Predigt über Lukas 4, 16-21

  • 01.01.2023 , 1. Sonntag nach dem Christfest, Neujahr
  • Pfarrer i.R. Christian Wolff

Predigt über Lukas 4,16-21

Neujahr

Thomaskirche Leipzig, 1. Januar 2023

 

Gnade sei mit euch und Frieden von Gott, unserm Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

 

Jesus kam nach Nazareth,

wo er aufgewachsen war

und ging am Sabbat in die Synagoge.

Er stand auf,

man gab ihm die Rolle mit den Schriften Jesajas,

er öffnete sie und fand die Stelle,

da geschrieben steht:

„Die Zeit ist gekommen,

und der Geist des Herrn ruht auf mir.

Er hat mich gesalbt,

ich bin König,

von ihm gesandt,

um den Armen zu verheißen:

Ihr seid erlöst,

gesandt,

um die Gefangenen loszusprechen:

'Geht! Ihr seid frei',

gesandt,

die Blinden sehend zu machen

und die Schmerzen der Gefolterten zu heilen;

denn die Kerker sind zersprengt.

Ich bin gesandt von IHM,

um aller Welt zuzurufen:

'Seht doch!

Das Jahr des Herrn, die Friedenszeit

ist gekommen.'"

Dann rollte er die Schrift wieder zusammen,

gab sie dem Tempeldiener, setzte sich nieder,

und die Augen der Gemeinde waren auf ihn gerichtet.

Jedermann sah ihn an,

und dann begann er zu reden:

„Die Worte, die ihr gehört habt -

heute sind sie erfüllt,

und ihr seid die Zeugen."

Lukas 4,16-21 - nach der Übersetzung von Walter Jens

 

Was für eine Programmatik, was für eine Perspektive, die uns Jesus von Nazareth am ersten Tag des neuen Jahres eröffnet:

Seht doch!

Das Jahr des Herrn, die Friedens- (die Gnaden-)zeit

                 ist gekommen.

Was können die Worte Jesu, die uns der Evangelist Lukas überliefert hat, anderes bedeuten, als dieses: Wenigstens wir, wenigstens die Christinnen und Christen, die heute über die Worte Jesu nachdenken, mögen Zeuginnen und Zeugen davon sein und werden, dass auch 2023 die Zusage gilt:

Das Jahr des Herrn, die Friedenszeit

ist gekommen.'

Unabhängig von dem, was um uns herum an Krieg, Zerrissenheit, Streit und Zerwürfnissen herrscht - unsere Aufgabe, unsere Berufung als Christen bleibt: Zeuginnen und Zeugen der Friedenszeit zu sein, die mit Jesus Christus angebrochen und verheißen ist. Aber können wir so unbesehen 2000 Jahre überspringen und das, was Jesus damals sagte, auf heute beziehen? Um diese Frage zu beantworten, sollten wir beachten, dass sich der Predigttext aus vier Schichten zusammensetzt:

  1. Da ist zunächst der Text, den Jesus während eines Synagogengottesdienstes in Nazareth vorliest. Es ist ein Abschnitt aus den Nebiim, den Prophetenbüchern, Teil der hebräischen Bibel, des Ersten Testamentes. Mit dem Trostwort aus dem 3. Jesajabuch für die gedemütigten Israeliten konnten sich damals viele Menschen im von den Römern besetzten Israel identifizieren. Denn in ihm wird der Messias verheißen, der umfassende Befreiung und Würdigung des beschädigten Lebens bewirkt.
  2. Die zweite Ebene ist Jesus selbst, der fromme Jude, der ganz in der Glaubens- und Hoffnungstradition des Volkes Israels aufgewachsen ist und darin lebt. Alles, was er ist, kann er nur sein durch das, was Gott dem Volk Israel verheißen hat. Offensichtlich ist es Jesus wichtig, dies gleich zu Beginn seines Wirkens allen unmissverständlich klar zu machen: In ihm erfüllt sich das, was Gott durch seine Propheten hat ankündigen lassen. Er ist der Gesandte, von dem Jesaja spricht. Darum entrollt Jesus die Schriftrolle. Er legt sie nicht beiseite, so wie leider allzu viele Christen die Bibel, insbesondere das Erste Testament, ad acta legen. Vielmehr sucht er in der Schriftrolle die Stelle, durch die er sein Wirken am deutlichsten erklärt sieht. Dann erhebt er den Anspruch, der ihm später zum Verhängnis wird: Das, was vor Zeiten durch die Propheten verheißen wurde, hat sich heute vor euren Augen schon erfüllt.
  3. Die dritte Ebene ist der Evangelist Lukas. Für ihn ist es wichtig festzuhalten: Jesus sucht am Sabbat die Synagoge auf, um am Gottesdienst aktiv teilzunehmen. Lukas will den christlichen Gemeinden, für die er die Geschichten von und um Jesus zusammengestellt hat, deutlich machen: Zwischen den Verheißungen an das Volk Israel und der Verkündigung Jesu besteht eine bleibende Beziehung, eine Kontinuität. Für Lukas ist Jesus das Heute der prophetischen Vision: die Gegenwart des Gottes, der sein Kommen versprochen hat. So wird Jesus für Lukas zur Mitte der Zeit: Alles, was vor ihm war, zielt auf seine Gegenwart; alles, was ihm folgt, kann an ihn und seine Botschaft anknüpfen als dem Zentrum des Glaubens.
  4. Und die vierte Ebene - das sind wir. Wir, die wir diesen programmatischen Text am Neujahrstag 2023 hören als erfüllte Verheißung, als Zeuginnen und Zeugen derer, die Zeugen waren, als Jesus in der Synagoge auftrat. Natürlich hören wir diesen Text auch als Menschen, die sich fragen: Was ist dran - 2023? Was wird von uns Christen in diesem Jahr erwartet? Wo liegt unsere Verantwortung, die Verantwortung der Kirche?

 

Diese vier Ebenen

  • die Verheißung des Propheten Jesaja,
  • die Botschaft des Jesus von Nazareth,
  • das Evangelium des Lukas
  • wir selbst

fügen sich zu einem Ganzen des Glaubens. Vor uns entfaltet sich der Reichtum, über den wir als Christen, als Kirche mit der Botschaft Jesu verfügen. Doch dieser Reichtum hat zwei Haken.

  • Er rückt die Menschen in den Mittelpunkt, denen Jesus in seiner Verkündigung einen Vorrang einräumt: die Armen. Sie spricht Jesus als erste an: Ich bin von Gott gesandt,

um den Armen zu verheißen:

Ihr seid erlöst.

  • Er gibt dem Frieden, Gottes Schalom, der Wirklichkeit seiner Gnade die absolute Priorität.

Es kommt nicht von ungefähr, dass diese Stelle aus dem Lukasevangelium, mit der Jesus die Verheißung des Propheten Jesaja auf sich bezieht, von den Armen und Unterdrückten in aller Welt als Ausgangspunkt ihrer eigenen Befreiung erlebt wird - vor allem, wenn sie in einer Gesellschaft aufwachsen, in der sie keine Rechte haben, in der ihnen nicht nur Brot und sondern auch Würde vorenthalten werden und in der sie nicht selten zunächst eine Kirche erleben, die diese Botschaft wie Geheimnis hütet und als Schatz vergraben hält. Das gleiche gilt auch für den Frieden als Gnadenzusage: In einer kriegerischen Welt stärkt Jesus all denen den Rücken, die nicht bereit sind, den Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt als gegeben hinzunehmen und die auf die Kraft der Versöhnung setzen.

 

Wer immer seine Bibel an dieser Stelle, Lukas 4,16-21, aufschlägt; wer immer mit dieser Stelle die Fragen beantworten will

  • Wer ist Jesus Christus?
  • Wer ist der, auf den wir uns berufen?
  • In welcher Tradition steht er?

der kann nicht umhin festzustellen: Jesus ist der, der den Armen das Evangelium predigt, der die Bedingungen von Armut und Ungerechtigkeit benennt und beseitigen will. Jesus ist der, der die prophetische Friedensbotschaft „Schwerter zu Pflugscharen“ aufnimmt, verkörpert und lebt. Weil das so ist, haben wir uns auch heute laut und deutlich und öffentlich im Gottesdienst zuzurufen, so wie Jesus dies in Nazareth getan hat: Der lebendige Gott räumt den Armen und der Versöhnung, also der Überwindung kriegsfördernder Gegensätze, den Vorrang ein. Wir haben überhaupt keinen Anlass, dieses irgendwie in Abrede zu stellen – schon gar nicht dadurch, dass wir auf faktische Armut, auf die Wirklichkeit von Unterdrückung und Krieg hinweisen, um im nächsten Schritt Jesu Haltung bis zur Unkenntlichkeit zu relativieren. Nein, wir können und sollen froh und dankbar sein, dass wir als Christen über diese Botschaft, diese Programmatik, diese Perspektive verfügen. Sie ziehen sich wie ein roter Faden durch die drei der vier beschriebenen Ebenen – also die prophetische Botschaft, Jesu Verkündigung und die Überlieferung in den Evangelien.

 

Bleibt die Frage: Nehmen wir auf der vierten Ebene, also bei uns, diesen Faden auch nach 2000 Jahren auf? Spinnen wir ihn zu einem Netz der Liebe, der Solidarität, des Friedens? Auf diese Fragen eine Antwort zu finden, ist gar nicht so leicht. Schließlich sind sehr viele Menschen auch unter den Christinnen und Christen der Überzeugung, dass sich an der Kluft zwischen arm und reich doch nichts ändern wird. Sie meinen, dass kriegerische Auseinandersetzungen nach wie vor eine Voraussetzung für den Frieden sind. Sie trauen dem eigenen Glauben nicht die Gestaltungs- und Veränderungskraft zu, von der Jesus beseelt war. Doch das neue Jahr stellt uns vor die Aufgabe, uns nicht so einfach den Gegebenheiten anzupassen, sondern den roten Faden des Glaubens aufzugreifen, das Netz der Gerechtigkeit neu zu knüpfen.

 

In dieser Aufgabe sehe ich den Sinn und Zweck, die Grundlage unseres Christ- und Kircheseins. Alles andere ist zweitrangig bzw. nebensächlich – seien es die institutionellen Probleme, die wir als Kirche gerade in Deutschland zuhauf haben, die über die Maßen Zeit und Kraft binden; oder seien es die tagespolitischen Herausforderungen, die uns immer wieder dazu verführen, die Basics des Glaubens infrage zu stellen. Jesus macht aber zu Beginn seiner Tätigkeit klar, was für ihn im Mittelpunkt seines Wirkens stehen soll: den Armen, den Gefangenen, den Blinden, den Unterdrückten die Befreiung von ihrer Last zu verkünden und diese Freiheit zeichenhaft zu verdeutlichen. Jesus will damit Zweierlei deutlich machen:

  • Kein Mensch, kein Geschöpf Gottes hat das Recht, andere Menschen mit Gewalt auszugrenzen, am Leben zu hindern.
  • Kein Mensch darf aufgrund seiner körperlichen, geistigen, seelischen Einschränkungen, seiner menschlichen Schwächen, seines Versagens benachteiligt bzw. an einem Neuanfang gehindert werden.

Damit unterstreicht Jesus gleichzeitig, dass diese Basics des Glaubens gleichermaßen Bedingung wie Verheißung für die Friedens-, die Gnadenzeit Gottes sind.

 

Schon damals in Nazareth regte sich gegen diese Überzeugungen Jesu Widerstand. Dieser verstärkte sich in dem Maße, in dem sich viele Menschen durch die Verkündigung Jesu angezogen fühlten. Sie spürten die Glaubwürdigkeit Jesu, die Übereinstimmung von Wort und Tat, und sie sahen in seinen zeichenhaften Handlungen die Wirklichkeitsstärke der Verheißungen des Glaubens: Blinde wurden tatsächlich sehend; in sich gefangene Menschen wurden von ihren Fesseln befreit; arme Menschen entdeckten ihre Würde und ihr Selbst, die Jesus in ihnen weckte. Doch das provozierte den Widerspruch derer, die davon leben, Menschen und Völker gegeneinander aufzubringen, sie in Rassen und Klassen zu spalten, Oben und Unten als unumstößlich zu zementieren – damals wie heute. Jesus musste beseitigt werden - so wie bis zum heutigen Tag Menschen, die sich auf die Basics des Glaubens berufen dann mit Gewalt ausgeschaltet werden, wenn ihr Handeln erfolgreich zu werden droht. Man denke nur an Mahatma Gandhi, Martin Luther King, an Aung San Suu Kyi oder an all diejenigen, die in Russland, Belarus, Myanmar oder der Ukraine für die Freiheit eintreten und Opfer herrisch-kriegerischer Gewalt werden.

 

Johann Sebastian Bach hat diesen Aspekt der Botschaft Jesu in der Matthäus-Passion in besonderer Weise gestaltet. Auf die Frage des Pilatus an das geifernde Volk

                 Was hat er denn Übels getan?

folgt nicht das „Lass ihn kreuzigen“ sondern ein Sopran-Rezitativ und eine Arie:

Er hat uns allen wohlgetan,

den Blinden gab er das Gesicht,

die Lahmen macht' er gehend,

er sagt' uns seines Vaters Wort,

er trieb die Teufel fort,

Betrübte hat er aufgericht',

er nahm die Sünder auf und an,

sonst hat mein Jesus nichts getan.

Damit knüpft Bach ganz bewusst an unseren Predigttext an und verdeutlicht: Das Programm Jesu ist auch in seiner Provokation nichts anderes als eine Wohltat für uns Menschen – auch wenn die Wirklichkeit dem zu widersprechen scheint und zu viele Menschen ihr Heil in Gewalt und in der Auslieferung ihrer Interessen an Despoten sehen. Das Programm Jesu dient aber der Befreiung des Menschen aus den Fesseln unmündigen Lebens. Es steht quer zu denen, die es anders sehen: sei es ein Herodes, sei es ein Pilatus, seien es „das Volk“.

 

Natürlich: Man kann für eine kapitalistische Reichtumspolitik a la Elon Musk sein; man kann einen imperialen Angriffskrieg a la Putin befürworten; man kann vor einer Unterdrückungspolitik a la Xi die Augen verschließen; man kann einem Nationalismus a la Orbán frönen; man kann der Meinung sein, dass die Krieg fördernde Unerbittlichkeit nationalistischer Despoten Vorrang hat vor Versöhnung und Frieden – man kann das alles, und leider verbergen sich hinter dem „man“ Millionen Menschen. Nur eines geht nicht: sich dabei auf die biblische Botschaft oder auf Jesus Christus zu berufen. Wer das macht, der versündigt sich an den Verheißungen, mit denen Gott uns und dieser Welt eine tragfähige Hoffnung und lebenswerte Zukunft eröffnet, mit denen er gerade den Schwachen das Rückgrat stärken will und denen, die sich verrannt haben, Vergebung anbietet. Darum ist es ein himmelschreiender Skandal, wenn Kirche wie derzeit in Russland den Angriffskrieg Putins auf die Ukraine religiös rechtfertigt, wenn Kirche Nationalismus fördert wie in Ungarn, wenn kirchliche Gemeinschaften autokratische Systeme unterstützen, Reichtum auf Kosten der Armen als Gottesgeschenk deklarieren und Krankheit und Armut als Folge persönlichen Versagens deuten, wie dies die weltweit vernetzte sog. religiöse Rechte tut. Wir müssen das offen an- und aussprechen, um uns gegen die zunehmende Verballhornung des biblischen Glaubens und der Botschaft Jesu zu wehren.

 

Noch wichtiger aber ist, dass wir unsere vornehmste Aufgabe nicht aus den Augen verlieren: immer wieder neu an die Programmatik Jesu anzuknüpfen; immer neu die klare Option Jesu für die Armen, für die Entrechteten, für die Gewaltlosigkeit, für Versöhnung freizulegen, anstatt uns der Welt und ihrer Gesetzmäßigkeiten gleichzumachen. Darum kann der Ruf Jesu:

Seht doch!

Das Jahr des Herrn, die Friedenszeit

                 ist gekommen.

uns ermutigen, unverdrossen am christlichen Pazifismus, an seiner Gewaltlosigkeit, an seinem Versöhnungswillen festzuhalten als Maßstab glaubwürdigen Lebens und als Zeichen für Gottes Schalom. Das hat nichts mit Tatenlosigkeit oder Unterwerfung oder religiöser Blauäugigkeit, sondern allein mit Glaubwürdigkeit zu tun. Denn wenn wir Christinnen und Christen, wenn Kirche diesen grundsätzlichen Einspruch Jesu gegen unsere Gewaltbereitschaft ad acta legen, wer will und wird dann noch dem Morden, dem Terror, den Kriegen wehren? Woran können und sollen all die anknüpfen, deren Innerstes, deren Menschlichkeit, deren Moral von der Pest des Krieges zerfressen wird? Politisch mag man das anders sehen, politisch mag man die Akzente anders setzen, aber als Christen können und sollen wir von dem zeugen, was mit Jesus in Erfüllung gegangen ist. Lasst uns damit auch das neue Jahr füllen.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 

Christian Wolff, Pfarrer i.R.

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