Predigt über Matthäus 1,18 ff.

  • 26.12.2019 , 2. Christtag
  • Pfarrer Martin Hundertmark

Kantate:  „Und es waren Hirten auf dem Felde“ (BWV 248/2)

Liebe Gemeinde,

sich mit ganzer Existenz dafür einzusetzen, was einem eigentlich nicht gehört, da braucht es schon eine gehörige Portion Größe und Vertrauen. Dafür steht Josef in der Weihnachtsgeschichte. Doch zunächst wird er uns vom Evangelisten Matthäus als ganz normaler Mann vorgestellt. Um in seine Gefühlslage einzutauchen, mag man sich folgendes vor Augen halten:

Eines Tages kommt die Verlobte nach Hause und sagt „Du, ich bin schwanger vom Heiligen Geist!“

Ganz ehrlich, liebe Männer, das klingt wie die dümmste Ausrede für einen Seitensprung.

Wer ist da nicht in seiner Ehre verletzt?

Wer fühlt sich da nicht zurückgesetzt, verraten und ausgenutzt?

Aus all diesen Misslichkeiten möchte Josef nur noch fliehen. Das ist gut nachvollziehbar. Weg vom Ort der Schande und des Betrugs, irgendwo neu anfangen. Hin und Her wälzt sich Josef in der Nacht. Hin und her bewegen sich seine Gedanken zwischen Verantwortung und Schlussstrich unter diese für ihn sich so schlimm entwickelnde Beziehung.

Seine Liebe zu Maria ist aber nicht gänzlich erkaltet. Deshalb will er sie ohne Aufsehen zu erregen verlassen. Normalerweise wäre eine Anzeige wegen Untreue fällig gewesen. Diese hätte den Tod Marias durch Steinigung zur Folge.

Das brächte Josef nicht übers Herz. Josefs Gedanken sind ein großartiges Plädoyer gegen die Todesstrafe.

An ihm zeigt sich deutlich, dass nirgendwo auf der Welt eine Frau zu Tode kommen muss, nur weil sie anders schwanger wurde als erwartet.

Josef will fliehen und wird wenig später zum Fluchthelfer für Gottes Mensch gewordene Verheißung. So hütet er den Schatz, der ihm nicht gehört, sondern als Aufgabe anvertraut ist.

Mit dem Eingreifen Gottes durch seinen Boten im Traum macht Gott deutlich, worum es eigentlich geht: Leben schützen und erhalten. Denn Leben ist immer anvertrautes und geschenktes Leben und niemals besitzendes Leben.

Gott handelt ganz anders – zum Ersten

Mit der Ansprache Gottes an Josef durch den Engel setzt er ein Zeichen. „Josef, du Sohn Davids, fürchte dich nicht“. Zunächst wird dadurch der Mensch in seiner Furcht ernst genommen. Zum Fürchten war Josefs Situation so wie so viele Lebensumstände, die plötzlich ganz anders sind und Angst machen können.

Gott greift mit seinem Handeln in den Stammbaum Davids ein. Indem Jesus von Josef als rechtmäßiger Sohn anerkannt wird, wird das Krippenkind Mitglied im Stammbaum Davids und die Verheißungen werden sich in ihm erfüllen.

Die Namensgebung ist hier, ganz in der damaligen Tradition, dem Vater vorbehalten und dadurch wird die juristische Anerkennung als Sohn besiegelt. Gott macht deutlich:

Die Heilsgeschichte ist nicht an menschliches Tun gebunden. Er handelt souverän und dadurch entlastet er jeden Menschen von der Verantwortung für sein Seelenheil. Aber er wählt sich uns aus, um dafür zu sorgen, dass seine frohe Botschaft nicht verloren geht, sondern weiterleben kann von Generation zu Generation. In diesem Sinne sind wir alle Josef.

Wir hüten den Schatz, der uns nicht gehört.

Wir hüten das Evangelium Gottes.

Damit kein Missverständnis aufkommt: Hüter des Evangeliums zu sein bedeutet nicht, Hüter seiner Wahrheit zu sein. Sie muss sich in jeder Gegenwart neu entfalten und von den Menschen in ihrem Alltag neu entdeckt werden. Nur so lässt sich aus ihr heraus leben. Wo aber die Wahrheit des Evangeliums an Ämter gebunden wird,

wird ihr gleichzeitig die Lebenskraft entzogen.

Sie erstarrt zur Institution.

Josef lernt aus ihr zu leben, weil für ihn deutlich wurde, dass er von Gott eingesetzt ist und eine Aufgabe hat.

Auch in diesem Sinne sind wir alle Josef.

Die je individuelle Aufgabe wird uns von Gott mit auf den Weg gegeben. Manchmal braucht es Jahre oder Jahrzehnte, um sie zu erkennen.

Aber es gibt sie. Es gibt sie auch und besonders für die Kleinen und für die Zurückgesetzten.

Gott handelt ganz anders – zum Zweiten

Den Zurückgesetzten begegnet der Bote Gottes auch in der anderen Weihnachtsgeschichte.

Für sie bricht das schöne Morgenlicht an und durchbricht ihren tristen Alltag. J. S. Bachs zweite Weihnachtskantate malt uns mit wunderbarer Musik die Hirtenszene vor Augen und in die Ohren. Seine Sinfonia zu Beginn nimmt uns mit auf die Felder Betlehems. Sie lädt fast zum Träumen ein.

Aber hier geht es nicht um Hirtenromantik, die eigentlich nur in unseren Vorstellungen, weit jenseits jeder Realität, existiert. Hier geht es um harten Alltag.

Hirten schuften für einen Hungerlohn. Als ob das noch nicht genug wäre, wird ihnen die soziale Anerkennung verweigert. Notwendigerweise verrichten sie ihre Arbeit, weil sich die restliche Gesellschaft dafür zu schade ist.

Betlehems Hirtenfelder liegen heute vor den Toren der Großstädte, in den Gewerbeparks der großen Versandhändler. Sie hüten keine Schafe, sondern Amazon oder Hermespäckchen und die Herde der DHL-Packete ist mindestens ebenso groß.

„Ist mit dem Mindestlohn nicht alles etwas besser für sie geworden?“, fragte ich vor einigen Wochen einer dieser modernen Hirten an der Wohnungstür. Sein Lachen war bitter. „Alles nur Schein. Niemand schafft es, die Sendungen in berechneter Zeit auszuliefern. Also gibt es Überstunden, die nicht bezahlt werden.“

Recht und Wirklichkeit liegen manchmal doch sehr weit auseinander.

Wird sich etwas daran ändern?

Es fällt schwer, diese Frage mit „Ja“ zu beantworten.

Wer von der Gesellschaft in die Tretmühle gesteckt wird, sucht vergeblich nach dem Schlüssel, um sich aus ihr zu befreien.

Weihnachten, zumal, wenn wir auf die Hirten schauen, ist auch die unbequeme Einladung, auf gesellschaftliche Verwerfungen den Blick zu richten. Das passt so ganz und gar nicht zu Festtagsbraten, guten Wein, Familie und Entspannung. Ich will mit diesem Einwurf auch niemanden das Fest vermiesen, sondern nur deutlich machen, dass Gottes heilsame Unterbrechung des Hirtenalltags auf Betlehems Feldern einer Antwort bedarf.

Doch bevor wir uns mit der Antwort beschäftigen, noch einmal der Blick auf Gottes ungewöhnliches Handeln anhand des Choralverses aus der zweiten Kantate.

Gott kommt zu den Niedrigen und hebt sie dadurch zurück in den Stand der Menschenwürde, die ihnen von anderen abgesprochen wurde.

Brich an, o schönes Morgenlicht,

Und lass den Himmel tagen!

Du Hirten Volk erschrecke nicht,

Weil dir die Engel sagen,

Dass dieses schwache Knäbelein

Soll unser Trost und Freude sein,

Dazu den Satan zwingen

Und endlich Friede bringen.

…fürchtet euch nicht

Zuerst muss die Furcht vertrieben werden, weil sie lähmend wirkt und den Menschen außerstande setzt, irgendetwas zu tun.

Als kräftigster Zuspruch der Heiligen Schrift, darf er uns das ganze Jahr lang begleiten.

Fürchtet euch nicht fordert aber auch heraus.

Denn die Angst schützt uns vor Dummheiten und unvernünftigem Handeln.

Gottes Boten, die uns auch heute im Alltag begegnen, wollen seine Zusage erneuern, weil vieles zum Fürchten ist. Die Nacht der Angst vor schlimmen Diagnosen. Die Dunkelheit eines einsamen Lebens, weil der Partner oder die Partnerin verlorengegangen sind. Furcht vor verändernder Verantwortung, weil man plötzlich schwanger geworden ist wie Maria. Angst, festgefahrenen Bindungen zu kappen, um endlich frei zu sein.

In all diese menschlichen Lebensumstände sprechen Gottes Boten ihr „Fürchtet euch nicht“.

Ihr müsst die Angst nicht alleine tragen.

…und Friede auf Erden

Mehr als ein frommer Wunsch ist die Verheißung, „Friede auf Erden“. Denn sie ist an eine weitere Zusage Gottes gekoppelt: „bei den Menschen seines Wohlgefallens“. Gott hebt uns hoch.

Er hebt uns heraus aus den Sümpfen von Selbstzweifel, Schulgefühlen, Rechtfertigungen, Angsthandeln, ach die Liste ist lang, dass ich mir weitere Aufzählungen erspare. Denn in einer Choralzeile wird sie zusammengefasst:

„dazu den Satan zwingen“ –

Der Durcheinanderwirbler hat keine Chance mehr, sich meines Lebens zu bemächtigen, weil der Blick des Mensch gewordenen Gottes viel mächtiger ist. Aus seinem Wirkungsumfeld komme ich nicht wieder heraus. Gott sei Dank dafür. Und deshalb besteht auch die Chance für den Frieden auf Erden.

Weil mich Gott heraushebt, kann ich mit ihm und vor allem mit mir selber Frieden schließen.

Denn eins muss auch klar sein: Friede auf Erden ist die Folge des inneren Friedens der Menschen seines Wohlgefallens und nicht die Bedingung für letzteren.

Der durcheinanderwirbelnde Einflüsterer wird es immer wieder versuchen, mich hinunterzustoßen in die Kampfarena der Egoismen.

Wo ich mich aber nicht an ihn, sondern an das Krippenkind klammere, hat er keine Chance.

Das Knäbelein zwingt ihn in die Bedeutungslosigkeit.

…lasset uns nun gehen – ein Antwortversuch

Damit dieses schwache Knäbelein unser Trost und Freude wird, braucht es Bewegung. Ohne Aufbruch wird Weihnachtsevangelium nur schöne Musik sein. Wort und Musik wollen aber mehr. Sie wollen zu Herzen gehen und uns in Bewegung setzen. Weihnachten heißt Veränderung des gewohnten Alltags. Wer, wenn nicht die Hirten, haben dies so elementar erfahren. Ob die Hirten nach ihrem Besuch im Stall von Betlehem besser behandelt wurden? Davon erzählt uns die Heilige Schrift wenig.

Viel wichtiger ist, dass sie dort erfuhren:

Wir sind nicht hinter das Licht geführt worden als es um uns herum hell wurde. Die Botschaft „Euch ist heute der Heiland geboren“ wurde zur frohen und wahren Botschaft, weit jenseits aller Vertröstungen, die doch nur dazu dienen, alles festgefügte weiterhin festgefügt zu lassen.

Der Lichtmoment auf dem Hirtenfeld war nur der Beginn. Es folgte der Aufbruch. „und sie breiteten das Wort aus, welches zu ihnen von diesem Kind gesagt war“.

Für alles Hirtenvolk der Gegenwart gilt das „Lasset uns nun gehen“ gleichermaßen.

Brechen wir also auf im doppelten Sinne.

Heraus aus der gut eingerichteten Bequemlichkeit einer saturierten Gesellschaft einerseits und andererseits brechen wir auf, was die Mächtigen mit fester Kruste als alternativlos hinzustellen versuchen.

Den Wiederschein des freundlich uns anblickenden Christkindes an meine Mitmenschen weiterzugeben, kann dafür ein erster Schritt sein. Amen.

Und der Friede Gottes, welcher größer ist als all unser Verstehen, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

Pfarrer Martin Hundertmark, Pfarrer an der Thomaskirche

hundertmark@thomaskirche.org