Predigt über Markus 3,31-35

  • 15.09.2019 , 13. Sonntag nach Trinitatis
  • Prof. Dr. Andreas Schüle

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt. Amen.

Liebe Gemeinde,

 der Predigttext heute versetzt uns an den Beginn der Lebensgeschichte Jesu, und zwar so, wie sie der Evangelist Markus erzählt. Vermutlich ist dies das älteste der vier Evangelien und führt uns deswegen möglicherweise besonders nahe an den Menschen Jesus heran. Allerdings gibt es bei Markus keine Geburtsgeschichte, keinen Stall, keine Hirten, keine Engel oder Weisen aus dem Morgenland. Markus erzählt uns  auch keine Jugendgeschichten, wie man sie an anderen Stellen findet – etwa über Jesus, den Teenager, der während einer Pilgerreise seinen Eltern entwischt und sich im Tempel mit den Schriftgelehrten unterhält. Wenn wir nur Markus hätten, wüssten wir nicht einmal, wer Jesu Vater war. Von einem Joseph ist da jedenfalls nicht die Rede.

 Nein, diese Geschichte beginnt anders. Sie beginnt mit einem erwachsenen Mann, der auf einmal in der Wüstengegend des Jordantals auftaucht – damals wie heute so ein bisschen ein Niemandsland. Ein Mann aus Nazareth in Galiläa sei er, das wird uns verraten, aber das war es dann auch schon. Mehr „Info“ gibt es nicht.

Jesu Geschichte beginnt in der Wüste – auf einem weißen Blatt Papier sozusagen. Soziales Umfeld, frühe Prägungen, Charakterstärken und -schwächen, persönliches Erscheinungsbild – all das, worüber wir vielleicht gerne etwas wüssten, weil wir danach unsere Mitmenschen rastern, wird uns vorenthalten.

 Jesu Geschichte beginnt in der Wüste. Was an diesem Menschen Jesus interessant und wichtig ist, beginnt hier. Und vielleicht hat der Evangelist Markus dabei nicht nur an Jesus gedacht, sondern auch an uns. Unsere Lebensläufe sind eben so, wie sie sind – geprägt durch die Kultur, die um uns herum ist, durch die DNA, die in uns drinsteckt, und was auch immer noch ... . Manches davon kann man beeinflussen, vieles nicht. Aber die Biographie eines Christenlebens, die Biographie des Glaubens, ist anders. Sie hat ihre eigene Zeit, ihren eigenen Rhythmus und ihre eigenen Regeln. Und so ist es sicher kein Zufall, dass Markus nicht nur Jesus, sondern mit ihm auch uns zunächst einmal in die Wüste schickt, wo nichts ist, wo die Geschichte auf einem weißen Blatt Papier beginnt.  

Das erste, was wir von Jesus erfahren, ist, dass er sich am Jordan taufen lässt, das zweite, dass er sich auf die Suche nach den Menschen macht, mit denen er fortan unterwegs sein will. Neu auftauchen, noch einmal neu und anders ins Leben einsteigen und die Menschen finden, mit denen das möglich ist. Ganz elementare Dinge, wenn es um einen Anfang geht – auch für diesen Mann aus Nazareth. Da gibt es keine großen Reden, da wird nicht Wasser in Wein verwandelt (das erste, was uns das Johannesevangelium von Jesus erzählt) und übers Wasser läuft auch niemand. Es beginnt anders, es beginnt damit, die Menschen zu finden, mit denen man den Weg gehen kann. Und auch da sind wir mit unserem Leben vielleicht schon mehr in der Geschichte Jesu drin als wir ahnen.  

 Jesus findet also Menschen. Wir kennen sie als die zwölf Jünger, die uns namentlich vorgestellt werden. Aber während das geschieht, erzählt Markus auch davon, dass sich Jesu Familie auf die Suche nach ihm macht. Von der Mutter ist da die Rede, von Brüdern und Schwestern. Wie die allerdings heißen, wird nicht verraten. Und sie kommen auch nicht so gut weg. Offenbar haben sie Sorge um ihren etwas eigenwilligen Sohn und Bruder, wollen ihn sozusagen einfangen und wieder mit nach Hause nehmen – nach Nazareth, wo die Welt so ist, wie sie sein soll. Und so kommt es zu einem kleinen Zwischenfall, von dem unser Predigttext handelt: 

 Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen.

 32 Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir.

 33 Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder?

 34 Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder!

 35 Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.

 Bei dieser Antwort muss man schon ein bisschen schlucken. Zimperlich geht er nicht um mit seiner Familie, dieser Jesus. Und die Abfuhr, die er vor allem Maria hier öffentlich erteilt, war damals noch sehr viel mehr als heute schon eine gehörige oder besser ungehörige Respektlosigkeit gegenüber der eigenen Mutter. ‚Was geht mich meine leibliche Familie an. Das hier sind die Menschen, mit denen ich zusammengehöre!’ So könnte man zusammenfassen, was Jesus hier sagt. Allerdings darf man anfügen, dass Jesus, trotz aller schroffen Worte, wohl nie mit seiner Familie gebrochen hat. Zumindest einer seiner Brüder und vermutlich auch Cousins sind später wichtige Personen der urchristlichen Gemeinde geworden. Und freilich ist da Maria, die Mutter, die immer in seiner Nähe gewesen zu sein scheint – nicht zuletzt ganz am Schluss, als man ihn begräbt.

 Es geht nicht um ein Entweder-Oder, aber es geht um die Frage „Wo ist für mich Heimat?“, „Wo gehöre ich hin?“ Es gibt eine Familie, aus der man geboren wird, und eine Familie, in die man hineinwächst. Das eine schließt das andere nicht aus, ist aber eben nicht dasselbe. Wer also ist meine Familie? Das ist die Frage, die für Markus am Anfang steht. Und das hat Folgen, gerade auch für den Glauben. Dieser beginnt nicht privat, im stillen Kämmerlein, wo ich mit dem, was ich für meinen Gott halte, alleine bin, sondern es beginnt in einer Gemeinschaft. Was der Glaube für jeden von uns ist, hat viel mit den Menschen zu tun, die jetzt gerade rechts und links von uns sitzen. Das sagen wir jedes Mal, wenn wir das Glaubensbekenntnis sprechen: Da ist von der Sanctorum Communio, von der Gemeinschaft der Heiligen die Rede.

 Aber warum ist das so? Warum gibt es den Glauben nicht ohne eine Gemeinschaft, ohne eine Familie, in der er gelebt wird?  Darauf hat das Christentum zu allen Zeiten zwei eigentlich ganz einfache Antworten gegeben. Die eine: Ich allein und für mich bin nicht das, was ich werden könnte und was ich werden sollte. Die andere: Ich allein kann nicht mehr aus mir machen als ich bin. Für den christlichen Glauben sind wir keine fertigen Wesen, sondern wir sind in einem lebenslangen Prozess der Verwandlung begriffen. Das ist nicht unbedingt eine beruhigende oder tröstliche Nachricht, denn es bedeutet, dass wir ein Leben lang unfertig und, ja, auch unvollkommen sind. Einer meiner Professoren hat mir das zu Studizeiten einmal sehr einprägsam erklärt, und das Bild, das er verwendet hat, begleitet mich bis heute: Für den christlichen Glauben ist der Mensch ein einzelnes Gebäude auf einer riesigen Baustelle. Da sind überall Gerüste und Planen, die einem den Blick versperren. Wenn man dahinter schaut, kann man schon ahnen, wie alles einmal aussehen könnte. Aber erst wenn die Gerüste abgebaut und der letzte Handwerker seine Arbeit beendet hat, wird das fertige Werk sichtbar sein – die einzelnen Gebäude, aber auch die ganze Stadt.

 

Das ist kein sehr moderner Gedanke. Denn eigentlich haben wir doch das Gegenteil gelernt: Wir sind die starken und freien Individuen, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen und etwas aus sich machen. Und deshalb wollen wir auch nicht immer unterwegs sein und neu werden müssen. Nein, wir wollen ankommen und dort bleiben, wo wir angekommen sind. Dieses Ich-Sein und So-Sein hat sich tief in den Zeitgeist eingegraben. Man liest und hört es allerorten: „Alles beginnt mit dir“, „sei ganz du selbst!“, „sei authentisch“, „gib dich so, wie du bist“. Meine Identität, meine Story ist wichtig, sonst überlasse ich es ja anderen mir zu sagen, wer ich eigentlich bin.

 Das klingt auf den ersten Blick zwar alles groß und verheißungsvoll, aber schon auf den zweiten wird es doch ziemlich unheimlich. Du musst authentisch sein, du musst wissen, wer du bist. Du hast alle Optionen, aber du musst für dich entscheiden. Aber wenn du das nicht kannst, dann gehst du irgendwo irgendwann unter. Googeln sie mal zum Spaß eine Zeile wie „erfinde dich selbst“, und sie werden erstaunt sein, was für ein großes Thema dies ist, nicht zuletzt unter Kindern und Jugendlichen.

 Es gibt in unserer Zeit einen fast unbarmherzigen Zwang dazu, dass ich mir selbst Mitte und Zentrum bin, meine eigene Vision und mein eigenes Kraftwerk. Vielleicht gibt es Phasen im Leben, wo man das tatsächlich stemmen kann. Aber aufs Ganze gesehen, ist das eine Überforderung. Als Lehrer hier an der Universität habe ich Gelegenheit, viele junge Menschen kennenzulernen und zu beobachten, wie sie mit diesem Anspruch umgehen. Da sieht man am einen Ende des Spektrums diejenigen, die überkompensieren und sich den Anschein einer unanfechtbaren Überlegenheit und Unnahbarkeit geben. Auf der anderen Seite, und häufiger, sind junge Leute schlicht und ergreifend überlastet damit, dem Dogma des „Erfinde dich selbst!“ gerecht zu werden, und das führt zu Erkrankungen an Leib und Seele.

 

Wenn ich dann auf mich selber schaue als jemand, der im Leben nun schon ein bisschen weiter ist, und mich frage, was das heißen könnte „sei ganz du selbst“, „sei authentisch“, dann habe ich ehrlich gesagt keine Ahnung – und empfinde das auch nicht als Defizit. Bin ich noch der, der ich vor zehn oder zwanzig oder dreißig Jahren war? Woran sollte ich das messen? Und wäre es denn wichtig, dass es da so etwas wie einen roten Faden durch mein Leben gibt? Ja, da sind Momente, wo die Dinge zusammengekommen sind, wo ich zumindest so eine Ahnung davon hatte, wie es sein könnte, bei sich zu sein und in sich zu ruhen. Nein, das Bild ist doch eher das der Baustelle, der Gerüste und Planen, wobei über alle dem die Verheißung liegt, dass daraus etwas Ganzes werden könnte.

 Der Glaube beginnt mit den Menschen, mit denen man sich auf den Weg macht. So setzt uns Markus auf die Spur der Lebensgeschichte Jesu. Da werden sich Menschen gegenseitig zur Mitte, zur Vision, zum Kraftwerk – und sind gerade darin vollkommen authentisch und bei sich selbst. Das geschieht gewiss nicht, wenn man zwölf sich wildfremde Menschen in einen Raum sperrt. Aber es geschieht, um es noch einmal in einem Bild des Neuen Testaments zu sagen, wenn Christus unter ihnen ist. Wenn wir hier zusammen sind, in Gebet, im Wort, im gemeinsamen Singen und Sprechen, dann will uns das bereit machen, Sanctorum Communion, Gemeinschaft der Heiligen, zu werden – nicht nur hier, in diesem Raum am Sonntagmorgen, sondern überall, wo wir hingehen.

Viele von uns sind heute hier mit Menschen, die nicht schon immer Familie waren, die es dann aber doch geworden sind: Ehepartner, gute Freunde, Menschen, denen man unter welchen Umständen auch immer an Wegkreuzungen des Lebens begegnete. Tiefe menschliche Beziehungen überdauern nicht, weil man einmal zusammengefunden hat, sondern weil man gemeinsam gewachsen ist und sich miteinander verändert hat. Wir haben ein Ehepaar unter uns, das diese Woche sein 50. Ehejubiläum begeht und das dazu, so nehme ich an, vieles sagen könnte.

Die Hoffnung des Glaubens ist, dass tiefe Menschlichkeit nicht nur im Kleinen, sondern tatsächlich auch im Großen möglich ist und Menschen miteinander verbindet, die unter „normalen“ Umständen vielleicht gar nichts miteinander anfangen würden. Es geht darum, dass uns der Glaube über das hinaus größer, weiter und sensibler macht als wir je für uns sind. Das ist Sanctorum Communio, das ist Gemeinschaft der Heiligen.

 Umso mehr schmerzt es freilich, wenn man um sich umschaut und sieht, dass es Kräfte in unserer Zeit und Welt gibt, die das genaue Gegenteil wollen und auch bewirken. Da geht es um Abstammung, Nationalität, Ansprüche auf Land, Kultur und Religion, die etwas darüber sagen sollen, wer „wir“ angeblich sind. Die Kreise werden enger gezogen, und wer da nicht mehr hineinpasst, der gehört dann eben auch nicht mehr dazu. Und nicht nur das, mit der Enge gehen Missgunst und Misstrauen einher, die eine Gemeinschaft verkrüppeln. Hätte das Christentum so begonnen – das sollte man nicht vergessen – hätte es sich auf eine der Blut-und-Boden-Ideologien eingelassen, die es auch damals gab, wäre es als Sekte am Rande des Römischen Reiches vor sich hin vegetiert und irgendwann wieder verschwunden.

 Aber so begann es eben nicht. Es begann mit einem Menschen aus Nazareth, der für sich eine Familie suchte und um den sich dann Menschen unterschiedlichster Art, Herkunft und Mentalität versammelten, die sich gegenseitig zu Brüdern und Schwestern, Müttern und Vätern wurden. So begann es, und so will es auch heute wieder beginnen.

 Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne. In Christus Jesus. Amen. 

Prof. Dr. Andreas Schüle