Predigt über Micha 7,18-20

  • 28.06.2020 , 3. Sonntag nach Trinitatis
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,
alles rausholen aus Mensch und Tier was nur geht bei Tönnies, hemmungsloser Bilanzbetrug bei Wirecard, maßlose Gewalt in Stuttgart, das Hygienedesaster einer Wahlveranstaltung in Tulsa/Oklahoma mit einem frei drehenden amerikanischen Präsidenten… wir haben in der letzten Woche die ganze Palette in Sachen Gier, Egoismus, Rücksichtslosigkeit miterlebt. Und so beunruhigend das alles sein mag – letztlich ist wie unter einem Brennglas nur einmal mehr sichtbar geworden, was seinen Ursprung schon längst gehabt hat. Etwas, das schleichend gewachsen ist – und durchaus mitgetragen wurde von der Breite der Gesellschaft. Dass es Fleisch so billig gibt, dass sich jeder ausrechnen kann, warum. Dass wir akzeptieren und zulassen, wie Menschen auch in Europa unter elendsten Bedingungen hausen. Und wie man an börsennotierten Unternehmen mitverdienen kann - auch wenn einem die vielleicht nicht ganz geheuer sind. Solange es uns zum Vorteil gereicht, sind wir eher bereit, über unsere eigenen Verstrickungen in diese Art zu leben des „Schneller-höher- weiter“ hinwegzusehen. So ist es kein Wunder, dass diejenigen, die sich nichts und niemandem mehr verantwortlich fühlen und auch den Gedanken an eine göttliche Instanz allenfalls im Bereich des Brauchtums und Folklore ansiedeln – dass gerade die die Extreme immer weiter ausreizen.

Nun könnte man sich natürlich an solchen Typen hochziehen wie Tönnies, Trump und Braun und an ihrem unsäglichen Gebaren. Aber sie sind nur die Spitze des Eisbergs. Und weiter bringt uns am Ende nur zu sehen, wie wir selbst mitten drin sind in dem allem. Zu schauen, wo wir dieses System mittragen. Nur so werden wir es nicht nur entlarven sondern zum Ende bringen können. Es ist im Grunde wie bei einer Rangelei auf dem Schulhof, wo ein Kind zu Schaden kommt und der Arzt fragt: „Wer war das?“ Und das Kind spontan und sehr reflektiert antwortet: „Das spielt keine Rolle.“ Wer bei der Rangelei beteiligt ist, ist beteiligt, auch wenn er am Ende die blutige Nase hat und vielleicht erst dann versteht: Es kann schnell ein Spiel auf Leben und Tod daraus werden.

Es ist genau das, was die biblischen Propheten immer wieder den Leuten versucht haben klarzumachen. Im Namen Gottes. Dass sie dafür verantwortlich sind, solche Art Rangeleien bzw. die verhängnisvolle Entwicklung hin zu katastrophalen Zuständen zu vermeiden. Dass es ein anderes durchaus bekanntes Programm für ein Leben in Freiheit und Gerechtigkeit gibt. Der Prophet Micha hat dieses Programm so auf den Punkt gebracht, Sie kennen es vielleicht: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ So einfach. Eigentlich. Und so schwer, wenn man sich in Rangeleien hineinbegeben hat, die am Ende keine Gewinner haben können. So hat auch Micha seine Leute gewarnt angesichts der Vorboten der Katastrophe. Führt ihnen vor Augen, sie hätten sich ganz anders verhalten können. Sie hatten von der wirtschaftlichen Ausbeutung anderer Völker profitiert – und der ihrer eigenen Armen, Abgehängten und sich selbst Überlassenen. Ihre zwischenmenschlichen Beziehungen waren zerrüttet und last, but not least hatten sie sich Gott entfremdet – und seinem Programm, das sie genau kannten. Sie konnten sich aus diesem Verhängnis, aus diesem schleichenden immer weiter nicht mehr selbst befreien. Und so brach alles irgendwann zusammen, das Land wurde von den Assyrern eingenommen. Es kam zu Vertreibungen, Verschleppungen und so weiter. All dies wird den Nachkommen der Verschleppten im Buch Micha vor Augen geführt. Am Ende des Buches – und das ist unser Predigttext – kommt es dann zu einem gewaltigen Ausblick: Hören wir ihn noch einmal.

Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade! 19 Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen. 20 Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham Gnade erweisen, wie du unsern Vätern vorzeiten geschworen hast.

Manchmal gibt es im Leben keine Alternative als total neu anzufangen. Michas Lobgesang auf Gottes unendliche Gnade und Barmherzigkeit will seinen Hörern die Angst davor nehmen. Ihr könnt es wagen. Es ist Gott, der Euch aus allen Verhängnissen und Rangeleien, in die Ihr Euch eingelassen hat, herauslösen kann. So, dass da nichts zurück bleibt. Es ist vorbei – es ist in den „Tiefen des Meeres“, was für ein Ausblick. Aber davor spricht Micha und müssen auch wir es tun, um zum Wesentlichen zu kommen, von dem uns sehr unangenehmen, ja vielleicht sogar abstoßenden Gedanken des „Zornes Gottes“. Dass Gott an ihm nicht ewig festhält, macht ihn uns nicht unbedingt sympathischer. Hat man Menschen nicht lange genug damit gedroht, und widerspricht das nicht im höchsten Maße dem, was wir doch gelernt haben nicht zuletzt bei Jesus selbst: Dass Gott Liebe ist – und nichts anderes. Sollten wir den Zorn Gottes nicht also für abgeschafft erklären, als überholtes Zerrbild von Gott, das nur Unheil angerichtet hat in der Erziehung und vor allem auch durch diejenigen, die sich zum Werkzeug seiner Vollstreckung aufgeschwungen haben? Aber offensichtlich gibt es für Micha keinen schnellen Neuanfang nach dem unter den Menschen so grassierenden Schaden. Nach diesen Verhängnissen, in die sich die Menschen selbst hineinmanövriert hatten, in ihre Rangeleien, wo es am Ende nicht mehr drauf ankam, nur einen Täter zu finden, sondern es keine Rolle mehr spielte, weil alle beteiligt waren. Wie sollte Gott über so etwas nicht zornig werden? Über das von Menschen selbst verbreitete Verderben. Ist er doch nach Micha ein Gott, der von Menschen etwas erwartet. Erwartet, weil er sie ernst nimmt. Und nicht als seine Marionetten betrachtet: „Es ist dir gesagt, Mensch, was der Herr von Dir fordert.“ Fordern kann ich nur etwas von jemandem, dem ich das auch zutraue. Vom Menschen, von der Menschheit. Gott meint es ernst mit uns und nimmt uns ernst. Es kann ihn doch nur zornig machen, wenn wir ins Verderben laufen in der Meinung, wir gewönnen auf diesem Weg etwas. Was ist das für eine „Verniedlichung Gottes“, manche sprechen von  „Verhaustierung Gottes“, wenn wir diese Seite der Beziehung Gottes zu uns nicht wahrhaben wollen? Wollen wir dann nicht im Grunde einen Gott, den wir streicheln können und der eigentlich nur macht, was wir von ihm möchten – nämlich, dass er lieb ist und unseren Wunsch, geliebt zu werden, erfüllt? Dass alles wieder gut ist, ohne dass es etwas kostet, weil Liebe doch umsonst ist? Verharmlosen wir damit nicht die Gewalt an Mensch und Schöpfung, die sich punktuell Bahn gebrochen hat in Reda-Wiedenbrück, Tulsa oder Stuttgart? Darüber kann man nur zornig sein. Warum nicht auch Gott?

Den Unterschied, den es dabei gibt, macht Micha nun aber mehr als klar. Wir Menschen können uns in unserem Zorn verlieren. Gott tut das nicht. Und er richtet ihn nicht auf einzelne. Sondern auf das Verhängnis – aus dem wir uns nicht selbst befreien können. Er aber kann und wird es tun! Das ist Michas Botschaft. Auf dieses unglaubliche „Trotzdem“ Gottes zu vertrauen. Auf dieses große Dennoch Gottes. Dieses Unglaubliche, was dem wirklich verlorenen Sohn im heutigen Evangelium entgeht: Dem Älteren, in seinen eigenen Zorn verstrickten Sohn. Lieber bleibt er in seinem eigenen Verhängnis als das zu feiern, was uns geschenkt ist: Gottes Ruf aus unseren Verstrickungen in sein Erbarmen. Weil das so ist, weil er uns gilt: Darum können wir auch überso etwas wie den Zorn Gottes und die Sünde reden und nachdenken. Deshalb können wir uns so anschauen, wie wir eben auch sind neben unseren freundlichen, charmanten, liebevollen Seiten. Wir können uns das realistische Menschenbild der Bibel zueigen machen. Gerade nicht, um uns klein zu machen. Sondern weil es uns hilft, mit diesen unseren Seiten zu leben. Krisentauglich zu werden. Und das besser zu lernen, was jetzt gerade besonders dran ist: Die Unwägbarkeiten auszuhalten, in die wir jetzt geraten sind und in denen wir wohl noch lange bleiben werden. Und am Ende sogar vielleicht auch das, was man auch dem älteren Sohn im Evangelium nur wünschen mag: Es auszuhalten, dass auch die Halunken leben dürfen. Solche wie sein jüngerer Bruder. Dass am Ende auch und sogar für sie gilt, was Micha sagt: Gott hat Gefallen an Gnade. Hier erst, wo wir anfangen, das zu begreifen, ist die ganze Tiefe ausgelotet von dem, was Michas Hoffnungsruf für uns bedeuten kann: „Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen.“

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche
taddiken@thomaskirche.org