letztlich, immer noch in der gleichen Denkrichtung unterwegs zu bleiben, wenn man die Aufnahme von 400 unbegleiteten Minderjährigen als humanitären Akt ausgibt, die eigentliche humanitäre Katastrophe aber ihren Lauf nehmen lässt. Jeder Tag zählt hier für die Menschen, die es da unten betrifft.

Bei allem, was ich jetzt aufgezählt habe oder was einzelnen von uns in Blick auf das persönliche Leben durch den Kopf gegangen sein mag: Es ist überall das Gleiche: Wo wir die Beschämung fürchten, solange wird es immer weiter gehen in dieselbe Richtung. Leider schaden wir dabei in der Regel nie nur uns selbst, sondern auch anderen. Wie finden wir  den Weg heraus? Wie ist es möglich ,dem  Moment der Konfrontation mit der Beschämung nicht mehr aus dem Weg zu gehen? Ich meine, dass uns die heutige Geschichte für unsere Predigt hier eine Hilfe sein kann. Hilfe für unsere ganz persönlichen Geschichten mit unserer Beschämung. Wo es bei uns irgendwie nur eine Richtung gibt, von der wir ahnen und wissen, das geht so eigentlich nicht, aber ich komme da nicht raus ohne das Gefühl, das Gesicht zu verlieren.    

Es ist die Geschichte vom Zöllner Zachäus, der auf einen Baum steigt. Hören wir sie aus dem Lukasevangelium:

Und Jesus ging nach Jericho hinein und zog hindurch. 2 Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich. 3 Und er begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre, und konnte es nicht wegen der Menge; denn er war klein von Gestalt. 4 Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um ihn zu sehen; denn dort sollte er durchkommen. 5 Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren. 6 Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden. 7 Als sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt. 8 Zachäus aber trat vor den Herrn und sprach: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück. 9 Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist Abrahams Sohn. 10 Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.

Für einen wie Zachäus kann es sich im Grunde auch nur in eine Richtung leben. Er ist nicht nur Zöllner, sondern Oberzöllner. Einer, der andere anweist, sich die Hände schmutzig zu machen, er lebt gut davon, dass andere zu viel nehmen bei den Pachtzahlungen, die die Zöllner einzutreiben hatten und viele dabei vom Mehr gut lebten. Dabei kamen durchaus erpresserische Methoden zum Einsatz. Das macht nicht nur unbeliebt, das macht auch einsam und konfrontiert einen mit den Folgen der eigenen Skrupellosigkeit. Solange jemand nicht völlig abgestumpft ist, merkt er, dass er da nicht mehr so einfach rauskommt ohne mindestens beschämt zu werden wenn nicht mehr. Es kann ja sein und für mich spricht viel dafür, dass Zachäus jetzt intuitiv den Moment spürt, dass er daraus befreit werden kann. Jetzt kann es geschehen, wo der vorbeikommt, von dem er das gehört haben mag. Jesus, der fähig ist, Menschen in ihrer Sehnsucht nach Aufbruch aus ihrer beklemmenden Situation zu helfen. Jetzt kann etwas passieren. Und so wagt er den Moment, sich der Beschämung zu stellen und klettert unstandesgemäß auf einen   Baum. Und da hängt er nun zwischen der Realität und den Sehnsüchten seines Lebens, setzt sich dem aus. Genau das scheint Jesus zu sehen. Er hat genau in diesem Moment ein Auge auf diesen Oberzöllner. Er spricht ihn an. Mit seinem Namen. Und macht damit den Menschen hinter all dem sichtbar, was sich an diesen Ast klammert. „Zachäus, steige eilend herunter, ich muss heute in deinem Hause einkehren.“  Es ist keine Moralpredigt, die Jesus Zachäus hält: Komm runter von deinem hohen Ross. Er sagt: Ich komme in dein Haus. Heimsuchung ist das. Im besten Sinne. Er kommt zu Zachäus selbst, wo er lebt, wo er leidet, wo er Leid verursacht. Kommt damit quasi in sein Innerstes. Kommt dahin, wo Zachäus eigentlich beheimatet sein sollte und es doch nicht ist. Aber: Dort soll er heute noch ankommen. Bei sich.

Zachäus erkennt den Moment dafür. Kein Warten und kein Zaudern – jetzt ist dem Moment, sich dem zu stellen. Der ganzen Beschämung seines Lebens. Darin ist er gesehen worden – aber eben nicht weiter beschämt worden. Die murrende Menge drum herum hätte das gerne. Denn wenn man andere beschämen kann, scheint es sich leichter zu leben. Manche leben davon und fühlen sich überlegen, wenn es da noch einen neben einem gibt, der sich noch tiefer reingeritten hat als man selbst. Letztlich auch eine Reaktion auf die Angst davor, dass die eigene Erbärmlichkeit irgendwann aufgedeckt wird. Aber Jesus will all die verschiedenen Zachäus-Typen von den Bäumen holen, zu denen auch wir gehören. Will Menschen wieder hereinholen ins Leben - ohne sie zu beschämen. Und Zachäus begreift das. Nochmal: Jetzt ist der Moment. Er erkennt, wann er rauf muss auf den Baum. Er erkennt, wann er runter muss vom Baum.

Und auch noch mal am Ende der Geschichte geht es darum und hier benennt Jesus es auch: „Heute – heute - ist diesem Haus Heil widerfahren.“ Zachäus erkennt, wie für ihn der Weg aus der eigenen Beschämung gehen kann. Und da geht es nicht darum, dass da einer nur etwas bereut und gelobt, es eben besser zu machen – und vielleicht daran schon wieder scheitert weil er sich zu viel vornimmt. Denn ist sein Versprechen realistisch, die Hälfte des Besitzes den Armen zu geben und vierfach zurückzugeben, wo er betrogen hat? Ersteres vielleicht noch, letzteres klingt schon auffällig nach gutem, nicht einzuhaltenden Vorsatz – und das wäre am Ende doch ein enttäuschender Ausgang der Geschichte. Nein, hier geht es wieder um das Jetzt. Der Moment für die Veränderung meines Lebens ist immer jetzt. Nicht morgen. Jetzt. Jetzt kann Zachäus das ansprechen und auf den Punkt bringen, was ihn beschämt. Den Betrug am eigenen Leben und an dem anderer. Sprich: Er kann es akzeptieren, dass er „klein von Gestalt“ ist, wie Lukas es ja so freundlich formuliert.  Die befürchtete Beschämung war und ist auszuhalten. Zachäus kommt nach Hause in seinem eigenen Haus. Kommt im wahrsten Sinne des Wortes zu sich. Und kann so sogar Zöllner bleiben. Lukas erzählt nicht davon, dass er alles aufgibt, sein ganzes Leben ändert und mit Jesus mit zieht. Das gibt es zwar auch – aber diese Geschichte beleuchtet einen anderen Aspekt von Nachfolge. Und so ist uns vielleicht der Zöllner Zachäus näher als der Zöllner Levi, der alles verlässt. Wir können die bleiben, die wir sind – und wir können uns als die, die wir sind zugleich verändern und verändern lassen.  Wir können es, wenn wir das begreifen, was Zachäus begreift. Der Moment dafür, die Angst vor der Beschämung auszuhalten, ist jetzt. Heute. Heute soll unseren Häusern Heil widerfahren nach Jesus. Lassen wir uns von ihm ansehen – und wagen es dafür, auf den Baum zu steigen. So kann auch der Weg für uns neu werden.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org