Predigt über Markus 1,32.39

  • 22.11.2017 , Buß- und Bettag
  • Pfarrerin Taddiken

Predigt über Markus 1,32-39; 19. So. n. Trinitatis, 22. Oktober 2017

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Am Abend aber, da die Sonne untergegangen war, brachten sie zu ihm alle Kranken und Besessenen. 33 Und die ganze Stadt war versammelt vor der Tür. 34 Und er heilte viele, die an mancherlei Krankheiten litten, und trieb viele Dämonen aus und ließ die Dämonen nicht reden; denn sie kannten ihn. 35 Und am Morgen, noch vor Tage, stand er auf und ging hinaus. Und er ging an eine einsame Stätte und betete dort. 36 Und Simon und die bei ihm waren, eilten ihm nach. 37 Und da sie ihn fanden, sprachen sie zu ihm: Jedermann sucht dich. 38 Und er sprach zu ihnen: Lasst uns anderswohin gehen, in die nächsten Orte, dass ich auch dort predige; denn dazu bin ich gekommen. 39 Und er kam und predigte in ihren Synagogen in ganz Galiläa und trieb die Dämonen aus.

Liebe Gemeinde,
kurz und schlicht steht diese Geschichte ganz am Anfang des Markusevangeliums. Irgendwie unscheinbar beim ersten Hören. Da geht ein Tag zu Ende. Es ist Sabbat. Israels Ruhetag. Letzter Tag der Schöpfung Gottes. Und: Nachdem er seine ersten Jünger berufen hat, ist es nach Markus der erste Tag, an dem Jesus öffentlich tätig ist, wo er predigt und heilt. Morgens in der Synagoge von Kapernaum, danach hat er einem Besessenen die ihn peinigenden bösen Geiser ausgetrieben, danach die Schwiegermutter des Petrus von ihrem Fieber befreit, hat ihre matte und kraftlose Hand ergriffen und sie aufgerichtet, dass sie am Leben wieder teilnehmen kann, was sie umgehend tut. All das vollzieht sich ziemlich unspektakulär. Jesus spricht, berührt, er wendet sich zu. Alles in nüchterner Klarheit, kein Tamtam herum. Und das strahlt aus, hat eine unglaubliche Anziehungskraft auf die Leute. Welche neue Lehre in Vollmacht ist das? Ganz offenbar fühlen sie sich alle angesprochen, denn sie bringen nach Sabbatende nicht nur ihre Kranken und Besessenen zu Jesus, sondern die ganze Stadt macht sich auf den Weg, so heißt es.

Vielleicht versprechen auch sie sich Heilung von ihren Dämonen, sie, die Gesunden bzw. vermeintlich Gesunden. Denn das, was dämonische Kräfte ausmacht, das spüren sie offenbar sehr wohl, betrifft auch sie und ihr Leben. Denn Dämonen, das sind erst einmal Mächte, die etwas auseinanderbringen, zerteilen, verdrehen im Sinne von Eintrübung des klaren Blickes. Kräfte, die einen so in Besitz nehmen können, dass man nicht mehr sich selbst gehört. Dass man sich von sich und der Welt entfremdet fühlt. Man muss nicht verrückt sein, um gerade nach Sonnenuntergang - wie hier in der Geschichte - zu merken, was nachts hochkommen kann. Vieles lässt sich ja am Tag gut verdrängen. Auch das, was sich da bei uns meldet, wenn wir nachts wach liegen. Alle Probleme, die wir da wälzen, werden da wie Gespenster noch größer, scheinen unüberwindbar. Wie soll ich das alles bloß bewältigen? Ja, nachts, da greifen die Mächte der Verwirrung besonders Raum und besetzen auch unsere Zentren in Kopf und Herz, die da heißen: Vernunft. Denken. Fühlen. Es kann so kommen, wie in dem bitteren Witz, wo einer zum Arzt kommt: „Herr Doktor, unter meinem Bett befindet sich ein Krokodil" - und der Arzt ihm sagt: „Beruhigen Sie sich, unter Ihrem Bett ist kein Krokodil, kommen Sie morgen wieder." Aber am nächsten Morgen kommt der Mann nicht, der Arzt ruft dessen Frau an, die ihm sagt: „Mein Mann ist heute Nacht von einem Krokodil gefressen worden, das unter seinem Bett war." Ja, sie können uns fressen, können uns absorbieren oder zumindest wie die Schwiegermutter des Petrus wie gelähmt und aller Lebenskräfte beraubt auf unser Lager werfen. So ist es mehr als verständlich, dass die Leute nach etwas suchen, was ihre Abwehrkräfte wieder aufbaut.

Aber es ist noch etwas anderes, warum das ganze Volk betroffen ist. Denn wenn man sich verdeutlicht, welche sprachliche Ableitung das Wort Dämon hat, dann sieht man, es kommt von „Volk" und zum anderen aus der alten Wurzel „da", die für teilen, zerreißen, zerschneiden steht. Dämonen sind also auch die Kräfte, die das Volk zerteilen und zerreißen. So mögen die Leute - und auch wir heute mit ihnen? - auch auf der Suche sein nach einem Mittel gegen die Kräfte, die sie als Gemeinschaft, als Stadtgesellschaft, entzweien, die sich zwischen sie schieben, sich selbst und einander entfremden und sie mit ihren ureigensten Mitteln der Verzerrung und der Vereinfachung verwirren. Und die all diese kleinen Dämonenstimmen in uns nicht nur reden lassen, sondern da kräftig mitreden oder sie gar pushen, anheizen mit „alternativen Fakten" oder genauso schlimmen Halbwahrheiten. Die sie auf falsche Fährten führen, die falschen Gewichtungen vornehmen. Letzte Woche hat der frühere bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber in der Sendung „hart aber fair" gemeint. „Die Flüchtlingsfrage erschlägt einfach alles" - was auch einmal wieder für die Sendung selbst galt, die eigentlich ein anderes Thema hatte. Nun ja, kurios, so oder so, aber in der Tat ist das Thema nicht unser größtes Problem - eher hängen sich manche Probleme an dieser Frage auf. Denn ganz andere Probleme gilt es anzugehen, die lange, viel zu lange nicht Thema waren in der öffentlichen Debatte. Und so langsam scheint sich das ja irgendwie niederzuschlagen in der Erschütterung der gesamten Parteienlandschaft, alles sortiert sich nicht nur in Sachsen nach dem schmerzlichen Erwachen aus dem Wahlkampf bei Tageslicht.

So mag es insgesamt durchaus ein Motiv sein, dass ganz Kapernaum sich vor Jesu Tür versammelt: Dass die Leute mehr ahnen als wissen: Hier ist die Tür zum Leben. Dahinter werden die Dämonen in ihre Schranken verwiesen. Denn zum einen heilt Jesus am Schabbat, er will den Menschen zu seiner schöpfungsgemäßen Bestimmung zurückführen - zum „Und siehe, es war sehr gut" des Anfangs. Und zum anderen schlägt Jesus auf ihrem eigenen Gebiet - auf dem der Dunkelheit. Er lässt sie nicht größer werden als sie sind. Lässt sie nicht reden. Sie sind da, sie werden gesehen, werden erwähnt. Aber sie dürfen nichts sagen, nicht herumschreien, wie es morgens noch war bei der Heilung des Besessenen. Auch in der Nacht ist das Licht stärker, erweist sich der, der von sich sagt: „Ich bin das Licht der Welt, wer mir nachfolgt wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben." Die Kräfte der Vernunft, der Klarheit des Verstandes setzen sich durch, und Menschen kommen durch die Nacht von Krankheit, Anfechtung und Traurigkeit hindurch zu neuen Kräften.

Die aber benötigt ganz offensichtlich auch Jesus selbst. Am Morgen, noch im Dunklen, kurz vor Sonnenaufgang „steht er auf". So wie die Frauen am Ostermorgen vor Sonnenaufgang aufstehen und sich in Bewegung setzen, heraus kommen aus ihrer lähmenden Traurigkeit, den Tränenschleier anlüften. Sie wissen's ja aus der Tradition des Judentum, die wir in den Psalmen immer wieder finden: Der frühe Morgen ist der Zeitpunkt der Gotteshilfe. Langsam klären sich die Umrisse, die Schatten verschwinden, das klärende Gebet sucht Gott, sucht Vergewisserung. „Und ging hinaus ..." heißt es weiter, hinaus zu denen, die sonst noch „draußen vor der Tür" sind, ungeborgen, unbeheimatet, unbehaust. Es ist ein besonderes „Aufstehen", es ist wie ein österliches Auferstehen, alle Worte und Formulierungen klingen nach Ostergeschichte.

Es geht jetzt weiter nach dieser Nacht, aber es geht neu weiter, anders. Denn seine eigentliche Aufgabe ist die Predigt vom Reich Gottes. Wo es kommt, müssen die Dämonen weichen. Die Heilungen sind ein Zeichen dafür, nichts anderes als das und jeder, der seine Dämonen im Griff hat, ist ein lebendiger Beweis dafür, dass das Leben sich durchsetzt gegen die Kräfte des Todes. Aufstehen, in den neuen Tag hinein, sich bewegen lassen und weitergehen, der Gefahr widerstehen, sich selbst zu reduzieren auf die Erwartungen der anderen, wie sie hier durch den Anspruch der Jünger formuliert wird: Jedermann sucht Dich. Aber Jesus lässt sich nicht festhalten, lässt sich nicht festlegen. Wenn alle Welt ihn sucht, dann muss er auch zu aller Welt, in die nächsten Orte und darüber hinaus, muss aufstehen und „auferstehen", muss sein Werk fortsetzen am ersten Tag nach dem Schabbat, also am Sonntag, dem Tag seiner Auferstehung, dem ersten Tag der alten wie auch der neuen Schöpfung.

So ist diese auf den ersten Blick kurze schlichte Geschichte ein ganz symbolstarker Text zu Beginn des Markusevangeliums, sehr vielschichtig in Bezug auf das, was kommt, vor allem, was zwei Punkte betrifft:

Zum einen: Dass der Mensch von jedem Anspruch tödlicher Mächte auf ihn befreit werden soll - auch wenn er zuweilen nächtliche Kämpfe auszufechten hat und nicht weiß, ob die Tür zum Leben sich noch öffnen wird. Nicht zuletzt ist das eine Ebene, auf der man diese Geschichte lesen kann, sie liest sich, wie der Prozess eben abläuft bei einem Menschen, wie er seine Dämonen los wird, wie er neue Kräfte vor dem frühen Morgen bekommen, nachdem er die Nacht durchgestritten hat, auch im Ringen mit Gott - aber das Licht war noch da. Für mich ist sie wie die Komplementärgeschichte zu derjenigen im Alten Testament, wo Jakob am Jabbok mit Gott oder einem Dämon ringt, es bleibt offen. Sichtbar aber sind die Spuren dieses Ringens mit seiner lahmen Hüfte einerseits, so wie der neue Anfang in seinem Leben anderer, den sein neuer Name „Israel" symbolisiert „Gott streitet (für uns)" oder „Gott herrscht" oder - auch das findet sich - „Verstand, der Gott sieht". Den hat derjenige, von dem die Dämonen ablassen. So wird Jakob ein vom anbrechenden Morgen bestimmter Mensch, bleibt nicht von der Nacht seiner Vergangenheit umfangen. Am Morgen wird der Schritt über den Fluss zur Versöhnung mit seinem Bruder Esau möglich, der Segen Gottes bleibt bei ihm, Nacht und Tag.

Und das andere, wofür diese Geschichte gleich zu Beginn des Evangeliums den Rahmen setzt, ist: Wir verstehen die Heilungsgeschichten des Neuen Testaments dann, wenn wir sie begreifen als vorweggenommene Ostergeschichten. Als Geschichten, die uns das unvergleichliche Wunder der Osternacht vor Augen führen. Sie zeigen, was Gott versprochen und getan hat und was ER einmal an Allen tun wird. Sie wollen die große Hoffnung auf das Reich Gottes, auf die Auferstehung aller Toten und die Heilung aller Leiden ankündigen und verleiblichen - mitten im alten Leben, das einmal im Tod endet. Daher werden von Jesus werden nicht irgendwelche Krafttaten und irre Spektakel erzählt, sondern elementare Hilfeleistungen für Menschen, die so leiden, dass sie mitten im Leben sich selbst entfremdet wahrnehmen und aus der menschlichen Gemeinschaft zu fallen drohen. Es geht in diesen Wundern um einen Kampf gegen das, was Gottes Schöpfung zerstört und den Menschen als sein Ebenbild erniedrigt und schändet.

Wir mögen an den Wunderberichten des Neuen Testaments auch zweifeln. Das ist verständlich. Sicher mögen sie im historischen Wirken Jesu festen Anhalt haben. Sie haben jedoch erst im Licht des Ostermorgens die literarischen Ausprägungen bekommen, die uns nun in den Evangelien vorliegen und ansprechen wollen. Sie wollen uns nicht imponieren, sondern unsere Hoffnung stärken und Kraft geben zum Widerspruch gegen die Todesrealität unserer Welt. Diese Bilder heißen uns hoffen, dass Gott keinen faulen Kompromiss schließt mit der menschlichen Not, mit Krankheit und Leiden, mit dem Tod. Sie zeigen, dass die Hoffnung auf Überwindung des Bösen und des Schmerzes einen Anker hat im irdischen Wirken des Jesus von Nazareth, dass aber die Erfüllung dessen noch aussteht, was sein Evangelium verspricht: Die Heilung aller an Geist und Leib, die Aufhebung der Ächtung des Menschen und seines Elends, die Beendigung allen Unrechts. Dieser Morgen aber, er wird einmal anbrechen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org