Predigt über Philipper 1,15-21

Die Predigt wurde im Festgottesdienst anlässlich des 275-jährigen Jubiläums des Gewandhausorchesters Leipzig gehalten.

  • 11.03.2018 , 4. Sonntag der Passionszeit - Lätare
  • Pfarrerin Taddiken

Predigt über Philipper 1,15-21, 11. März 2018 (Lätare), 275. Jubiläum des Gewandhausorchesters Leipzig

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

„Vom Fenster seines Leipziger Hotelzimmers aus kann er sie gut sehen, die Braunhemden. Sie versammeln sich zum Flaggenhissen auf dem Roßplatz gleich gegenüber. Unterwegs in der Stadt ist er Zeuge geworden, wie sie einen Bäckerjungen vom Rad rissen und traten, nur weil er nicht den Hitlergruß entboten hatte. Nun aber bilden sie die Drohkulisse für einen Fußtritt ganz anderer Art. Es geht um ihn, um den Gewandhauskapellmeister Bruno Walter. Sein Konzert in zwei Tagen, am 17. März 1933, solle »verhindert« werden, heißt es, aber so leicht ist die Direktion des Hauses nicht zu beeindrucken.
Man hat seinen Leipziger Bürgerstolz. Und man hat Kontakte, es wird telefoniert. Zum Beispiel mit Winifred Wagner in Bayreuth. Hitlers Vertraute ist sicher, Übergriffe seien »ganz gegen den Willen« des neuen Reichskanzlers. Doch es hilft alles nichts. »Aus Gründen der öffentlichen Sicherheit« darf das Konzert nicht stattfinden.
»Aus Gründen der öffentlichen Sicherheit«? Die Nazis sind in diesen Tagen noch ein wenig vorsichtig. Aber einen so bekannten Dirigenten kann man nicht heimlich vertreiben. Die New York Times nennt gleich am 17. März den wahren Grund für das Verbot: Walter entspreche »nicht den von den Nationalsozialisten favorisierten rassischen Standards«, da sein ursprünglicher Name Schlesinger laute. Die Zeitung hat schon oft über Walter berichtet, wenn er in New York dirigierte. Und die Amerikaner wissen, was sie an ihm haben, als er sechs Jahre später für immer zu ihnen kommt - als einer von Zehntausenden Emigranten."

Liebe Gemeinde,
So war es in einem ZEIT-Artikel im Februar 2012 zu lesen über das, was sich ziemlich genau vor 85 Jahren zugetragen hat. Mit der 275jährigen Geschichte des GWHO sind auch unzählige Lebensgeschichten einzelner Menschen verbunden. Auch tragische Ereignisse wie dieses oder wie das Schicksal des damaligen Konzertmeisters Leo Schwarz, der 1933 vom Orchesterdienst beurlaubt und 1934 mit 44 Jahren in den Zwangsruhestand versetzt wurde.1938 wurde er ins KZ Buchenwald deportiert, später gelang ihm zum Glück die Emigration in die USA. Wirklich Fuß fassen konnte er dort nicht, auch seine Pläne zur Rückkehr in seine Heimatstadt Hamburg scheiterten, er starb 1962 in New York.

Bruno Walter und Leo Schwarz - das sind Lebensgeschichten, die uns mahnen und warnen. Die uns aber zugleich auch bewusst machen, dass wir heute nur Lob und Dank sagen können für das, was jetzt ist und was sich anhand einer kleinen Begebenheit in unserer Nordsakristei vor wenigen Tagen schön deutlich machen lässt: Wie kurz vor Motette der in Ankara geborene Kontrabassist mit dem in Lyon geborenem Cello-Kollegen auf Englisch schnell noch mal etwas Musik des deutschen Thomaskantors Johann Sebastian Bach probten. Nicht nur sie, sondern alle Umstehenden hatten ihre Freude daran!

Ich muss ja gestehen: Was mir fast noch mehr Freude am GWHO macht als zuzuhören ist zuzusehen, wie viele Leute aus wie vielen Ländern da zusammen sind und diesen Klang formen. Und dass es im 275. Jahr des Bestehens bei der Aufnahme ins Orchester ganz offensichtlich keine Rolle mehr spielt, ob Mann oder Frau, wo er herkommt, was er glaubt oder eben auch nicht. So ist dieses Jubiläum auch ein Fest, bei dem wir das feiern, was uns viel zu selbstverständlich vorkommt: in einer freien und offenen Gesellschaft leben zu dürfen. Wo wir täglich und öffentlich dem nachgehen können, was unser Leben hebt und trägt. Niemand von uns muss befürchten, auf dem Heimweg vom Gottesdienst verhaftet zu werden - jedenfalls nicht, weil er in der Kirche war. Niemand bekommt mehr Schwierigkeiten dadurch in der Schule oder bei der Arbeit, nun, so einige von Ihnen haben da aber ja noch erlebt.

Aber es ist eben bei uns so, anderswo nicht. Christen gelten als am meisten verfolgte Religion auf der Welt. Mir ist zwar nicht ganz klar, wie man das genau messen will und ob man dabei die jüdischen Gemeinden genug im Blick hat, aber fest steht: Im Nahen Osten gibt es auf weiter Fläche so gut wie keine christlichen Gemeinden mehr, die noch funktionieren. Wobei man immer sehen muss: Terrorismus wie der des IS trifft alle Menschen. Muslime ganz genauso. Leid gegeneinander aufzurechnen ist unangemessen und unanständig. Unbestritten ist: Man kann auf dieser Welt um seines Glaubens und Bekenntnisses Willen im Gefängnis landen. Schon die erste Christenheit hat diese Erfahrung gemacht. Und: Große Teile christlicher Theologie und christlichen Glaubens bauen auf dieser Erfahrung auf, insbesondere auf denen eines Mannes, der daran wesentliche theologische Erkenntnisse gewonnen hat und sie in seinen Briefen an die Gemeinden weitergab: Der Apostel Paulus. Eins seiner bewegendsten persönlichen Zeugnisse ist heute Predigttext. Aus dem Gefängnis in Ephesus schreibt er nach Philippi:

Einige zwar predigen Christus aus Neid und Streitsucht, einige aber auch in guter Absicht: 16 diese aus Liebe, denn sie wissen, dass ich zur Verteidigung des Evangeliums hier liege; 17 jene aber verkündigen Christus aus Eigennutz und nicht lauter, denn sie möchten mir Trübsal bereiten in meiner Gefangenschaft. 18 Was tut's aber? Wenn nur Christus verkündigt wird auf jede Weise, es geschehe zum Vorwand oder in Wahrheit, so freue ich mich darüber. Aber ich werde mich auch weiterhin freuen; 19 denn ich weiß, dass mir dies zum Heil ausgehen wird durch euer Gebet und durch den Beistand des Geistes Jesu Christi, 20 wie ich sehnlich erwarte und hoffe, dass ich in keinem Stück zuschanden werde, sondern dass frei und offen, wie allezeit so auch jetzt, Christus verherrlicht werde an meinem Leibe, es sei durch Leben oder durch Tod. 21 Denn Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn.

Es ist schon erstaunlich und zeugt von innerer Größe: Im Gefängnis festgesetzt freut sich Paulus allen Ernstes über die Erfolge seiner Widersacher, die möglicherweise ihre Finger dabei im Spiel hatten. Wut, Polemik, alles hätte man verstanden, Paulus aber schlägt einen anderen Ton an. Es geht nicht um Befindlichkeiten, um Selbstmitleid, sondern allein um die Sache: Wenn nur Christus verkündigt wird auf jede Weise...so freue ich mich darüber. Was für Paulus dabei offenbar völlig klar ist: Die Vielfalt, in der das geschehen kann in Sprache, Stil und Geschmack ist ein Zeichen für Reichtum und keins für Krise. Und er scheint eins tief verstanden zu haben: Ich kann davon nur wenig abdecken. Gottseidank gibt's die, die auch die anderen erreichen können, die ich nie erreichen werde. Wer kriegt das schon hin?

Ich kann es zumindest für meinen eigenen Berufsstand sagen: Was es unter Pfarrerinnen und Pfarrern an laut gesagten oder verschwiegenen Gehässigkeiten gibt, ist schon heftig. Meist aus Neid oder Eifersucht oder weil man den Gedanken nicht erträgt, kleiner zu sein, weshalb ich den anderen kleinlich herunterreden muss. Nicht besonders tröstlich ist der Gedanke, dass es bei anderen wahrscheinlich nicht anders ist. Wer kann sich wirklich darüber freuen, wenn jemand etwas im eigenen gedanklichen und arbeitsmäßigen Dunstkreis anders sieht - und schlicht auch anderes kann? Na ja, allenfalls kann ich mich darauf einlassen, aber freuen? Freuen? O je! So banal die Einsicht ist, so schwer fällt sie uns: In allem, was ich bin, bin ich schlicht vor allem ergänzungsbedürftig. Mir ist meine eigene Erwartung dabei eigentlich suspekt, zu der ich gerne neige. Zu meinen, nur diejenigen gehören an besondere Positionen in Politik, Wirtschaft, Kultur oder Kirche, die schon immer alles richtig gemacht haben - und jetzt bitte auch tun sollen, allen voran die designierten Ministerinnen und Minister der neuen Bundesregierung. Was tun wir diesen Menschen an mit solchen Erwartungshaltungen? Und uns selbst? Was macht das mit uns?

Paulus hatte da eine Wandlung schon hinter sich von einem, der alles richtig machen wollte hin zu einem, der ins seiner Blindheit von Gott auf den Weg in die andere Richtung gesetzt worden ist. Vielleicht gelingt es ihm deshalb, sich innerlich frei zu machen von denen, die ihn verletzen und diskreditieren wollen. Noch gefangen ist er innerlich schon frei. Es ist ja oft so, dass einem erst in solchen angespannten Situationen der Glaube wirklich zum tragenden Fundament wird. Situationen, die man sich nicht und niemand anderem wünscht. Wo man mitunter Furchtbares durchzumachen hat. Und erst im Rückblick, aber auch wirklich erst da - feststellt: Daran bin ich gewachsen. Ich bin da größer herausgekommen, als ich hineingegangen bin. Mit Narben und Schrammen - aber aufrecht. Gefängnismauern müssen dabei nicht aus Stein sein. Vieles kann uns gefangen halten: Krankheit, Verlust von Leben, von Hoffnung, von Selbstwertgefühl. Die Wenigsten gehen da unangefochten durch. Im Gegenteil, wo Leib und noch mehr Seele angegriffen sind, reagieren wir auch oft verletzt, was sich bisweilen niederschlägt im allgemeinen gesellschaftlichen Klima. Ein Interview mit den ehrenamtlichen Mitarbeitern der Essener und Frankfurter Tafel in der letzten Woche hat mich dabei nachdenklich gemacht. Sie haben gesagt: Das Problem, vor dem wir hilflos stehen, ist die Verbitterung der meisten. Zur Tafel gehen zu müssen, darauf angewiesen zu sein, das ist ein zusätzlicher Schmerz, den jemand erst mal überwinden muss, der sowieso schon das Gefühl hat: Ich bin schon ganz unten. Von dem wird ja noch erwartet, dass er sich still in die Reihe stellt. Kein Wunder, wenn es da zu Zusammenstößen kommt mit denen, die es aus ihren Herkunftsländern gewohnt sind, sich in solchen Situationen lautstark durchzusetzen, weil man da mit Anstehen nichts wird, so trifft Verbitterung auf Verbitterung. Und das kann wirklich hässliche Blüten treiben. Unsere Verbitterung, sie macht uns klein, macht uns kleiner und armseliger als wir sind, sie trägt dazu bei, dass wir es Verlernen, uns zu freuen, sie trübt den Blick auf uns selbst, auf die anderen, beraubt uns großer Teile unserer Menschlichkeit. Es gibt kein Patentrezept, wie man dieser Verbitterung beikommen kann. Aber ich glaube, irgendwie muss uns da allen miteinander mehr einfallen. Letztlich ist eine Lebensschule, da gibt es keine Formel, keinen Hebel, den man mal eben umlegt.

Gerade da aber können uns solche Zeugnisse wie das von Paulus wirklich kostbar werden. Denn: Er lässt sich nicht verführen, seine Freiheit selbst einzuschränken. Er geht mit der Situation um, indem er sie für sich deutet als der, der er ist. Er sieht sich nicht als den, zu dem ihn die Umstände machen wollen. In dem, was geschieht, erkennt er seine enge Verbindung zu dem, den er verkündigt. Zu dem, der dieses Leid vor ihm getragen hat und es darin überwunden hat, dass er ihm nicht ausgewichen ist. Paulus sieht den Weg Jesu Christi an sich selbst nachgezeichnet. Deshalb kann er über den Tod hinweg sehen: Was an Christus geschehen ist, wird auch an ihm geschehen. Es ist paradox: Das sozusagen Schlimmste, was ihm passieren kann, ist die Auferweckung - also zugleich das Beste, was ihm geschehen kann. Deshalb kann er sagen: „Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn." Das ist nicht die unter griechischen Philosophen verbreitete Ansicht, der Tod sei begehrenswert, weil das Leben hier unerträglich ist. Paulus wertet es aber nicht ab, sondern kennt sein Ziel: Christus von Angesicht zu Angesicht schauen. Das sprengt die Enge seiner Zelle. Die qualvoll leere Zeit und Enge wird mit Christus gefüllt - und diese Freude schafft geradezu Entspannung - in ihm selbst, in Bezug auf seine Gemeinde - und eben auch: in Bezug auf seine Gegner und Konkurrenten. Eine solche Haltung wird oft überliefert von Menschen, die kurz vor ihrer Hinrichtung waren. Ein Dietrich Bonhoeffer konnte sagen: Das ist nicht das Ende, sondern ein neuer Anfang. Oder was der Jesuitenpater Alfred Delp, der im Februar 1945 hingerichtet wurde, in einem seiner letzten Briefe an sein Patenkind aus der Gefängniszelle schreibt:

„Ich lebe hier auf einem sehr hohen Berg, lieber Alfred Sebastian. Was man so Leben nennt, das ist weit unten, in verschwommener und verworrener Schwärze. Hier oben treffen sich die menschliche und die göttliche Einsamkeit zu ernster Zwiesprache. Man muss helle Augen haben, sonst hält man das Licht hier nicht aus. Man muss gute Lungen haben, sonst bekommt man keinen Atem mehr. Man muss schwindelfrei sein, der einsamen, schmalen Höhen fähig, sonst stürzt man ab und wird ein Opfer der Kleinheit und Tücke. Das sind meine Wünsche für Dein Leben: Helle Augen, gute Lungen und die Fähigkeit, die freie Höhe zu gewinnen und auszuhalten. Das wünsche ich nicht nur Deinem Körper und Deinen äußeren Entwicklungen und Schicksalen, das wünsche ich viel mehr Deinem innersten selbst, dass Du Dein Leben mit Gott lebst als Mensch in der Anbetung, in der Liebe, im freien Dienst..."

Bonhoeffer, Delp - vielleicht sind das viel zu große Vorbilder für uns. Aber eins vermag man aus ihrem Vermächtnis sofort anzunehmen: Die Mahnung dazu, nicht abzustürzen, da wo der Weg schmaler ist und die Luft dünn. Dass wir genau da kein Opfer von Kleinheit und Tücke werden. Dass wir aufpassen, dass es uns nicht passiert. Es geht so schnell, wie wir gesehen haben, ist auch die große Geschichte des GWHO davon nicht unberührt geblieben. In der Weite leben, wo sich Mauern aufbauen wollen. Sich nicht einmauern zu lassen. Das haben wir mit in der Hand. Und dazu schenke Gott uns seinen Frieden, der höher ist als all unsere Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche