Predigt über Markus 12,41-44

Die Predigt wurde gehalten in einem Kantatengottesdienst im Rahmen des BACH Festivals Arnstadt in der Johann-Sebastian-Bach-Kirche in Arnstadt am 19. März 2017 gehalten. Zur Aufführung kam die Kantate BWV 106 "Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit".

  • 19.03.2017 , 3. Sonntag der Passionszeit - Okuli
  • Pfarrerin Taddiken

Predigt über Markus 12,41 - 44 und Kantate BWV 106 „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit" am 19. März 2017 in der Johann-Sebastian-Bach-Kirche in Arnstadt

BWV 106 Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit
Actus Tragicus

1. Sonatina
Flauto I/II, Viola da gamba I/II, Continuo

2a. Coro
Flauto I/II, Viola da gamba I/II, Continuo Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit.
In ihm leben, weben und sind wir, solange er will.
In ihm sterben wir zur rechten Zeit, wenn er will.

2b. Arioso T
Flauto I/II, Viola da gamba I/II, Continuo Ach, Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.

2c. Aria B
Flauto I/II, Viola da gamba I/II, Continuo Bestelle dein Haus; denn du wirst sterben und nicht lebendig bleiben.

2d. Coro
Flauto I/II, Viola da gamba I/II, Continuo Es ist der alte Bund: Mensch, du musst sterben!
Sopran
Ja, komm, Herr Jesu, komm!

3a. Aria A
Viola da gamba I/II, Continuo In deine Hände befehl ich meinen Geist; du hast mich erlöset, Herr, du getreuer Gott.

3b. Arioso B e Choral A
Viola da gamba I/II, Continuo Heute wirst du mit mir im Paradies sein.
Mit Fried und Freud ich fahr dahin
In Gottes Willen,
Getrost ist mir mein Herz und Sinn,
Sanft und stille.
Wie Gott mir verheißen hat:
Der Tod ist mein Schlaf geworden.

4. Coro
Flauto I/II, Viola da gamba I/II, Continuo Glorie, Lob, Ehr und Herrlichkeit
Sei dir, Gott Vater und Sohn bereit,
Dem heilgen Geist mit Namen!
Die göttlich Kraft
Mach uns sieghaft
Durch Jesum Christum, Amen.
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Besetzung Soli: A T B, Coro: S A T B, Flauto I/II, Viola da gamba I/II, Continuo
Entstehungszeit 14. August 1707
Text unbekannter Dichter; 2a: Apostelgechichte 17,28; 2b: Psalm 90,12; 2c: Jesaja 38,1; 2d: Jesus Sirach 14,18 und Offenbarung 22,20; 3a: Psalm 31,6; 3b: Lukas 23,43 und Martin Luther 1524; 4. Adam Reusner 1533
Anlass Trauerfeier


Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,
es ist kaum zu fassen, mit welch einem theologischen und musikalischen Tiefgang sowie vollendeter Formensprache ein 22jähriger komponieren kann. Der Gegensatz zwischen einer Welt des Kummers und der Hoffnung auf Erlösung, ein theologisches Standardthema zu Bachs Zeiten und auch folglich seiner Kantaten, hat er vielleicht nirgends ergreifender umgesetzt als im „Actus tragicus". Ernst und optimistisch zugleich geht es zu, die sanfte farbige Instrumentierung mit den Flöten und Gamben legt sich tröstlich wie Balsam auf wunde Seelen. Wir wissen nicht genau, für wessen Trauerfeier Bach dieses Stück komponiert hat, aber wichtiger als das ist, dass uns der Trost dieser Musik noch über Jahrhunderte hinweg erreicht. Und dass diese Kantate auch sehr passend ist für den heutigen Sonntag Okuli. Denn die Aufforderung, sein Haus zu verlassen aus dem Evangelium hat mit derjenigen, sein Haus zu bestellen in der Kantate durchaus etwas zu tun. Nachfolge Jesu bedeutet sich von manchem, was einen in der Vergangenheit festhalten will, zu lösen - so wie man sich auch von einem Verstorbenen lösen muss oder auch vom Gedanken an die eigene Unsterblichkeit. Beide Abschiede können sehr schmerzvoll sein - müssen aber sein, wenn wir unser Leben nicht rückwärtsgewandt leben wollen.

Unsere Kantate und auch die Texte dieses Sonntags zeigen eine Perspektive auf, unter der es nach vorne gehen kann. Auch wenn es beim ersten Hören fern zu liegen scheint, dass der Text der Kantate mit dem Predigttext aus dem Markusevangelium etwas zu tun hat, dazu aber später mehr. Hören wir erst einmal den Text:
Und Jesus setzte sich dem Gotteskasten gegenüber und sah zu, wie das Volk Geld einlegte in den Gotteskasten. Und viele Reiche legten viel ein. 42 Und es kam eine arme Witwe und legte zwei Scherflein ein; das ist ein Heller. 43 Und er rief seine Jünger zu sich und sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Gotteskasten gelegt als alle, die etwas eingelegt haben. 44 Denn sie haben alle von ihrem Überfluss eingelegt; diese aber hat von ihrer Armut ihre ganze Habe eingelegt, alles, was sie zum Leben hatte.

Was Markus hier erzählt, ist die letzte Begebenheit, bevor die Passion Jesu beginnt. Bevor er sich selbst hingibt, wird die Witwe zum Beispiel dafür. Ich verstehe die Geschichte so: Es geht hier nicht um das, was man abgibt, sondern um das, was man hingibt. So wird die Gabe der Reichen gar nicht kritisiert, dass sie etwa knauserig waren. Nein, sie legen viel ein. Auch den Tempelbetrieb geißelt Jesus hier (noch, muss man sagen) nicht. Orte des Gebetes wollen und müssen unterhalten werden bis heute, warum nicht auch von den Reichen.

Entscheidend ist, dass die Witwe etwas anderes tut: Sie gibt zwar etwas, was sie hat, aber sie wagt dabei, etwas von ihrer Armut einzulegen. Sie gibt und zeigt ihre Armut öffentlich. Da klingt das Wort Mut, das in Armut steckt klar durch, auch wenn Armut eigentlich von griech. „eremos" kommt - einsam. Aber eben das sind bzw. waren Witwen damals in der Regel vor allem. Arm und einsam. In dem, was sie ist, gibt sie sich zu erkennen und gibt sie sich hin. Es geht um Hingabe als Lebenshaltung. Das „Mehr" der Witwe besteht im Vertrauen, nur etwas zu gewinnen, wenn man etwas loslässt. Aber kann man das? Könnten wir so leben in völliger Hingabe an andere, mit all unseren Kräften und eben auch allen Sicherheiten? Es wäre ja schon viel, man wäre wie die Reichen hier. Aber auch dazu sind wir keinesfalls immer bereit - vom Überfluss abzugeben. Aber wenn wir den schon verbergen möchten - wie sollen wir es dann wagen, etwas von unserer Armut offenzulegen - von unserer persönlichen, geistigen und geistlichen, von unserer Widersprüchlichkeit, von dem, was in unserem Leben irgendwie verkorkst oder armselig ist? All das, was wir an uns ja kennen, wenn wir uns ehrlich im Spiegel betrachten? Ein aktuelles Beispiel mag das verdeutlichen: Wer lautstark oder partei-programmatisch einen Wandel bzw. eine Umkehr in der Erinnerungskultur in Deutschland fordert, will gerade nichts von Armut offenlegen, sondern will sie verbergen. Er will lieber mit dem Reichtum seiner Geschichte angeben. Aber gerade die Einsicht - und zwar durchaus wechselseitig - in die eigene Armseligkeit und das politische Versagen, war in Europa die Voraussetzung dafür, nach zwei verheerenden Weltkriegen auf den anderen zugehen zu können, ohne für ihn bedrohlich zu sein. Nur das, dass man immer wieder aufeinander zugeht im Bewusstsein der eigenen und der fremden Schattenseiten, erhält letztlich den Frieden. Heute Nachmittag trifft sich in Leipzig zum dritten Mal die internationale, überparteiliche Bewegung „Pulse of Europe" und in vielen europäischen Großstädten ebenfalls. Ich war lange nicht mehr auf Veranstaltungen, wo man so konstruktiv sagt, was man will und nicht, was man nicht will. Es ist ein freundliches Zeichen, dass man in Europa mit den anderen zusammen leben will in einer offenen, freien, demokratischen Gesellschaft unter Anerkennung der eigenen und fremden Fehlerhaftigkeit und Schwäche und das nicht zu verbergen, da gehen Leute ans Mikrofon und erzählen ihre Geschichten von ihren französischen und spanischen Freunden und können auch lachen über die hüftsteifen Deutschen, die meistens in fröhlicher internationaler Runde die einzigen sind, die ihre eigenen Lieder nicht mehr kennen - diese Freundlichkeit der eigenen Armut gegenüber und darüber miteinander zu lachen - das führt zum Leben. Man kann kritisch sein der EU gegenüber, aller Politik. Aber eines haben wir in Europa ja eigentlich sehr gut gelernt: Zusammen zu bleiben garantiert den Frieden. Und wo wir uns unsere Verletzlichkeit und Bedürftigkeit auch zeigen, funktioniert das am besten. Es ist letztlich wie bei jedem von uns in seinem kleinen Leben, in unseren Familien und Freundschaften - es ist genau der gleiche Mechanismus: zum Frieden finden wir miteinander nur, wenn wir uns auch unsere Anteile an geistiger und auch geistlicher Armut gegenseitig gestehen und zugestehen.

Aber ich denke, genau deshalb steht diese Geschichte da, weil wir eben noch nicht so sind wie die Witwe und nicht so handeln wie sie. Aber was sind wir letztlich anderes als sie? Wir haben so oft das Bedürfnis, was wir haben, unbedingt festhalten und absichern zu müssen. Aber wir haben mit unserem Leben, mit unserer Liebe, mit unseren Gaben so viel bekommen, dass wir uns trotz all unsere Schwächen, Widersprüche, und Armseligkeiten und was wir so an Schuldgeschichten mit uns herumschleppen, trotzdem verströmen können ohne die Angst haben zu müssen, leer zu werden, im Gegenteil. Jesus hat seine Jünger und damit auch uns immer wieder zu dieser Haltung ermutigt, wenn er die Lilien auf dem Felde preist oder wie wir im Evangelium gehört haben, jemanden auffordert, ihm jetzt nachzufolgen und nicht zurückzuschauen, wenn man die Hand an den Pflug legt. Nicht verharren in der Welt des Todes bzw. wo die Toten das Sagen haben, sondern das Leben zu suchen.

Es gibt also eine Armut, die unser Haben betrifft. Und es gibt eine Armut, die unser Sein betrifft. Markus und letztlich Jesus selbst spielt damit: Die Reichen sind hier die Armen, weil sie nur viel geben können - aber nicht sich. Sie kennen die Freiheit der Hingabe nicht. Und die arme Witwe ist die, die in Wirklichkeit reich ist: Weil sie sich in und mit dem, was ihr gegeben ist, hingeben kann - mitsamt ihrer Armseligkeit.

Auch Johann Sebastian Bachs Kantate bewegt sich in diesem Raum: Der Mensch ist arm, weil er sterben muss - aber er ist zugleich reich durch die Hingabe Jesu. Sich dem ganz hinzugeben, sich diesen Trost gefallen lassen und ihn spüren - dazu fordert Bach geradezu auf. So geht es in den ersten Sätzen der Kantate um den vergänglichen Mensch, der unter dem Gesetz des Todes steht. Aus sich selbst heraus ist er nichts anderes als sterblich - und so wird er nüchtern und klar angesprochen, sich vor der Illusion seiner Unsterblichkeit und Unverwundbarkeit zu hüten. „Bestelle Dein Haus, denn Du wirst sterben und nicht lebendig bleiben." Das Bass-Solo hat bei aller Eindringlichkeit auch etwas Bedrohliches. Aber man weiß es nicht: Hört man in der Instrumentalbegleitung den ackernden Menschen, der emsig den Acker seines Lebens bestellt - so, als könnte er damit irgendwie doch den Tod abwenden? Und wenn das schon nicht möglich ist, sich doch zumindest das ewige Leben erarbeiten? Oder ordnet hier wirklich einer ordentlich seinen Nachlass, damit er diese Welt in Frieden verlassen kann?

Im mittleren Satz wendet sich dann die Stimmung: Dem Gesetz des Sterbens wird die gute Nachricht des neuen Lebens gegenübergestellt. Und das mit allen nahezu allen verfügbaren musikalischen und dramaturgischen Mitteln. Da liegt der alte Bund der Sterblichkeit tief unten in den tieferen Chorstimmen, auch noch streng gebunden in einer Fuge, gleichförmig in Dynamik und Rhythmik. Und dagegen ist frei, hoch, bewegt, in Tempo und Dynamik variierend, die Sopranstimme zu hören, schon auf dem Weg heraus aus diesem alten Bund mit der Bitte: „Ja, komm, ja komm, Herr Jesu, komm". Sie ist auf dem Weg, diese Stimme. Aber am Ende des Satzes verklingt sie einmal einsam und allein - und irgendwie instabil. Es ist harmonisch nicht klar, wo geht es hin, wie wird sich das auflösen. Und genau an dieser Stelle - genau in der Mitte der Kantate - notiert Bach einen leeren Takt mit einer Fermate über der Pause. Der Weg, das Evangelium vom neuen Leben durch Jesus anzunehmen, vollzieht sich eben nicht bruchlos. Es gibt das stille Staunen wie auch das wortlose Verstummen auf diesem Weg - und meistens liegt es irgendwie ineinander. Von welcher Art also die Pause ist, kann letztlich nur der Hörer für sich bestimmen.

Damit eng verwoben behandelt Bach in diesem Satz mindestens genauso eindrucksvoll die Frage: Wie vermittelt sich dem unter dem Gesetz des Todes stehenden Menschen überhaupt diese gute Nachricht? Wie kommt einer überhaupt zur Bitte: „Ja, komm, Herr Jesu?" Die Antwort könnte heißen: Unter dem Bekennen dessen, was sich musikalisch noch unter diesen Gegensatz zwischen Tiefchor und Sopranstimme legt: Nämlich der Anfang des Chorals „Ich hab mein Sach‘ Gott heimgestellt." Natürlich: Es geht um Hingabe - wie in der Geschichte der armen Witwe mit ihrem Scherflein! Es geht darum, davon etwas zu wagen! Und so ist es nur folgerichtig, dass auch in der folgenden Alt-Arie davon gesungen wird. Es ist nicht zu überhören, wie sich gegenüber der vom Sopran gesungenen Linie das noch fehlende Vertrauen hier in Musik und Text entwickelt hat. „In deine Hände befehle ich meinen Geist, du hast mich erlöst, du treuer Gott." Und das setzt sich dann noch fort in dem fest und sicher gesungenen Lobgesang des Simeon: „Mit Fried und Freud ich fahr dahin". Mit Fried und Freud - und nicht in Furcht vor dem Schrecken des Todes als endgültigem Ende: Jetzt ist „der Tod ... mein Schlaf worden." Ein Schlaf. Mehr nicht. Ein Übergang von Einschlafen zu neuem Erwachen. Und sogar ein wohltuender, denn: Was gibt es schöneres, als aus einem tiefenden erquickenden Schlaf aufzuwachen und die Sonne aufgehen zu sehen?

In diese gewonnene Festigkeit und ja: Ausgeschlafensein stimmt die Gemeinde am Ende ein: „Die göttlich Kraft macht uns sieghaft." Die göttlich Kraft. Nichts anderes. Nichts, was wir haben. Sondern was wir durch sie sind. „Durch Jesum Christum" - durch seine Hingabe für uns, die uns von allem befreien will, was uns an Todesmächten so alles im Griff hält. Sie macht uns frei, auch uns hinzugeben an dieses Leben und an unsere Nächsten ohne Angst haben zu müssen, dadurch etwas zu verlieren. Im Gegenteil! Diese Freiheit lässt einen beschwingt singen, ja tanzen, und vor allem das Ende der Kantate bzw. vor allem der letzte Takt wie ein Schwung Richtung Himmel. Amen, Triller und weg - und zum Schluss wieder eine Pause mit Fermate. Und wieder die Stille wie in der Mitte der Kantate. Diesmal aber klar in der Erwartung: Da kommt etwas Gutes. Nein, etwas sehr Gutes. Die Stille ist jetzt klar und rein. Und mit diesem Ende kann auch die Predigt jetzt aufhören.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org