Predigt über Matthäus 21,28-32

  • 27.08.2017 , 11. Sonntag nach Trinitatis
  • Prof. Dr. Andreas Schüle

Gnade sei mit uns Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. AmenDer Predigttext für den heutigen Sonntag steht im Matthäusevangelium, im 21. Kapitel. Ich lese die Verse 28-32:

28 Was meint ihr aber? Es hatte ein Mann zwei Söhne und ging zu dem ersten und sprach: Mein Sohn, geh hin und arbeite heute im Weinberg. 29 Er antwortete aber und sprach: Ich will nicht. Danach aber reute es ihn, und er ging hin. 30 Und der Vater ging zum andern Sohn und sagte dasselbe. Der aber antwortete und sprach: Ja, Herr!, und ging nicht hin. 31 Wer von den beiden hat des Vaters Willen getan? Sie sprachen: Der erste. Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Die Zöllner und Huren kommen eher ins Reich Gottes als ihr. 32 Denn Johannes kam zu euch und wies euch den Weg der Gerechtigkeit, und ihr glaubtet ihm nicht; aber die Zöllner und Huren glaubten ihm. Und obwohl ihr's saht, reute es euch nicht, sodass ihr ihm danach geglaubt hättet.

Liebe Gemeinde,

gestatten Sie mir, mit einer etwas trivialen Begebenheit zu beginnen, die mir aber immer in den Sinn kommt, wenn ich diesen Text aus dem Matthäusevangelium vor mir habe. Vor einigen Jahren war ich hier in Leipzig zum Probevortrag. Ich hatte mich damals für meine heutige Professur beworben. Als der Vortrag und die anschließenden Gespräche vorbei waren, gönnte ich mir anschließend ein schönes Abendessen in einem gutbürgerlichen Lokal, nur ein paar Schritte entfernt von hier. Zum Nachtisch wollte ich unbedingt Quarkkeulchen haben. Die hatte ich einmal vorher probiert und bin seither ein großer Liebhaber davon. Leider standen Quarkkeulchen nicht auf der Speisekarte, und so fragte ich die Bedienung danach. Die schmetterte mir mit ihrem eher herben sächsischen Charme entgegen: „Ham' wer nich." Ich zuckte etwas zusammen, mir war es auch fast peinlich, gefragt zu haben, und meinte, dass ich dann vielleicht einfach einen Kaffee nehmen würde. „Nu geb'n se mal nich' gleich uff, junger Mann!", war die Reaktion. Und so erzählte ich ihr, dass ich mich gerade auf eine Stelle beworben hatte, am nächsten Tag wieder in die USA zurückfliegen würde und mich schon so sehr auf ein typisch sächsisches Essen gefreut hatte. Und siehe da, nicht lang danach, hatte ich meine Quarkkeulchen tatsächlich vor mir auf dem Tisch.

Die Reaktion der Bedienung ist ein harmloses, aber doch lebensnahes Beispiel für das, worum es in unserem Predigttext geht: Dass man sich manchmal gegen den ersten inneren Impuls für etwas gewinnen lässt, das einem unbequem ist und das man eigentlich gar nicht tun wollte. Manchmal ist es eben so, dass man sich zu etwas durchringt, das einem nicht auf Anhieb schmeckt, von dem man aber doch irgendwie weiß, dass man es tun sollte. Das Gleichnis Jesu verdeutlich das in Gestalt des ersten Sohnes, von dem hier die Rede ist: Den schickt der Vater zur Arbeit in den Weinberg. Und obwohl er sich zunächst widersetzt, geht er schließlich doch.

Nun könnte man mit diesem Gleichnis recht schnell fertig sein, denn die Botschaft scheint doch recht simpel und klar: Es geht um das, was man am Ende wirklich tut, nicht um das, was man angekündigt hatte zu tun. Da ist der eine Sohn, der sich erst weigert, aber dann eben doch tut, was er sollte; und da ist der andere, der verspricht etwas, das er nicht hält. Welchen der beiden sollte man sich nun zum Vorbild nehmen, fragt Jesus. Nun, darüber muss man sich nicht das Gehirn heiß denken - natürlich ist es der erste Sohn. Worauf es ankommt, ist Arbeit, tatsächlicher Einsatz für die Sache - nicht große Absichtserklärungen, denen dann keine Taten folgen. Und wenn ich noch einmal in die Anekdotenkiste greifen darf: Mein Vater, kein Sachse, sondern schwäbischer Bauunternehmer, pflegte mir gern zu sagen: „Schwätz net', schaff ebbes ..." (die Übersetzung gibt es bei Bedarf dann am Ausgang).

Aber lassen wir uns etwas mehr auf dieses Gleichnis ein, das ja mit ganz wenigen Strichen ein sehr großes Thema skizziert. Es geht um das „Reich Gottes" und genauer: es geht darum, wie wir uns angesichts des Kommens dieses Reiches verhalten sollen. Die beiden Söhne stehen für zwei mögliche Weisen, dem Gottesreich zu begegnen. Aber sie reagieren genau entgegengesetzt. Beide tun nicht das, was sie zunächst angekündigt hatten. Aber warum eigentlich? Was veranlasst sie dazu? Darüber sagt uns das Gleichnis selbst wenig, aber es wirft genau diese Fragen auf und bringt uns ins Nachdenken. Wer also sind diese beiden Söhne? Und was haben sie mit uns zu tun?

Lass sie mich versuchen, ihnen dieses Gleichnis in drei Versionen zu erzählen.

Zunächst ist unser Gleichnis eingebettet in die Geschichte Jesu, wie sie das Matthäusevangelium erzählt. Gerade war Jesus nach Jerusalem gekommen, um dort am Passafest teilzunehmen. Dort geriet er nun mit den Pharisäern und Schriftgelehrten aneinander, die so etwas wie die religiösen Autoritäten seiner Zeit waren und die erheblichen politischen Einfluss hatten. Nach allem, was man in und zwischen den Zeilen lesen kann, hatte Jesus ein sehr gespanntes Verhältnis zu diesen Pharisäern und Schriftgelehrten, wie überhaupt zum Jerusalemer Establishment seiner Zeit. Er wirft ihnen Heuchelei und Scheinheiligkeit vor. Er sieht in ihnen Leute, die sich zum Beten gern in die erste Reihe stellen, so dass sie auch jeder sehen kann; Leute, die den 50 Euro Schein in die Luft halten, aber dann nur ein paar Cent in den Klingelbeutel werfen; Leute, also, deren Frömmigkeit eine Fassade mit nichts dahinter ist. Ja mehr noch, es sind Leute, die andere bewusst täuschen, weil sie überhaupt nicht die Absicht haben, ein frommes Leben zu führen, das Gott ehrt und anderen Menschen dient. Solchen Menschen hält Jesus den Spiegel vors Gesicht mit dem zweiten der beiden Söhne unseres Gleichnisses, der dem Vater etwas verspricht, das er von vornherein nicht halten wollte. Anders gesagt: es geht hier um den Unterschied von Heiligkeit und Scheinheiligkeit.

Aber dann sieht Jesus auch die anderen: Zöllner, Prostituierte, die von der Gesellschaft Aussortierten, die gar keinen Grund haben, sich für Gottes Willen zu interessieren, weil sich ja auch um sie niemand schert. Für diese Gruppe steht der erste Sohn, der sich anfänglich weigert, dem Auftrag des Vaters nachzukommen, der aber es dann doch tut. Darin liegt eine überraschende und auch befreiende Botschaft. Denn im Ergebnis sagt das Gleichnis, dass die Zugehörigkeit zum Reich Gottes keine Frage von Status und Herkunft ist, sondern eine Frage dessen, was man wirklich will und tut. Wenn Jesus vom Reich Gottes spricht, das Arbeit braucht, und zwar unsere Arbeit, und wenn Jesus davon redet, dass Gerechtigkeit und Barmherzigkeit für alle Menschen aufgerichtet werden sollen, dann darf das keine Sache von Eitelkeit und Selbstsucht sein. Was dem Reich Gottes vielleicht am meisten entgegensteht, ist menschliches Geltungsbedürfnis oder, anders gesagt, der Drang ein Selbstbild von sich nach außen zu kehren, das nicht zu dem passt, wer man eigentlich ist, was man kann und wo man eben auch seine Grenzen hat.

Wir befinden uns ja gerade in der heißen Phase des Wahlkampfes für den neuen Bundestag, und da sind Versprechungen und deren Erfüllung ein großes Thema. Alle Seiten versprechen irgendetwas oder versprechen, dass sie gerade nichts versprechen wollen, und werfen sich gleichzeitig einander vor, das Versprochene ja gar nicht halten zu können. Natürlich geht es darum, ein möglichst günstiges Bild von sich zu zeichnen. Da legt man gegen alle sonstigen Gewohnheiten gerne mal ein peppiges Outfit an, macht einen Youtube-Clip, weil man ja auch junge Menschen ansprechen will. Dann gibt es ein Händeschütteln im Altenheim oder eine besorgte Geste im Stahlwerk, weil man sich volksnah und sozial engagiert zeigen möchte. Man will für einen bestimmten Zweck vorteilhaft dastehen, Vertrauenswürdigkeit suggerieren, Erwartungen wecken, ohne sich aber wirklich in letzter Konsequenz festzulegen. Und das scheint auch der Plan des zweiten Sohnes in unserem Gleichnis zu sein: Der Vater soll ihm abnehmen, dass er ein guter Sohn ist, aber nach Möglichkeit nicht mitbekommen, dass er eigentlich ganz andere Absichten hat. Das eigentlich Anstößige am Verhalten dieses Sohnes ist nicht so sehr, dass er nicht tut, was er soll, sondern, dass er vorgibt etwas zu tun, das er nicht tun will. Da wird Vertrauen enttäuscht, Zweifel gesät, auf diese Weise werden Beziehungen vergiftet. Das ist nie gut - und für das Reich Gottes schon gar nicht.

Damit sind wir aber schon dabei, dieses Gleichnis in unsere eigene Welt zu übersetzen. Lassen Sie mich Ihnen also eine zweite Version erzählen, in der sich das Gleichnis zutragen könnte. Da sind zwei Brüder, nennen wir sie Jakob und Jonathan. Jakob ist der ältere der beiden. Er ist jemand, dem wichtig ist, was andere über ihn denken und von ihm halten. Er geht nie ungepflegt aus dem Haus. Sich treiben lassen, einfach so sein wie man ist, das sind für ihn Floskeln und Ausflüchte von Leuten, die sich nicht im Griff haben. Jakob ist in der Versicherungsbranche tätig. Er ist gewohnt, Leistung abzuliefern ohne wenn und aber. Manchmal wacht er nachts auf, weil die Spannung nicht von ihm abfallen will. Und dann ist da die Angst, etwas nicht zu wissen, etwas nicht zu können, keine Lösung zu haben. Denn eine Schwäche zeigen oder sich eine Blöße geben, nein, das geht in seiner Welt nicht. Dann übersieht er lieber mal eine unangenehme Email, wirft ein paar rhetorische Nebelbomben, baut irgendwelche Probleme auf, die es gar nicht gibt - alles in der Hoffnung, dass sich die Sache irgendwie von allein erledigt und er ohne Gesichtsverlust davon kommt.

Ganz anders sein Bruder Jonathan. Der war schon von klein an der Meinung, dass ihn alle mal kreuzweise können. Er hatte ein Schild an seiner Kinderzimmertür „Bitte nicht stören. Genie bei der Arbeit!". Er ist ein Typ in einer Art permanenten Trotzphase. Nur weil einem jemand einen Reif vor die Nase hält, heißt ja noch lange nicht, dass man da auch durchspringen muss. Von Beruf war er mal Verlagsangestellter. Aber weil Teamfähigkeit nicht seine große Stärke ist, arbeitet er inzwischen freischaffend am heimischen Schreibtisch als Übersetzer und Grafikdesigner. Eigentlich hätte er gerne eine feste Beziehung, aber die Frauen bleiben nicht lange bei ihm. Dabei ist er im Grunde seines Herzens ein sensibler Typ. Wenn er schließlich merkt, dass er mal wieder allen mächtig auf den Zeiger gegangen ist, tut ihm das in der Seele weh. Und dann kümmert er sich, kann auch zugeben, dass er Mist gebaut hat und versucht nach Kräften, wieder gut zu machen, was er versäumt hat.

Liebe Gemeinde, ich glaube, dass auch Menschen wie Jakob und Jonathan in unser Gleichnis passen. Denn oft sind es gar nicht (wie bei den Pharisäern und Schriftgelehrten Jesu) Berechnung und Kalkül, die uns veranlassen, etwas zu versprechen und doch nicht zu halten. Und es sind auch nicht immer nur heroische Motive, die uns dazu bringen, unsere Meinung zu ändern. Im einen wie im anderen Fall geht es um den Umgang mit den eigenen Grenzen, an denen wir manchmal scheitern und die wir manchmal überwinden. Die Reich-Gottes-Gleichnisse Jesu wollen die Welt nicht nach schwarz und weiß, nach geeigneten oder ungeeigneten Menschen sortieren (oder irgend etwas in dieser Art), sondern sie wollen den ‚Punkt' markieren, an dem es sich entscheidet, ob wir gegen unsere eigenen Limitierungen ankommen und ob sich da ein Raum für Veränderung auftut, für ein Wachsen an Geist und Seele.

Betrachten wir unser Gleichnis noch in einer letzten Variation.

Da sind zwei Schwestern, nennen wir sie Janina und Jelena. Janina ist die ältere. Sie ist eine Frau mit einem Lachen, bei dem die Sonne aufgeht. Sie hat Energie für zwei, geht mit viel Kraft und einem offenen Herzen auf andere zu. Deswegen vertrauen sich Menschen ihr auch gerne an, fühlen sich bei ihr aufgehoben und verstanden. Ihre Begabungen hat sie zum Beruf gemacht, denn sie ist Chefin einer Werbeagentur, kann Angestellte und Kunden gleichermaßen begeistern. Aber Janina ist auch jemand, die zu niemandem nein sagen kann; und weil ihr das schwer fällt, weckt sie manchmal falsche Hoffnungen. Eine Ehe ist daran schon gescheitert, weil die Energie dann eben doch nicht für alle reichte und ihr Mann sich schließlich nicht damit abfinden mochte, dass für ihn oft nicht mehr als Versprechungen und gute Absichten übrig blieben.

Ihre Schwester Jelena hat es nicht ganz so leicht, mit anderen Menschen umzugehen. Sie ist der eher verschlossene, introvertierte Typ, und sie reagiert schnell gereizt, wenn andere ihre Grenzen nicht respektieren. Damit umzugehen, ist gar nicht so leicht für sie, denn sie ist Kellnerin in einem gutbürgerlichen Lokal, nur ein paar Schritte entfernt von hier. Manchmal finden sie die Gäste etwas ruppig, weswegen sie auch schon mal von ihrem Chef angegangen wurde. Aber warum soll man auch gleich losspringen, nur weil die Leute manchmal komische Wünsche haben! Neulich war einer da, der wollte unbedingt Quarkkeulchen, wo die doch wirklich nicht auf der Speisekarte stehen. Aber dann gab sie sich eben doch einen Ruck, ging in die Küche, fragte nach ... na, und den Rest kennen sie ja schon.

Umgang mit den eigenen Grenzen, das war unser Thema hier. Vermutlich könnte jeder und jede von uns seine eigene Variation zu diesem Gleichnis Jesu erzählen, irgendwo zwischen den Schriftgelehrten und den Zöllnern, von denen Jesus selbst spricht, oder zwischen unseren imaginären - oder vielleicht gar nicht ganz so imaginären - Geschwisterpaaren, Jakob und Jonathan, Janina und Jelena. Und sicher haben sie es auch selbst bemerkt: In unserem Gleichnis fehlt ein Drittes. Es redet von Menschen, die etwas versprechen, aber dann nicht halten, und es redet von Menschen, die sich erst weigern und dann doch tun, was sie sollen. Was fehlt, ist sozusagen die Mitte, das Ideal: Menschen, die ohne wenn und aber sofort das tun, wozu der Vater sie sendet. Nun sind solche Ideale nicht immer gute Vorbilder. Deswegen haben die sehr realen Charaktere unseres Gleichnisses etwas Tröstliches: Niemand kommt als Reich-Gottes-Menschen auf die Welt. Wir haben unsere Grenzen und unsere Unfertigkeiten. So sind wir und so sind die Menschen in den Gleichnissen Jesu. Aber dann kommt Gott und will uns zu etwas machen: zu Arbeitern auf seinem Feld, in seinem Weinberg. Die Frage ist, ob wir diesem Ruf folgen wollen - oder ob wir es anderen Kräften überlassen, darüber zu entscheiden, wer wir sind und was aus uns werden soll: unseren persönlichen Neigungen, den Moden der Zeit, der öffentlichen Meinung, der Konsumkultur und was sonst noch so alles an uns zieht und zerrt. Der Ruf Gottes zur Arbeit in seinem Reich hat etwas Strenges, das lässt sich nicht aus unserem Gleichnis herausrechnen. Aber er trägt eine große Verheißung, die da heißt, dass wir uns nicht einfach unserem Schicksal ausliefern müssen - wenn wir denn Ja sagen können zu diesem Ruf.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Prof. Dr. Andreas Schüle