Predigt über Markus 2,1-12

  • 23.10.2022 , 19. Sonntag nach Trinitatis
  • Pfarrer Martin Hundertmark

Predigt über Markus 2,1-12 am 19. Sonntag nach Trinitatis

23. Oktober 2022, St. Thomas zu Leipzig um 09.30 Uhr und 18 Uhr

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

wer am Boden liegt, auf dem trampelt man nicht herum. Anders zu Zeiten des Evangelisten Markus. Dem schwachen und gelähmten Menschen wird die Schuld für seine Situation gegeben, anstatt ihm zu helfen. Krankheit galt als Strafe. Wenn Du krank bist, dann ist Deine Beziehung zu Gott nicht intakt. So klar und so einfach machte man es sich.

Wie muss das im Ohr des Kranken klingen? Solche Worte sind wie ein scharfes Schwert. Sie bohren sich tief ins Herz. Von Trost keine Spur. Mehr noch: Dem ohnehin schon Kranken wird auch noch die Last eigener Schuld für seine Krankheit aufgebürdet. Das drückt nieder und lähmt.

Nun mag man zu Heilungsgeschichten als aufgeklärter Mensch durchaus ein ambivalentes Verhältnis haben, und es stellt sich die Frage, kann so eine Geschichte heute etwas bewirken, kann sie Trost spenden?

Ich denke, ja sie kann es, wenn wir ihr zugestehen, dass sie einen höheren Symbolgehalt hat als denn eine wortwörtliche Aussage.

Nähern wir uns der Geschichte von der Heilung eines Gelähmten von drei Seiten. Da sind

 

1.) Freunde in der Not

Den ganzen Tag liegt er auf seiner Matte. Versuche aufzustehen, sind längst aufgegeben. Nein ich bleibe liegen. Es hat alles eh keinen Zweck mehr. Eingeengt ist das Sichtfeld. Vom Boden aus sieht man nur wenig durchs Fenster. Ein immer gleiches Bild. Das engt ein, auch die Gedanken. Und so entwickelt sich eine Abwärtsspirale aus Kraftlosigkeit, Ideenlosigkeit und Perspektivlosigkeit. Der Strudel wird immer stärker und zieht den Kranken hinab. Bald ist wirklich alles gelähmt, Körper und Geist. Ein Bild des Jammers, ohne Hoffnung.

„So kann es nicht weitergehen“ sagen sich die Freunde. Sie wollen etwas tun, um ihn zu retten. Sie geben ihren Freund nicht auf. Dass sie ihn tragen müssen, ist schon zum gewohnten Alltag geworden. Doch heute tragen sie ihn zu einem bestimmten Ort. Gerüchteweise hörte man von einem, der Wunder bewirken kann. Da wollen sie hin. Denn sie wissen nicht mehr weiter. Das ist das fantastische an den Freunden. Sie geben keine Ratschläge, „du musst das jetzt so machen oder so“.  Sie sagen auch nicht „Du musst dich zusammenreißen“ oder „hab dich nicht so“. Vielmehr sehen sie, wo ihre eigene Grenze ist und schauen dennoch auf einen Ausweg. Diesen beschreiten sie mit aller Konsequenz.

Nun droht das Unternehmen „Rettung unseres Freundes“ zu scheitern. Denn zu hoch ist die Hürde, aufgerichtet von den vielen Menschen, die sich im und um das Haus versammelt haben. Jeder will etwas von Gottes Wort abbekommen. Das mag man niemanden verdenken. Wenn es voll ist, ist kein Platz mehr im Haus, auch nicht für den Gelähmten, der zudem noch von vier Personen getragen wird.

Aufgeben gilt nicht. Die Freunde steigen aufs Dach. Sie steigen Jesus aufs Dach. Eine ungewöhnliche Situation braucht gelegentlich eine ungewöhnliche Maßnahme. Denn, wie gesagt, sie geben ihren Freund nicht auf und sind sich doch ohnmächtig bewusst, dass sie an die Grenze ihrer Möglichkeiten gestoßen sind. Nicht jedoch an die Grenze des Machbaren, um zum Zielpunkt einer helfenden Hoffnung zu kommen. Deshalb steigen sie Jesus aufs Dach und werfen ihm ihren Freund vor die Füße.

„Hier sind wir, wir können nicht anders. Hilf Du. Wir sind am Ende mit unserem Latein. Wir mögen unseren Freund, doch sein Selbstmitleid ist nicht mehr zu ertragen. Deshalb sind wir hier. Wir glauben an Deine Hilfe!“ Damit zerstören sie nicht nur die Andacht, sondern auch gleich das schützende Dach der Gewohnheit wird eingerissen. Gewinnen tun alle den offenen Himmel. Der am Boden liegende Kranke bleibt nämlich auch in seinem Sichtfeld eingeschränkt. Erst recht, wenn ihn zu viele andere umgeben. Doch der Himmel scheint ihm schon zu leuchten, weil das Dach aufgebrochen wurde.

2.) Ein heilsamer Dachschaden

Nun liegt er vor Jesus. Platzt mittenhinein in die andachtsvollen Worte. Die Ruhe ist gestört.

Das schützende Dach kaputt. Jetzt bist Du dran.

Jesus wird zum Handeln aufgefordert. Die Kirche wird zum Handeln aufgefordert.

Das aufgebrochene Dach, liebe Gemeinde, ist in dieser Geschichte auch ein Symbol für den heilsnotwendigen geweiteten Blick. Es kommt Licht in die Angelegenheiten der sich im dunklen und gut geschützten Raum versammelnden Gemeinde. Gewissermaßen von außen wird ihr eine Aufgabe hineingetragen und vor die Füße geworfen.

Jetzt gilt es Farbe zu bekennen und zu handeln.

Das ist unbequem. Wäre es nicht viel schöner, andachtsvoll Worten und Musik zu lauschen, als sich den Aufgaben zu widmen? Brauchen die Zuhörer nicht auch die Zeit zur Besinnung und zum eigenen Schöpfen neuer Kräfte für Körper und Seele?

Ja, gewiss. Doch gelegentlich ist es anders. Dann geht es ums Eingemachte. Dann geht es um Glaubwürdigkeit. Dann braucht es neben den Worten auch die Taten als Zeugnis eines lebendigen Glaubens. Wir stehen als Kirche vor ebenso großen Herausforderungen wie unsere Gesellschaft.

Die Mehrfachkrise aus Energiemangel, Krieg und steigenden Preisen wird uns zu Maßnahmen zwingen, die nicht angenehm sind. Dann wird es umso wichtiger sein, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Für eine Kirche heißt das, zu schauen, was ist Kern ihres Auftrages? Was darf sie nicht aufgeben und welche Angebote sind in Krisen hilfreich für die Trost suchenden Menschen?

Sich hinzulegen und zu jammern, dass früher alles besser war, wird lähmen. Auf jede Idee zu antworten „das geht nicht, weil wir das schon immer so gemacht haben“, wird nur tiefer in den Sumpf bürokratischer Selbstgefälligkeit führen. Die Frage zuzulassen, was dem Gemeindeleben dient und selbige ernsthaft beantworten zu wollen ist wie das gegrabene Loch im Dach des Gewohnten. Es schimmert ein Stück Hoffnung in den schwierig gewordenen Alltag.   

3.) Die aufrichtende Ansprache

Unter dem Dach mit dem geöffneten Himmel geschieht das Wunder der doppelten Heilung.

Wenn Gott mich anschaut mit den Augen, die nicht richten, sondern vergeben wollen, dann schaut er mir direkt ins Herz. Das ist freundlich. Das ist tröstlich.

Wo Gott mich anspricht mit Worten, die mich aufrichten, schenkt er mir neue Kraft. Aus dem in sich verkrümmten Menschen entsteht der aufrecht, zurück ins Leben gehende Mensch.

Als Hörer dieser Geschichte, darf ich mich heute auch getrost selber fragen, ob ich der Gelähmte bin? Oder ist es vielleicht jetzt an der Zeit, Freund zu sein, um andere mitzunehmen, sie dorthin zu führen, wo zum aufrechten Gang geheilt und jener praktiziert wird?

Jesus stiftet verbal und nonverbal zum aufrechten Gang an. Lähmende Schuld wird vergeben. Aus der erlösten Zeit der Vergebung folgt die gelöste Zeit zum Aufstehen.

„Selber schuld“ – das zählt nicht bei Jesus Christus. Denn er weißt dem Weg in die Zukunft ohne Lasten der Vergangenheit als niederdrückendes Bündel mitschleppen zu müssen. Alles, was dich von Gott trennt, ist dir vergeben.

Diese ungeheure Provokation fordert die Zuhörer heraus. Erst wird die Andacht gestört und dann auch noch ein neuer Weg in die Zukunft aufgezeigt?

Das ist zu viel für die Besserwisser und die Veränderungsunwilligen.

Wie kann er es wagen? Welche Vollmacht hat er eigentlich?

Jesus spricht die heilenden Worte zum am Boden liegenden Menschen, weil er in seiner Person beides vereint: Wort und Tat. Seine Verkündigung hat Folgen. Sie erweist sich als glaubwürdig, weil sie einhergeht mit der Tat.

Der Gelähmte steht auf. Dass, was ihn niederdrückte ist vergeben. Gottes Zutrauen in sein Leben hat kein Ende. Vielmehr noch, es wartet auf ihn ein neues Leben mit neuen Chancen. Schon im Aufstehen wird der Blick geweitet. Hell und anders leuchtet der Horizont, weil der Gelähmte ganz Mensch sein darf. Jesus gibt ihm seine Würde zurück, verbunden mit einer neuen Aufgabe. „Nimm deine Matte und geh nach Hause.“ Dort ist das Leben und du darfst es gestalten – mit eigener Kraft und neuen Ideen. Nimm es wieder selbst in die Hand als dich ständig von anderen tragen zu lassen.

Die Menge macht Platz. Heilsam ist das Durchbrechen auch dieser Mauer. Wie oft stehen wir uns selbst im Wege, weil Gewohntes bequem ist und neue Sichtweisen zu viel durcheinanderbringen?

Die Menge macht Platz und endlich halten die Besserwisser einmal das Maul. Stehen mit geöffnetem Mund staunend vor dem Wunder neuer Lebensperspektiven. Und dann mündet alles in den Lobpreis. Amen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als unser Verstehen, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

 

Pfarrer Martin Hundertmark

hundertmark@thomaskirche.org