Predigt über Matthäus 26, 36-46

  • 13.03.2022 , 2. Sonntag der Passionszeit - Reminiszere
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Predigt über Matthäus 26,36-46 am 13. März 2022 (Reminiscere)

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

„Tristis est anima mea“ – „Meine Seele ist betrübt bis an den Tod.“ Was für ein großartiges Stück hat Bachs Vorgänger Johann Kuhnau hier über die Szene im Garten Gethsemane komponiert. Das heißt: Es wurde ihm zugeschrieben. Georg Christoph Biller hat immer gesagt: „Das ist nicht von Kuhnau: Es ist zu gut.“ Armer Johann Kuhnau. Aber wer auch immer hier am Werk war: Er hat genau die Stimmung getroffen, die hier in der Luft liegt. Trauer, Tränen, Bitterkeit. Und doch auch Trost, Vergewisserung und innere Bewegung. Es ist nicht von ungefähr, dass wir in der Thomaskirche die Matthäuspassion und Johannespassion am Gründonnerstag genau zu dem Zeitpunkt aufführen, an dem sich in der Passionsgeschichte diese Szene abspielt. Nachdem wir Abendmahl gefeiert haben und wir uns besinnen, bevor wir in die Nacht zum Karfreitag gehen. Es ist ein besonderer Moment, in dem wir uns einstellen, auf das, was kommt und uns der Frage stellen können: Was hat das, was in der Passionsgeschichte erzählt wird, mit uns zu tun? Ein besonderer Moment am Gründonnerstag, bei dem man gut daran tut, ihn zu nutzen. Wach zu sein für das, was in dieser Geschichte auch über unser Leben und unsere Gegenwart erzählt wird: Es ist eine Menge.

Wir tun das, weil Jesus und seine Jünger an diesem Abend hinaus gegangen sind in die Nacht. In die letzte Nacht seines Lebens. Es ist noch nicht wirklich klar, was geschehen wird. Aber sie wissen eigentlich alle: Es wird sehr unangenehm sein, es kann sie alle das Leben kosten. Aber anders als bei Nikodemus, der in der Nacht die Fragen wälzt, die ihn nicht schlafen lassen, schlafen die Jünger ein. Und Jesus ringt mit dem, was auf ihn zukommt. Und zwar auf Leben und Tod: „Tristis est anima mea“: Hören wir den Predigttext aus Matthäus, die Szene im Garten Gethsemane:

Da kam Jesus mit ihnen zu einem Garten, der hieß Gethsemane, und sprach zu den Jüngern: Setzt euch hierher, solange ich dorthin gehe und bete. 37 Und er nahm mit sich Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus und fing an zu trauern und zu zagen. 38 Da sprach Jesus zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibt hier und wachet mit mir! 39 Und er ging ein wenig weiter, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst! 40 Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend und sprach zu Petrus: Konntet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen? 41 Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt! Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach. 42 Zum zweiten Mal ging er wieder hin, betete und sprach: Mein Vater, ist's nicht möglich, dass dieser Kelch vorübergehe, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille! 43 Und er kam und fand sie abermals schlafend, und ihre Augen waren voller Schlaf. 44 Und er ließ sie und ging wieder hin und betete zum dritten Mal und redete abermals dieselben Worte. 45 Dann kam er zu den Jüngern und sprach zu ihnen: Ach, wollt ihr weiter schlafen und ruhen? Siehe, die Stunde ist da, dass der Menschensohn in die Hände der Sünder überantwortet wird. 46 Steht auf, lasst uns gehen! Siehe, er ist da, der mich verrät.

Es kommt näher. Wir kennen das. Etwas Unangenehmes, über das wir noch gefasst reden konnten. Aber je näher es kommt, desto mehr schlottern uns die Knie. So menschlich wie hier begegnet uns Jesus an keiner Stelle der Evangelien. Wo er Tränen vergießt. In dem Moment, wo es zum Schwur kommt über Leben und Tod. Auch wenn er es immer wusste, auch wenn er es immer angekündigt hatte, was kommen würde und dass er diesen Weg gehen will. Aber wenn ich das plötzlich nicht mehr wirklich weiß? Wenn ich nicht mehr weiß, ob ich wollen kann, was ich bisher wollte? Wenn ich in mir selbst so hin und her geworfen bin, dass ich nichts mehr weiß und mir alles ins Wanken gerät - was ist dann?

Solche Momente können einen zerreißen. Die Jünger halten das nicht aus. Sie flüchten sich in den Schlaf. Gehen dieser Zerreißprobe aus dem Weg. Sie können nicht anders als daraus zu fliehen. Es sind nicht bzw. nicht nur die vier Becher Wein, die ein Erwachsener im Laufe der Passah-Liturgie zu leeren hat. Dreimal schlafen sie ein - während sich Jesus dreimal dieser Zerreißprobe aussetzt. Er betet in der liegenden Haltung eines Toten. So, wie er bald daliegen wird. Er betet dreimal fast dieselben Worte. Aber eben nur fast. Beim ersten Mal, dass der Kelch an ihm vorüber gehen möge. Und beim zweiten Mal: „Mein Vater, ist‘s nicht (mehr) möglich, dass dieser Kelch an mir vorübergeht, so geschehe dein Wille.“ Und ein drittes Mal genauso.

Er kommt weiter in dieser Situation, die Jünger nicht. Es ist, als ob sich durch das intensive Zwiegespräch mit seinem Vater etwas verändert. Er steht wieder auf. Er kann den Kelch jetzt annehmen. Sein Gebet hat sich entwickelt. Das passiert, wenn wir beten. Es kann sich in uns eine andere Haltung entwickeln. Wir verstehen neu - auch wenn äußerlich alles gleichbleibt. Gethsemane – das ist die große Lehrstunde des Gebets, die die Jünger leider verschlafen. Nicht die zugelassene, sondern die verdrängte Angst macht uns unfrei und entmündigt uns. Sie macht das, was das Wort Angst sagt: das Herz eng. Es ist gerade sein Gebet der Angst und der Betrübnis, das Jesus wach und klar macht. So dass er aufstehen kann und klar und deutlich weiß: Ich gehe. Das Trauern und Zagen – es hat ein Ende. Es hat immer ein Ende. Auch wenn die Lage aussichtslos erscheint.

Ich denke, letztlich ist es das, wozu Jesus seine Jünger wachrütteln will. Und uns. Dass auch wir das begreifen und uns dessen so vergewissern wie er sich selbst auch immer wieder vergewissert hat. Und so rauskommen aus unserer bleiernen Müdigkeit, die uns meist dann befällt, wenn wir überfordert sind. Wenn wir eine Situation nicht mehr aushalten können, in der es uns zerreißt: „Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt.“

In Sachen Ukraine sind wir da im Moment. Waren und sind wir wach genug, haben wir Wichtiges verschlafen? Wachen jetzt furchtbar ernüchtert auf? Es ist schon so ein Gethsemane-Moment aus der Jüngerperspektive, den wir hier erleben im friedlichen Westeuropa. Wir sind wie die Jünger nur ein kleines Stück weg von dem, dem oder denen, die da um ihr Leben ringen. Aber meilenweit entfernt von dem, was sie durchmachen. Können wir da überhaupt solidarisch sein, können wir das mit aushalten, wach sein, uns aufrütteln lassen, so wie Jesus dreimal zu seinen Jüngern kommt und das quasi einfordert: Könnt ihr nicht mal eine Stunde mit mir wachen? „Wo bleibt Eure Solidarität mit uns?“, hat Präsident Selenskij EU und Nato vor einigen Tagen gefragt. Könnt ihr nicht, oder wollt ihr nicht? Das trifft einen schon hart, weil wir die Frage natürlich auch an uns als einzelne gerichtet hören. Wir wollen ja helfen. Aber egal, wie viel wir tun, immer denken wir: Das reicht doch nicht, da muss doch mehr passieren. Wir fühlen die Anfechtung, von der Jesus spricht. Wie immer im Moment des Schrecklichen merken wir, wir können als Individuen nicht die allgemeine Gerechtigkeit herstellen. Und jede solidarische Handlung für die einen schließt zugleich andere aus. Das zerrt an uns, dass das so ist. Dennoch ist unsere Bereitschaft zu helfen Gottseidank groß und wir sollten tun, was wir können und zwar jetzt. Denn wir wissen, nicht nur, aber vor allem aus dem Jahr 2015: dieser Überschuss an Emotionen, der uns das ermöglicht, er kann in der Regel nicht gehalten werden. Nicht über die Jahre, die es dauern wird, dass 100.000de oder gar Millionen aus der Ukraine geflohene Menschen Unterstützung brauchen. Der gute Wille – er kann, er wird auch hier und da einschlafen und wir müssen uns wappnen, dass andere diesen Moment nutzen für ihr schändliches Treiben. Die Putin-Versteher, sie werden sich zurückmelden eines Tages, ganz sicher. Es wird die Frage sein, ob wir das alles aushalten oder ob unsere Augen dann so voller Schlaf sein werden wie bei den Jüngern – dass wir uns einfach nicht mehr der Situation stellen können. Das wir zu müde sind.

 „Ach, wollt ihr weiter schlafen und ruhen?“ Die Frage bleibt hier in der Szene in Gethsemane offen. Sie bleibt offen, weil sie offenbleiben muss. Weil wir sie immer und immer wieder beantworten müssen. Schon deshalb, weil wir nicht ohne Schlaf auskommen können als Menschen. Im körperlichen wie im übertragenen Sinne gilt: Wir werden sonst verrückt, es ist eine unmenschliche Überforderung. Wir können nicht immer wach sein. Aber wir sollten uns auf der Schliche sein, ob wir im Schlaf nicht in Wirklichkeit auf der Flucht sind.  

Das beste geistliche Anti-Schlafmittel ist in der Gethsemane-Szene das Gebet, das damit beginnt, Trauern und Zagen hinauszulassen. Und es Gott zu klagen, dass man nicht weiß, was man wollen kann. Es ist hier nicht die Rede davon, dass Gott antwortet. Anders als beim Evangelisten Lukas, der einen Engel schickt, der Jesus stärkt. Er hat es vielleicht ohne diese Antwort nicht ausgehalten. Hier bei Matthäus geschieht dagegen das, was der Theologe Johann Baptist Metz einmal so geschrieben hat: „Das Gebet macht unsere Fragen fraglich, es verfremdet unsere Wünsche.“ Das Gebet besitzt eine eigenständige Wirksamkeit, die unabhängig von meinem Wünschen, Wollen, Denken oder Betrachten arbeitet. Ich habe schon mit einigen gesprochen, die mir davon erzählt haben, wie sie in ihrer Trauer um ihr Kind oder ihren Partner/ihre Partnerin  so lange gebetet, geweint und geflucht haben, bis all ihre Fragen und ihre Wut leer geworden und in sich zusammengebrochen sind. Und sie sich jenseits aller Fragen und Antworten wiedergefunden haben. Und sich auf einmal mitten in ihrer Ohnmacht ermächtigt fühlten. Es ging, zu sagen: Was auch geschieht, Gott,  dein Wille geschehe. Dein Wille. Er leite mich jetzt. Dein Wille. Nicht, was ich oder andere dafür halten - dieses Zerrbild, das immer wieder von den Zynikern aufgerufen wird in der irrsinnigen Meinung, sie wüssten in bestimmten Momenten schon, was Gottes Wille ist. Nein, Dein Wille geschehe.

So lässt sich aus dem Schlaf der Erschöpfung und Verdrängung heraustreten. „Steht auf und lasst uns gehen.“ So endet die Szene in Gethsemane. Alle Worte der Auferstehungsbotschaft klingen hier schon verdeckt an. Die Johann Kuhnau zugeschriebene Motette bekommt hier etwas Treibendes und bewegt sich heraus aus den geschärften Akkorden der Traurigkeit. Gott schenke uns für die neue Woche, dass wir uns so wach und klar bewegen können und den Kräften entgegentreten, die das Leben und die Menschen verraten. 

Dazu helfe uns der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org