Predigt über Matthäus 5,17-20

  • 21.08.2022 , 10. Sonntag nach Trinitatis
  • Prädikantin Dr. Almuth Märker

Predigt 10. Sonntag nach Trinitatis, Matthäus 5, 17-20

Abendgottesdienst St. Thomas, 21.8.2022

 

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und unserm Herrn Jesus Christus.

Lasst uns in der Stille beten.

Liebe Gemeinde, heute ist Israelsonntag. Wir denken an Israel. Wie denken wir an Israel?

Denk ich an Israel in der Nacht,

Dann bin ich um den Schlaf gebracht,

Ich kann nicht mehr die Augen schließen,

Und meine heißen Tränen fließen.

 

Wie denken wir an Israel?

Schon seit zehn Jahren – Sie wissen das, liebe Gemeinde – halte ich als Prädikantin Gottesdienste. Wenn es um die Planung der Sommermonate mit den vielen Sonntagen nach Trinitatis geht, hoffe ich immer insgeheim, NICHT den 10. Sonntag nach Trinitatis zu bekommen. In diesem Jahr hat es mich aber erwischt. Ich hätte auch nein sagen können. Doch nun stehe ich hier: 10. Sonntag nach Trinitatis, Israelsonntag. Was ist es, dieses stille, kaum benennbare Unbehagen, das mich beschleicht, wenn ich am Israelsonntag predigen soll?

Ich lese den Predigttext für heute. Er steht bei Matthäus im 5. Kapitel (V. 17-20) und ist Teil der Bergpredigt, die Jesus hält:

„Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. 18Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht. 19Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich.

 20Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“

Das stille Unbehagen, am Israelsonntag zu predigen, hat mit den heißen Tränen zu tun, die meine Seele vergießt. Ich denke an Israel, ich denke an die Menschen jüdischen Glaubens und was Ihnen über die Jahrhunderte widerfahren ist. Ich denke an die Schuld, die deutsche Frauen und Männer, auch Christinnen und Christen, in der Zeit des Nationalsozialismus auf sich geladen haben. Ich stolpere über die Stolpersteine in unserer Stadt. Ich denke an die Schoah, den Versuch, das jüdische Volk durch Ermordung auszuradieren – und kann das gar nicht denken, weil es so unsagbar ist. Und ich denke auch an das Israel, das Staatsgebilde von heute, mit seinen Brüchen und Verwerfungen.

Denke ich auch an diejenigen, die heute wieder in unserer Stadt leben und ihre Kinder im jüdischen Glauben, im Vertrauen auf Gott aufwachsen lassen? Kenne ich die? Weiß ich etwas von Ihnen?

 

Denken an Israel. Und dann, ich kann mich nicht dagegen wehren:
„... kann ich nicht mehr die Augen schließen,

Und meine heißen Tränen fließen.“

Stille. Warten. Atem holen.

 

Jesus war Jude. Mit voller Überzeugung. Und er begründet eine neue Art zu glauben, zeigt uns einen Weg gen Himmel, der es wagt, Gott auf neue, nie gekannte Weise zu vertrauen. Auf der Basis des altvertrauten Glaubens. So lässt es sich vielleicht zusammenfassen, was durch Jesus, Gottes Sohn, geschehen ist.

Von diesem Nebeneinander, von diesem Sowohl-als-auch handelt unser Predigttext. Das eine nicht ohne das andere. Das Neue wird auf keinen Fall gelingen, indem das Alte über Bord geworfen wird. Oder besser ohne doppelte Verneinung: Das Neue wird nur gelingen, wenn das Alte mitgenommen wird: „Ich bin nicht gekommen aufzulösen“, sagt Jesus. „Sondern ich bin gekommen, um zu erfüllen.“

Jesus war also gar kein Umstürzler? Er rief also nicht die Revolution aus? Wenn doch, dann war es offensichtlich eine Friedliche Revolution.

 

Was sagt Jesus? Dass er das Gesetz und die Propheten nicht auflösen wird. 

Was aber ist das Gesetz? Es ist der Kern der Hebräischen Bibel, die Thora. Wir nennen sie mal Pentateuch, mal Fünf Bücher Mose.

Welchen Stellenwert haben sie für das von Gott erwählte Volk Gottes? Es sind die Unterweisungen, die Gott an sein Volk Israel weitergibt. Diese Weisungen will Jesus nicht auflösen, nicht null und nichtig machen. Im Gegenteil: Er will sie erfüllen. Jesus will die Gesetze, die Zehn Gebote, die Unterweisungen Gottes halten und erfüllen.

Was bedeutet „erfüllen“? Er will sie voll machen, er will sie ausfüllen, er will im Bild das Schiff der Thora mit einer Besatzung versehen und segelfähig machen. Jesus will eine runde Sache aus Gottes Geboten machen.

All das steckt in „erfüllen“. Es heißt, keinen einzigen noch so kleinen Buchstaben der Thora, der Fünf Bücher Mose mit ihren zehn Geboten wegzunehmen.

Das Alte nicht über Bord werfen. Vielleicht liegt hierin das Geheimnis dafür, dass die Revolution, die Jesus anzettelte, eine wahrhaft friedliche, eine Frieden bringende sein konnte.

 

Liebe Gemeinde, haben wir uns nun schon ein wenig vorgeackert. Am Israelsonntag schauen wir auf das, was wir vom jüdischen Glauben als Erbe mitbekommen haben. Wir sehen, was uns mit Israel verbindet, ja sogar: was uns gemeinsam ist. Es geht am Israelsonntag um die Basis, auf der wir unsern christlichen Glauben gründen.

Nun klingt das alles recht abstrakt. Wir brauchen jedoch gar nicht so weit zu blättern, um hier Butter bei die Fische zu tun. Zwei Kernaussagen haben wir nämlich bereits in der Evangeliumslesung aus dem Markusevangelium gehört. Nun denken Sie vielleicht: 'Evangelium und Markus – das ist doch Neues Testament!' Doch das Evangelium für den heutigen 10. Sonntag nach Trinitatis macht es uns vor, wie wir mit dem Alten umgehen können. Jesus wurde da ja gefragt, was  denn nun das höchste Gebot sei. Und Jesus antwortet … nicht etwa mit EINEM Gebot. Nein, er nennt ZWEI Gebote als Antwort auf die Frage nach DEM höchsten Gebot. Jesus zitiert zwei Sätze aus der Thora:

„Höre, Israel, der Herr unser Gott ist der Herr allein,

und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben

von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit aller deiner Kraft.“ (5. Mo. 6, 4-5)

und:

„Du sollst deinen Nächsten und deine Nächste lieben wie dich selbst.“ (3. Mo. 19,18)

 

Wo sind wir hier gelandet, liebe Gemeinde? Beim Doppelgebot der Liebe: Gott lieben, die nächsten Anvertrauten lieben, uns selbst lieben.

Das ist das Gesetz. Das gilt es zu vollfüllen. Das ist unsere Basis.

 

Und dann wird es einen neuen Himmel und eine neue Erde geben.

 

Liebe Gemeinde, was ist es dann aber eigentlich, was wir mit Jüdinnen und Juden gemeinsam tun können? Darauf gibt es eine klare, eine ganz einfache Antwort:

Gott loben. Gott loben und ihr danken. Gott preisen für die herrlichen Taten, die er an uns tut. Gott loben und ihr täglich und immer wieder ein Halleluja singen. Wir werden das im Schlusslied tun („Lobt Gott, den Herrn, ihr Heiden all“ EG 293). Wir werden gleich noch an drei Stellen in unserm Abendgottesdienst „Halleluja“ singen – zählen Sie mal mit –, und das heißt ja genau dies: Gelobt sei Gott! Und wir werden gleich nach dem Amen der Predigt ein Preislied im Sechsachteltakt (EG 429) singen, ein richtig tänzerisches Lied, sozusagen einen Reigen. Und ja, sie dürfen ruhig, wenn Sie wollen, mit dem Bein wippen unter der Bank. Oder tanzen.

 

So wandert der Bogen der Predigt von den Tränen, die angesichts Israels über die Wangen rollen, hin zu einem Tanz. Es wird wahr, was in den alten Psalmen des Volks Israel steht:

„Du hast meine Tränen gewandelt in einen Reigen.“ (Ps. 30,11)

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und unser Beginnen in Christus Jesus.

Amen.

 

Prädikantin Dr. Almuth Märker

almuth.maerker@web.de