Predigt über Prediger 9,1-10

  • 01.08.2021 , 9. Sonntag nach Trinitatis
  • Prof. Dr. Andreas Schüle

Liebe Gemeinde,

zwei Wochen lang haben wir uns mit den Gedanken des Predigers Salomo auseinandergesetzt – eine der eigenwilligsten Stimmen des Alten Testaments und vielleicht der Bibel insgesamt. Wer noch nie in die Bibel hineingeschaut hat und vielleicht auch eher ein bisschen skeptisch ist, der kann hier anfangen. Dieser Prediger spricht von dem, was der Glaube glauben kann, ohne dabei besonders religiös zu sein. Es sind alltägliche Beobachtungen und Erlebnisse, die zum Spiegel dafür werden, was Glaube sein kann. Wir wissen nicht, wer dieser Prediger war, aber man nennt ihn den „Prediger Salomo“, weil er sich in die Rolle des sagenumwobenen Königs Salomo versetzt. Wenn einem alles möglich wäre, fragt er sich, wenn man allen Reichtum der Welt hätte und alle Weisheit besäße, so wie einst König Salomo, wäre es dann auch möglich, ein glücklicher Mensch zu sein?

Die Antwort ist ein melancholisches Nein. Mit Reichtum und Weisheit kann man sich ein annehmliches Leben schaffen, und das mag schon etwas wert sein. Aber mit dem Glück ist es ein wenig schwieriger. Das führt uns zu dem letzten Text, den wir heute bedenken wollen. Das, was dauerhaftem Glück entgegensteht, ist die Endlichkeit, ist der Tod, der auf alles Dasein seinen Schatten wirft. Ein Schatten, der mit den Jahren immer kürzer. Hören wir noch einmal den Prediger Salomo:

„1 Denn ich habe das alles zu Herzen genommen, um dies alles zu erforschen: Gerechte und Weise und ihre Werke sind in Gottes Hand. Der Mensch erkennt nicht alles, was er vor sich hat – weder Liebe noch Hass. 2 Es begegnet dasselbe Geschick dem einen wie dem andern: dem Gerechten wie dem Gottlosen, dem Guten und Reinen wie dem Unreinen; dem, der opfert, wie dem, der nicht opfert. Wie es dem Guten geht, so geht's auch dem Sünder. Wie es dem geht, der schwört, so geht's auch dem, der den Eid scheut. 3 Das ist das Unglück bei allem, was unter der Sonne geschieht, dass es dem einen geht wie dem andern. Und dazu ist das Herz der Menschen voll Bosheit, und Torheit ist in ihrem Herzen, solange sie leben; danach müssen sie sterben. 4 Denn wer noch bei den Lebenden weilt, der hat Hoffnung; denn ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe. 5 Denn die Lebenden wissen, dass sie sterben werden, die Toten aber wissen nichts; sie haben auch keinen Lohn mehr, denn ihr Andenken ist vergessen. 6 Ihr Lieben und ihr Hassen und ihr Eifern ist längst dahin; für immer haben sie keinen Teil mehr an allem, was unter der Sonne geschieht. 7 So geh hin und iss dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dein Tun hat Gott schon längst gefallen. 8 Lass deine Kleider immer weiß sein und lass deinem Haupte Salbe nicht mangeln. 9 Genieße das Leben mit der Frau, die du lieb hast, solange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat; denn das ist dein Teil am Leben und bei deiner Mühe, mit der du dich mühst unter der Sonne. 10 Alles, was dir vor die Hände kommt, es zu tun mit deiner Kraft, das tu; denn im Totenreich, in das du fährst, gibt es weder Tun noch Denken, weder Erkenntnis noch Weisheit.“

Ist das überhaupt ein christlicher Text, könnte man fragen? Passt der in eine Kirche hinein? Ein ums andere Mal sagt der Prediger Salomo, dass es mit dem Tod aus ist – und zwar ganz aus. Keine Auferstehung, kein Weiterleben nach dem Tod, kein ewiges Leben. Wer gestorben ist, sinkt in das Nichts zurück, aus dem er gekommen ist. Eine Zeitlang erinnert man sich noch an die Verstorbenen, aber auch die Erinnerung wird schwächer, aber irgendwann ist es auch damit vorbei.

Das klingt nicht besonders fromm – und so ist es auch gar nicht gemeint. Aber dem lässt sich schwer widersprechen. Mir kommt dabei ein Ehepaar in den Sinn, das schräg gegenüber von meinem Elternhaus wohnte. Die Frau war so ein bisschen meine zweite Oma; ich ging oft hinüber zu ihr nach dem Kindergarten. Sie erzählte mir viele Geschichten von Dresden, ihrer Heimatstadt. Nach dem 2. Weltkrieg war sie mit ihrem Mann, der Offizier in der Wehrmacht war, in Süddeutschland gestrandet. Während der DDR-Zeit hatte sie dann keine Möglichkeit mehr zurückzukehren. Sie führte ein Leben aus den Erinnerungen an die alte Heimat, so als säße sie auf ihrem Sofa mitten in einem Kaffee auf dem Neumarkt oder auf der Brühlschen Terrasse. Ich denke oft an sie, natürlich vor allem, wenn ich in Dresden unterwegs bin und in der Frauenkirche sitze, für die sie von wenig Rente große Summen spendete. Bald wird das Grab dieses Ehepaars aufgelassen, die 20 Jahre Ruhezeit sind um. Ein schmiedeeisernes Kreuz hat sie machen lassen, weil sie gerne in den österreichischen Bergen Urlaub verbrachte. Das wird wohl irgendwo verschwinden. Ein paar entferne Verwandte gibt es noch, aber irgendwann wird sich niemand mehr an sie und ihren Mann erinnern. Es wird so sein als hätten sie nie existiert.

Das meint der Prediger, wenn er davon spricht, dass dasselbe Geschick dem einen wie dem anderen widerfährt – den Gerechten wie den Ungerechten, den Weisen wie den Einfältigen, den Religiösen und den Atheisten.  Und er macht keinerlei seelsorgliche Anstalten, um das tröstlich zu verpacken. „Ein lebender Straßenköter ist besser als ein toter Löwe.“ Das Bild spricht für sich. Wenn das Leben endet, endet alles, was bedeutsam ist – Wissen, Erkennen, Lieben und Hassen. Das Leben hat viele Dimensionen, der Tod hat nur eine. Da ist der Prediger geradezu unerbittlich. Es gibt kein Mauseloch am Tod vorbei. Und das sagt der Prediger Menschen, die das glaubten, was einige Jahrhunderte später auch das Zentrum des christlichen Glaubens werden wird: Dass der Tod eine Grenze aber kein Ende ist und dass das, was wir tun und lassen, ein Echo im Jenseits hat.

Diesen Menschen und damit auch uns ruft der Prediger zu: ‚Wenn ihr meint, dass euer Leben nur dann einen Sinn und einen Wert hat, wenn es in der Tonart von Ewigkeit, Unsterblichkeit und Auferstehung gespielt wird, dann macht ihr euch unglücklich. Wenn ihr das erwartet, wird euch das Leben eine Frustration nach der anderen bescheren.‘ Wer gerecht ist, weil er meint, dass sich das irgendwann auszahlt und wenn auch erst im Jenseits, brennt innerlich aus. Wer Reichtümer sammelt, weil er meint, damit für sich oder seine Nachkommen etwas Bleibendes zu erschaffen, läuft Gefahr, am Ende vor einem Scherbenhaufen zu stehen. Wer meint, dass hinter dem Horizont alles besser wird, wird so lange laufen, bis er umfällt.

Wir jagen dem Glück hinterher, weil wir meinen, es sei uns immer einen Schritt voraus, immer dort, wo wir es gerade nicht haben können. Wer so denkt, wer sich auf der Suche nach Glück einer wie auch immer gearteten Zukunft oder gar einem Jenseits entgegenwirft, läuft Gefahr, mit leeren Händen dazustehen. Der Prediger will uns nicht auf eine Zukunft vertrösten, sondern uns ganz tief in das Jetzt, in die Gegenwart hineinstoßen.

Wenn Sie diese Predigtreihe verfolgt haben, werden Sie sich vielleicht an die Geschichte von Herrn Rossi erinnern. Herr Rossi, eine Zeichentrickfigur aus den Siebzigern, sucht das Glück, weil ihm all das Schöne, das andere Menschen haben, fehlt. Er dost tagsüber in einer großen Fabrik Fische ein und kehrt abends in sein kleines Häuschen zurück. Sein tyrannischer Chef und dessen penetranter Hund tun das ihre dazu, dass Herr Rossi sich in seiner Haut nicht wohlfühlt. Dabei träumt er von schicken Autos, einer Villa, schönen Frauen an seiner Seite, kurz: von allem, was er sich als die Kirsche auf der Torte vorstellt. Das scheint zum Greifen nah, als er von einer Fee eine magische Trillerpfeife geschenkt bekommt, mit der er durch Raum und Zeit reisen kann, um irgendwo sein Stück vom Glück zu finden. Das will aber nicht so recht gelingen. Wo auch immer er sich hintrillert, das Glück scheint gerade schon wieder abgereist zu sein. Und so kommt er ein ums andere Mal enttäuscht, aber auch irgendwie geläutert von seinen Reisen nach Hause zurück.

Was aber soll man dann tun? Der Prediger gibt einen Rat, den man aus heutiger Sicht vielleicht nicht gleich versteht:

„So geh hin und iss dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dein Tun hat Gott schon längst gefallen. 8 Lass deine Kleider immer weiß sein und lass deinem Haupte Salbe nicht mangeln. 9 Genieße das Leben mit der Frau, die du lieb hast, solange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat; denn das ist dein Teil am Leben und bei deiner Mühe, mit der du dich mühst unter der Sonne. 10 Alles, was dir vor die Hände kommt, es zu tun mit deiner Kraft, das tu.“

Man könnte es mit anderen Worten vielleicht so sagen: Das Glück findet man nicht am Rand, sondern in der Mitte des Lebens. Es liegt in den bedeutungsvollen zwischenmenschlichen Begegnungen, die in die Tiefe gehen. Sein Brot mit Freuden essen und Wein trinken mit gutem Mut, das tut man in der Regel nicht allein. Und wenn der Prediger davon spricht, dass man sein Haupt salben und seine Kleider weiß sein lassen soll, dann meint er damit keine vordergründige Eitelkeit. So hat man sich damals auf Feste vorbereitet, um Zeit mit denen zu verbringen, die dem Leben Tiefe und Freude bringen. Ich denke, dass jeder und jede von uns Momente oder gar ganze Abschnitte im eigenen Leben benennen könnte, wo es solches Glück gab. Und natürlich ist da auch der Mensch – die Frau, der Mann –, den man liebt. Berührung, Zärtlichkeit, Intimität – all die Dinge, über die man in der Kirche selten spricht, die aber in die Mitte des Lebens gehören, sind Quellen des Glücks, das Gott schenkt. Und um auch das zu sagen: Dem Prediger war es vermutlich ziemlich egal, wie Männer und Frauen in welchen Kombinationen zueinander finden. Weil man solches Glück eben nicht machen und niemandem garantieren kann, darf man es auch nicht hindern, wo es sich zeigt.

Der Prediger will uns von den dunklen Rändern unserer Ahnungen, Hoffnung und Ängste in die Mitte eines aktiven Lebens führen, das man mit den Menschen teilt, die einem guttun und die man sogar liebt. Das gelingt aber eben nur, wenn man die vielen sinnleeren und bedeutungslosen Dinge, das Haschen nach Wind, sein lässt; Dinge, die man nur tut, weil man meint, damit im Leben voranzukommen.

Um diese Mitte herum soll man ein Leben bauen, denn diese Mitte wandert mit, egal wie jung oder alt man ist. Für den Prediger ist das Leben im Grunde kein Weg, keine Straße, die irgendwann einmal begonnen hat und irgendwo enden wird. Ein glückliches Leben ist ein Reigen um die Mitte, in der das Glück zuhause ist. Die dunklen Ränder der Ahnungen und Ängste bleiben. Unser Prediger ist viel zu sehr Realist, um das jemals zu vergessen. Aber diese Ränder verlieren ihre bedrohliche Aura.

Liebe Gemeinde, ich hatte vorhin gefragt, ob das, was der Prediger sagt, zu einer christlichen Botschaft taugt, wo er uns doch einhämmert, dass selbst das größte Glück vergeht und nichts davon bleibt. Vielleicht kann man aber doch etwas mutiger sein als es der Prediger zu seiner Zeit war. Mir ist ein Trauergespräch in Erinnerung. Da erzählten die Angehörigen davon, dass ihr verstorbener Vater am Ende seines Lebens sagte, dass er nun dahin wolle, wo seine Frau, die Liebe seines Lebens, sei. Solche Sätze hört man immer wieder und könnte sie als sentimentale Melancholie abtun. Aber ich denke da ist mehr. Wer sich das wünscht, sagt damit, was ihm im Leben Glück beschert hat und dass das so wertvoll war, dass es in keinem Jenseits durch etwas anderes ersetzt werden kann.  Wer wirklich glücklich war, kann eigentlich gar nicht anders, als darauf hoffen, dass Gott daraus eine Ewigkeit macht. Und wenn es denn wirklich so ist, wie der Prediger sagt, und Gott dem Menschen Glück schenkt, dann darf man hoffen, dass dieses Geschenk bleibt – in dieser Welt und welche auch immer danach kommt.

Amen.