Predigt über Mk 3,31ff

  • 10.09.2017 , 13. Sonntag nach Trinitatis
  • Pfarrer Hundertmark

Predigt über Mk 3, 31-35 am 13. So p. Tr., 10.09.2017, St. Thomas zu Leipzig im 09.30 Uhr

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

Eltern machen sich natürlicherweise Sorgen um ihre Kinder, gelegentlich auch unberechtigt. Der Blick auf die Uhr, wenn das Kind längst überfällig zu Hause sein sollte, ein Anruf, ob auch alles ok ist oder dann doch der Impuls, sich auf den Weg zu machen, um nach dem Sohn bzw. der Tochter zu schauen sind Ausdruck mancher elterlicher Sorge.

Die Party ist in vollem Gange. Musik, Tanz, Gespräche, ausgelassene Freude. Plötzlich kommt jemand und sagt: „Draußen wartet deine Mutter und will dich abholen.“ Solch eine Szene hat in Jugendtagen nicht nur die Stimmung kaputt gemacht, sie war obendrein auch noch oberpeinlich. Wer möchte von den Eltern abgeholt werden, wenn gerade das Fest auf seinem Höhepunkt ist? Ihr Auftauchen stört.

Der Evangelist Markus stellt zu Beginn seines Evangeliums Jesu Auftreten inhaltlich in eine Reihe von Gebotsradikalisierungen. Am Ende des 2. Kapitels wird der Sabbat in ein neues Licht gerückt, wenn es heißt „so ist der Sabbat für den Menschen da und nicht der Mensch für den Sabbat.“ Und direkt vor unserem heutigen Predigttext geht es darum, dass der Name Gottes nicht missbraucht werden soll, so wie es im zweiten Gebot zu lesen ist. Von daher betrachtet, könnte man die folgenden Zeilen auch als Jesu besondere Auslegung zum vierten Gebot (Du sollst Vater und Mutter ehren) verstehen. In allen drei Radikalisierungen geschieht ein Transformationsprozess. Jesus formt das bisherige Verständnis der Gebote um und gibt ihnen dadurch ein neues Gewicht.  Ich lese aus dem 3. Kapitel des Markusevangeliums:

31 Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen.

32 Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder draußen fragen nach dir.

33 Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder?

34 Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder!

35 Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.

Jesus lässt sich nicht abholen von seinem Fest, welches drinnen im Haus gefeiert wird. Es ist das Fest des Evangeliums, der frohen Botschaft, die seine Familie nicht hören und begreifen will. Denn in ihren Augen war er bloß ein Spinner. Somit bleiben sie außen vor. Markus als geschickter Arrangeur kleiner Geschichten und Begebenheiten von und mit Jesus spielt hier gekonnt mit den Begriffen „drinnen“ und „draußen“.

Drinnen im Haus sitzt Jesus. Es ist so voll, dass sie noch nicht einmal essen konnten. Aus Jerusalem kamen sogar Schriftgelehrte herab zu ihm, um mit Jesus zu diskutieren. Und draußen wartet die Familie. Sie kommen nicht ins Haus, sondern lassen nach ihm rufen, damit er heraus kommt zu ihnen.  Jesus bleibt aber drinnen im Haus. Er bittet seine Familie nicht herein zu ihm, sondern nutzt ebenfalls den Boten, um seine Botschaft überbringen zu lassen. Indem er das sogar öffentlich macht und alle mithören können, wird der Gegensatz zwischen ihm drinnen im Haus und seiner Familie draußen aufs schärfste verdeutlicht. Angemeldete Ansprüche der Familie an ihn zerfallen, weil Jesus mit der Familie bricht.

Heilige Familie ade?

Zumindest in der Lesart des Markusevangelisten gibt es sie nicht. Er verzichtet sogar ganz auf eine Geburtserzählung. Während für unsere Weihnachtsempfindungen die Heilige Familie aus Maria, Josef und dem Krippenkind dazugehören und wir neben der Geburt dieses Fest gerne auch als Familienfest feiern, provoziert uns Markus hier mit einen totalen Kontrast, indem Jesus neu bewertet, was Familie ist und wer dazu gehört.

Wo ist der Vater?

Auffällig ist in unserem Predigtabschnitt, dass nur von Jesu Mutter und von den Schwestern und Brüdern die Rede ist, nicht aber vom Vater. Mancher Exeget will diesen Umstand so gelöst wissen, dass Josef zu der Zeit als Jesus auftritt schon tot war. Dafür gibt es keinen Beleg, der solche Vermutung verifizieren könnte. Meines Erachtens lässt sich hier durch das bewusste Weglassen des Vaters ein theologischer Akzent finden. Die Anrede „Vater“ bleibt einzig und allein gegenüber Gott vorbehalten. Er ist der himmlische Vater und diejenigen, die seinen Willen tun, sind seine Familie. Im Verständnis der damaligen Zeit steht der Vater auch sinnbildlich für das Familienoberhaupt in einer autoritär strukturierten Einheit. Dem Vater war alles untergeordnet – Frau, Kinder, Diener, Sklaven, Knechte und Mägde. Er hatte zu entscheiden. Er trug die Verantwortung und war für alle in seiner Familie der Vormund. Wenn nun Gott alleine die Anrede „Vater“ zugestanden wird, weitet Jesus somit den Kreis der Familie und auch das Verständnis von Familie. Denn in der neuen Familie gibt es nicht diese autoritäre Struktur. Der Vater im Himmel lässt die Grenzen seiner Familie offen für alle diejenigen, die seinen Willen tun, nämlich geschwisterlich miteinander das Evangelium von seiner Liebe feiern, leben und weitergeben, indem man Gott liebt, sich selbst und seinen Nächsten.

Die neue Familien-Gemeinde Jesu orientiert sich nicht an Blutsbanden, sondern am Haus – ohne Vater aber mit Schwestern. Ihnen misst Jesus eine wichtige Bedeutung zu. Während sie zu Beginn der Familienerzählung noch verschwiegen werden, fügt er sie ganz am Ende im letzten Vers hinzu, indem er sie noch vor der Mutter erwähnt. Familie Gottes besteht aus allen, aus Schwestern und Brüdern. Die verfasste Kirche hat über 1900 Jahre gebraucht, um das zu lernen. Leider wird heute von einigen Kirchen, wie z. B. in Lettland, wieder infrage gestellt, was doch mittlerweile selbstverständlich sein sollte – dass es nicht nur Amtsbrüder, sondern auch Amtsschwestern gibt.

Familie Gottes heute

Zugegeben, der Bruch mit der uns so vertrauten Familie, den Jesus vollzieht, ist schwer auszuhalten; zumal die Kleinfamilie als Keimzelle der Gesellschaft verstanden wird. Ist Familie denn nicht mehr wichtig? Mit Ja muss diese Frage immer dann beantwortet werden, wenn sich alles ausschließlich um die Familie dreht, wenn man gewissermaßen nur im familiären Saft schmort und diejenigen, die daraus ausbrechen wollen, für Spinner oder Verrückte hält. Oder wenn die Ansprüche, die eine Familie an ihre Mitglieder stellt, so hoch werden, dass der einzelne daran kaputt zu gehen droht. Jesus war Zimmermann, lernte also den Beruf seines Vaters. Aber er führte dessen Werkstatt nicht fort, sondern fand für sich einen anderen Weg. Seine Berufung wurde sein neuer Beruf – Gottes Wort zu leben und zu verkündigen. Familie damals und Familie heute wird lernen müssen, in Liebe und Freiheit ihre Mitglieder an sich zu binden und nicht durch Ansprüche, die aufgrund der Blutsverwandtschaft erhoben werden. Freiheit- und Veränderungsstreben der Kinder in einer Kleinfamilie werden fruchtbar, wo sie nicht eingedämmt, sondern zugelassen werden. Ein Abschotten führt am Ende nur zum Bruch.

Die Neubestimmung der Familie durch Jesus Christus stellt uns auch heute noch vor Herausforderungen. Zeigt sie uns doch, dass wir auch als Kirche und Gesellschaft gerne der Gefahr erliegen, diejenigen heimzuholen und wieder einzunorden, die neue Wege gehen wollen, wie es Jesus Christus tat.

Kirche wird wie die Jesusfamilie scheitern, wenn sie sich der Reformation verweigert und nur auf der Tradition beharrt. Sie wird auch scheitern, wenn sie sich abgrenzt und im Thermoskannenprinzip (außen kühl, innen schön warm) nur sich selbst feiert und sich selbst genug ist.  Jesus bezeichnet seine neue Familie als Volk, als Gemeinschaft der Vielen und der Verschiedenen. Sie haben einen Platz bei ihm, wenn sie sich darauf einlassen, ihr Leben unter Gottes Gnade zu stellen.

Gesellschaftlich werden wir scheitern, wenn wir einzig und allein das Prinzip der familiären Abschottung praktizieren. Da, wo sich Ideologiegemeinschaften oder ethnische Gemeinschaften hin zu Parallelgesellschaften entwickeln, braucht es die heilsame Unterbrechung und Weitung durch Christen, die sich mit ihrem Verständnis von Gemeinschaft einbringen. Und auf der anderen Seite dürfen nicht solche Strukturen entstehen, die Familie unmöglich machen, weil alles verwischt wird.  

Ein Ausblick

Das offene Haus der Familie Gottes mit gelebter Geschwisterlichkeit gibt vielen Heimat. Wo sich Geschwisterlichkeit als Geschwisterlichkeit vor Gott verstehen lässt, ist ein ganz anderes Zusammenleben möglich. Daran erinnert Jesus kurz vor seinem Tod. Die zunächst unversöhnlichen Modelle von Familie treffen noch einmal aufeinander. Ganz am Ende der Jesuserzählung, unter dem Kreuz. Am Kreuz versöhnen sich die beiden Familien wieder. So erzählt es der Evangelist Johannes. Denn der Jünger aus Jesu neuer Familie, wird an die Mutter aus Jesu alter Herkunftsfamilie gewiesen und umgekehrt. Amen.

Und der Friede Gottes...

 

Martin Hundertmark, Pfarrer an der Thomaskirche zu Leipzig, (hundertmark@thomaskirche.org)