Predigt über Markus 7,31-37

  • 01.03.2018
  • Pfarrerin Taddiken

Ansprache im Gottesdienst zum Gemeindetag am 3. September 2017 (Markus 7,31-37 und Josquin des Prez: Missa L'ami Baudichon)

31 Und als er wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte. 32 Und sie brachten zu ihm einen, der taub war und stammelte, und baten ihn, dass er ihm die Hand auflege. 33 Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und spuckte aus und berührte seine Zunge 34 und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata!, das heißt: Tu dich auf! 35 Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge wurde gelöst, und er redete richtig. 36 Und er gebot ihnen, sie sollten's niemandem sagen. Je mehr er's ihnen aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. 37 Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hören und die Sprachlosen reden.

Liebe Gemeinde,
ein Glaubensbekenntnis gesungen auf Martin Luthers bekannteste Melodie „Vom Himmel hoch" - ungewohnt, das im Spätsommer zu singen und ohne jeglichen Gedanken an Weihnachtsgeschichte, Tannenbaum, Weihnachtsoratorium. Da hört man die Melodie noch mal ganz neu. Und es hätte Luther vielleicht sogar zugesagt. Denn er hat diese neue Melodie geschrieben, um die neue Mär von der Geburt des Retters für die Welt den Kindern so nahezubringen, dass sie sie immer wieder vor sich hin singen können. Texte lassen sich eher verinnerlichen, wenn sie mit einer Melodie verknüpft sind. Deshalb war Musik für Luther im wahrsten Sinne des Wortes Herzenssache - und als solche eins der größten Geschenke Gottes an uns Menschen. In einer seiner Tischreden heißt es:

„Der ...herrlichsten Gaben Gottes eine ist die Musica .... damit man viel Anfechtung und böse Gedanken vertreibet, der Teufel erharret ihr nicht... Die Noten machen den Text lebendig. Sie verjaget den Geist der Traurigkeit, wie man am König Saul siehet. Musica ist eine Disziplin und Zuchtmeistern, so die Leute gelinder und sanftmütiger machet, ja sittsamer und vernünftiger ... man muss die Musik von Not wegen in Schulen behalten. Ein Schulmeister muss singen können sonst sehe ich ihn nicht an..."

Luther hatte das selbst erfahren: Musik kann heilende Wirkung haben und bildet den Menschen. Und zwar nicht nur sein Wissen, sondern sein Inneres, seine Person, sein Gehör, seine Stimme. Und da sind wir bei nah bei der Geschichte von der Heilung des Menschen, der taub ist und nur stammeln kann. Da ist das auch so - ein Mensch wird geheilt, so dass er wieder hören kann. Und kommt aus seinem Stammeln wieder heraus, kann klar reden. Kann sich wieder verständigen in einem Umfeld, dass er nur noch dumpf wahrnehmen konnte. Jesus führt ihn weg von den anderen, vorübergehend. Damit er zu sich kommen kann. Diese biblische Geschichte gehört zu denen, die Luther besonders fasziniert haben. Vielleicht, weil er sich in der Not dieses Menschen selbst wiedererkannt hat, in seiner Hilflosigkeit und seinem Gefühl, Mächten ausgeliefert zu sein, die ihn beherrschten, Luther glaubte und fühlte die Macht des Teufels. Was ihn in größte Ängste, schlaflose Nächte und fast bis in den Wahnsinn getrieben hatte, war seine Suche nach dem gnädigen Gott. Bei uns heute sind das andere Dinge. Es sind andere Dinge, die uns den Schlaf und Atem rauben. Wo wir uns vor Überforderung am liebsten die Finger oder sonst etwas in die Ohren stopfen möchten, weil wir es nicht mehr aushalten: diese vielen Stimmen und Information um uns herum, diesen Lärm. Da ist die dumpfe Angst, dass der unter Mühen eingeschlagene Berufs-und Lebensweg scheitern könnte, dass da Kräfte im Spiel sind, auf die wir keinen Einfluss nehmen können. Manche lassen nichts mehr zu als diese Angst und sondern nur noch Gestammel ab, schreien nach Zuwendung. Andere strampeln sich stumm ab wie seinerzeit Martin Luther. Wieder andere bleiben gleich für sich, auf sich selbst fixiert wie die Selfie-Junkies in ihren eigenen Echokammern. Wie schwer es da ist, zu lernen: Wie gehe ich um mit meinen Verlusterfahrungen, mit meinen Niederlagen, wie kann ich das bewältigen, auch Krankheit und Tod - das liegt auf der Hand.

Wohl dem, wer wie der Taube und Stammelnde in dieser Geschichte Leute kennt, die einen damit nicht allein lassen. Sondern wissen, wie sehr wir es nötig haben, dass auch einer zu uns und zugleich für uns sagt, denn alleine schaffen wir es nicht: „Öffne dich." Höre wieder. Und sprich klar. Keine Unheilsmacht dieser Welt soll dich besetzt halten, Deine Ängste nicht und die Zwänge nicht, in denen Du zu stecken scheinst. „Efata", öffne dich. Und da kann man nun wieder einen Bogen zurückschlagen zu Luther. Und zu dem, was wir bis heute unter anderem der Reformation und ihm verdanken: Sein an der Erfahrung gereiftes Wissen, wie sich die Verbindung von biblischem Wort und Musik in uns auswirken können. So wie Luther das beschrieben hat: dass da etwas abfällt von uns, dass es uns öffnet, frei macht. Und: „gelinder und sanftmütiger". Da steckt das Wort „Lindigkeit" drin: die innere Beweglichkeit, Biegsamkeit einer Linde. Vielleicht ist es genau das, was unserer hochindividualisierte Gesellschaft braucht: Gelindere, sanftmütigere Menschen - man kann auch sagen: Leute mit Anstand - aber das ist die innere Seite, die Voraussetzung.

Wo aber kann das besser gelebt werden als in Gemeinschaft, die miteinander singt und Musik macht? In Chören aller Art? Wir fangen jetzt in unserer Gemeinde an, eine Singschule zu gründen. Dass wir das, was in den Kurrenden passiert, weiter geht, dass es sich auch auf Jugendliche und Erwachsene erweitert. So wollen wir den Dreiklang der thomana „Glauben, Singen Lernen" vertiefen, den im Bestehen der thomana in Kirche, Schule und Thomanerchor seit über 800 Jahren und seit immerhin auch einigen Jahren in den Einrichtungen auf dem Campus forum thomanum erklingt. Und dabei geht es nicht nur darum, dass Musik die Person des Menschen stärkt, sondern dass Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene bei dem, was sie da singen und in der Gemeinschaft mit den anderen etwas vermittelt bekommen davon, was christlicher Glaube bewirken kann: Dass da einer ist, der mir Zunge und Seele löst von all meinen Beschwernissen. Und der mich in eine Gemeinschaft stellt, in der mein Gehör nicht nur für Musik gebildet wird, sondern auch für alle andere Belange und Klangfarben unseres Zusammenlebens: Dass wir hinhören lernen und auch, als gekräftigte und gestärkte Persönlichkeit den Mund aufzumachen. Leider ist das selbst im Jubiläumsjahr der Reformation kein Selbstgänger. Sie wird werden, unsere Singschule, aber ganz ohne war bzw. ist es nicht. Ich meine: Eigentlich müssten in diesem Jahr überall Singschulen mit Bezug auf Luthers Anliegen wie Pilze aus dem Boden schießen, es müsste Aufrufe aus allen Synoden, Kirchenleitungen, Bischofskanzleien und von Landeskirchenmusikdirektoren geben: Ja, versucht genau das in den Gemeinden, wir unterstützen das: Singschulen als Schulen des Glaubens und der Bildung! Orte, an denen Menschen, jung wie alt, sprach- und hörfähig werden in Sachen Glauben - und daran Orientierung finden können, Stabilität, Flexibilität, Lindigkeit und Sanftmut.
„Man muss von Not wegen die Musik in Schulen behalten", sagt Luther. Für ihn gehörte es dazu, dass man Latein in der Kirche nicht über Bord werfen sollte und auch nicht die Form der Messe als zentrale Form des Gottesdienstes. Von daher erklärt sich seine Hochschätzung für seinen Lieblingskomponisten Josquin de Prez. Verschiedener hätten sie kaum sein können, denn Josquin war ein selbstbewusster Musiker, der die Privilegien der Alten Kirche voll genoss.

Bewusst haben wir gesagt, dass wir an unserem Gemeindetag in diesem Jahr Auszüge einer Messe von Josquin hören. Weil das man das hier gut hören kann, was passiert, wenn einerseits jede einzelne Stimme unendlich wichtig ist, andererseits aber nur das Hören auf die anderen zum Ziel dieser Musik führt. Luther schreibt 1538 übrigens in einer Vorrede zu einer Motettensammlung des ehemaligen Thomaskantors Georg Rhau etwas darüber. Und wie in der Geschichte vom Tauben und Stammelnden geht es erst mal um den Einzelnen, um seine Fähigkeit zu Hören und klar zu sprechen bzw. zu singen:

„Was aber soll ich sagen von des Menschen Stimme, gegen welche alle anderen Gesänge... gar nicht zu rechnen sind... Es haben sich die ... Gelehrten ...gemüht, die wunderbare kunst der menschlichen stimme zu erforschen und zu begreifen, wie es möglich sei, dass die Luft durch eine so kleine und geringe Bewegung der Zunge und danach auch der Kehle und des Halses... Wort, Laut, Gesang und Klang von sich geben könne. Aber sie haben ... doch nichts entdeckt und dann staunend von ihrer Torheit abgelassen... Wenn man die Menschen vergleicht, wird man erkennen, wie reich und unterschiedlich sie geschaffen sind. Sie unterscheiden sich ...in der Stimme und in der Art zu sprechen... man sagt, man könne nicht zwei Menschen finden, die die gleiche Stimme, Sprache und Aussprache haben". Von dort aus sagt Luther über Josquins Musik: „Wo diese natürliche Musica durch die Kunst geschärft und poliert wird, da sieht und erkennet man... mit großer Verwunderung die große und vollkommende Weisheit Gottes in seinem wunderbarlichen Werk der Musica, in der vor allem das seltsam und zu verwundern (ist), das einer eine schlichte Weise ... singet, neben welcher drei, viel oder fünf andere Stimmen auch gesungen werden, ... gleich als mit Jauchzen, ringsumher um solche Stimme spielen und Springen..., gleichwie einen himmlischen Tanzreigen führen, freundlich einander begegnen und sich gleich herzen und lieblich umfangen, also, dass diejenigen, die solches ein wenig verstehen und dadurch bewegt werden, sich darüber heftig verwundern müssen und meinen, dass nichts Seltsameres in der Welt sei, denn ein solcher Gesang mit viel Stimmen geschmückt. Wer aber dazu keine Lust noch Liebe hat, ... der muss wahrlich ein grober Klotz sein, der nicht wert ist, dass er solche liebliche Musica höre..."

Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen, möge Gott uns schenken, keine groben Klötze zu sein oder bleiben zu müssen. Sein Friede, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org