Predigt über Römer 11,25ff

  • 16.08.2020 , 10. Sonntag nach Trinitatis
  • Pfarrer Martin Hundertmark

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus.

Liebe Gemeinde,

hoch erhaben prägt der Dom mit seiner gleich neben ihm stehenden Schwesterkirche das Bild der Altstadt von Erfurt. Seine einladenden Domstufen machen den beschwerlichen Aufstieg zum Portal etwas leichter. Oben stehend fasziniert das Triangelportal. An dessen Westseite ist in vortrefflicher gotischer Bildhauerkunst das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen aus dem Matthäusevangelium abgebildet (Mt 25). Während uns im Gleichnis auf jeder Seite fünf Jungfrauen begegnen, sind es am Westportal insgesamt zwölf Figuren. Den klugen Jungfrauen ist die siegreich, triumphierende „Ecclesia“ zur Seite gestellt, den törichten Jungfrauen die tumb dreinblickende Synagoge. Sie hält ihre Augen geschlossen und streichelt mit der rechten Hand den Sündenbock. Die mittelalterliche künstlerische Auslegung von Römer 11 „Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren“, ist uns heute ein wichtiges Zeugnis dafür, wie unsere Vorfahren theologisch gedacht und gelebt haben. Gleichzeitig wurde immer wieder auf diese Anschauung verwiesen, wenn es galt, Juden zu diskriminieren oder schlimmer noch, sie mittels Pogrome aus der Stadt zu vertreiben oder sie zu töten. Bibelverse können verheerende Wirkung entfalten, wenn sie denn für eigene, meist politische, Interessen, missbraucht werden. So wird heute das Portal natürlich als politisch nicht korrekt angesehen und gelegentlich flammen Diskussionen auf, solche Plastiken zu entfernen, weil sie störend und verstörend sind. Die Auseinandersetzung damit lässt sich nicht durch Verbote ersetzen. So bleibt zu hoffen, dass die aktionistische Bilderstürmerei nicht zum Maßstab des Handelns wird, sondern die theologische, gesellschaftliche und pädagogische Auseinandersetzung mit unserer je eigenen Kirchen-Geschichte.

Stellt sich nun die Frage nach Ecclesia oder Synagoge oder wird daraus nicht vielmehr die gewiss machende Antwort Ecclesia und Synagoge!
Im gesamten Abschnitt 9-11 des Römerbriefes treiben Paulus genau diese Gedanken um. Fragezeichen als Ausschlusskriterium oder Ausrufezeichen mit verbindendem Charakter. Dabei ist der Apostel zutiefst traurig. Warum erkennt mein eigenes Volk nicht Jesus als den Messias an? Was nützt es mir, wenn ich auf dem richtigen Wege bin, aber die, die mir nahe sind, weigern sich, diesen zu gehen?

Liebe Gemeinde, solcherlei Hadern ist zeitlos. Wie viele Großeltern wünschten sich, dass ihre Enkel den Weg zu Gott und in die Kirche finden. Aber sie weigern sich beharrlich und vehement. Wie viele Mütter und Väter mühen sich ab, etwas vom christlichen Glauben ihren Kindern zu vermitteln, doch jene interessieren sich schlicht nicht dafür. Wer weiß, dass er auf dem richtigen Weg ist, für den wird es umso schmerzlicher, ertragen zu müssen, wenn diejenigen, die man lieb hat, bewusst einen anderen Weg gehen. Paulus ringt mit sich und mit seinem Gott. Dabei braucht es eine Weile, bis er Frieden machen kann. Genau genommen sind es drei Schritte, die sich über die drei Kapitel des Römerbriefes, Kapitel 9-11 ziehen.
Im ersten Schritt spiritualisiert Paulus den Begriff „Israel“. Gottes Verheißungen haben sich an den Glaubenden aus Juden und Heiden erfüllt, obwohl ganz Israel die Verheißung empfangen hat.

Im zweiten Schritt beschäftigt den Apostel die Frage „Was ist denn nun mit meinem Volk?“ Und so kommt er zum Schluss, dass es aus dem gesamten Volk Israel einen gewissermaßen heiligen Rest gibt, der das Evangelium angenommen hat. Christusgläubige Menschen erwachsen nicht ausschließlich aus Heiden, also jenen, die keine biblische Vorkenntnis haben, sondern auch aus Juden. Solche Judenchristen bilden in den Augen des Paulus jenen heiligen Rest des gesamten Volkes.
Doch im Weiterdenken merkt Paulus selbst, dass diese Antwort noch nicht wirklich befriedigend ist. Der tief empfundene Schmerz über die bewusste Weigerung, den Glauben an Christus anzunehmen, treibt ihn weiter um. Soll es das schon gewesen sein? Wo bleiben die Verheißungen Gottes an das große Volk Israel? Nein, nur der Weg zum großen Ziel ist beschwerlich und auch für Gott schmerzlich. Ihn schmerzt es genauso, wenn seine Menschenkinder einen Panzer um sich legen, damit das Evangelium nicht zu ihren Herzen vordringen kann. Das war übrigens schon vor der Geburt Jesu Christi so, wie uns die Erzählungen z. B. aus dem Richterbuch zeigen.

Israelkritik, theologisch

Theologische Israelkritik nach Römer 9-11 ist heute immer Kritik am gesamten Gottesvolk, also an Kirche und Synagoge. Wir haben die gleichen Wurzeln, sind Geschwister im Glauben auf unterschiedlichen Wegen. Sich dessen bewusst zu machen, dafür steht der Israelsonntag als fester Termin im kirchenjahreszeitlichen Kalender. In der großen Menge der Gotteskinder gab, gibt und wird es immer welche geben, die sich von ihm entfernen. Haben wir also ein Auge auf sie. Dieser Blick sollte dann nicht von Überheblichkeit gespeist werden. Wer kann schon von sich aus sicher sagen, niemals zu versagen im Blick auf den eigenen Glauben und die damit verbundene Treue? Ja, ein Teil des Gottesvolkes ist verstockt und findet keinen Zugang zu ihm. Angesichts von knapp fünfhunderttausend Nichtgläubigen in unserer Stadt ist diese Erkenntnis nun nicht sonderlich neu. Tröstlich ist aber Gottes Treue. Sie bleibt, da mag kommen was will. „Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.“ Wo sich in schwindelerregende Geschwindigkeit, Treueverhältnisse ändern oder in Luft auflösen, tut es gut, sich eines treuen Gottes vergewissern zu können. Mag menschliche Treue brüchig sein, göttliche ist es nicht, auch über Jahrtausende hinweg nicht. Deshalb stehen wir Seite an Seite mit unseren jüdischen Geschwistern. Wir tun dies erst recht dort, wo ein neu aufkeimender Antisemitismus die gemeinsamen Wurzeln leugnen und einen gesellschaftlichen Keil zwischen Juden und andere Menschen treiben will. Da darf die Ecclesia nicht schweigen, weil ihr Schweigen vor gut achtzig Jahren tausenden Juden das Leben gekostet hat.

Gottes Lieblingskinder

Paulus, der Apostel, leidet darunter, dass aus seinem Volk sich nur wenige geöffnet haben für das barmherzige Handeln Gottes in Jesus Christus. Ihn treibt weiter die Frage um, wie denn die Verheißungen sich erfüllen können, ohne dass daraus Überheblichkeit der Einen gegenüber den Anderen erwächst. Dabei hilft ihm die kleine zeitliche, aber entscheidende Lücke: „Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, bis die volle Zahl der Heiden hinzugekommen ist“. Diese Erkenntnis lässt sich nun in zweierlei Richtung ausdeuten. Erstens wird den jüdischen Geschwistern ermöglich, sich weiterhin auf den Weg zu machen. Verstockung ist nur ein temporäres Ereignis und keine endgültige Aussage mit dem Ergebnis einer endgültigen Verwerfung. Die verheerende Auslegungsgeschichte des Verstockungsmotivs entspricht einfach in keiner Weise dem textlichen Befund des Römerbriefes. Während jetzt Gottes jüngere Lieblingskinder die Chance bekommen, zum Glauben zu finden, bleiben die älteren Lieblingskinder stets im Gedächtnis Gottes. Auch sie finden sich in seiner Barmherzigkeit wieder. Freilich nicht exklusiv, sondern auf einer Ebene mit den neu Hinzugekommenen. Zweitens ist diese Aussage zeitlos und lässt sich stets in die unmittelbare Gegenwart übertragen. Für jede Gemeinde gilt, dass die neu hinzugewonnenen Menschen mit anderen Impulsen das innere und äußere Leben der Gemeinde bereichern. Wer schon von Geburt an dabei war, hat kein besonderes Anrecht gegenüber dem als Erwachsenen Getauften. Wem der Zugang zum Glauben, sei es aus eigener Verantwortung oder seien es äußere Umstände, verwehrt blieb, ist deswegen noch lange nicht verloren. Größer als unsere eigenen Gedanken und Taten ist am Ende Gottes liebevolle Zuwendung hin zu jedem. Dabei ist entscheidend, dass das Ziel, nämlich alle in das Erbarmen Gottes einzuschließen, hell und deutlich am theologischen Horizont leuchtet. Weil Paulus das erkannt hat und es ihm gleichzeitig dennoch rätselhaft erscheint, wie der Weg dahin aussehen kann, spricht er vom Mysterium, also vom Geheimnis des Handelns Gottes. Aber vielleicht ist das Geheimnis gar nicht so groß, als dass es nicht fassbar wäre, nur eben nicht mit dem Verstand?

Pädagogischer Ausblick

Ich stehe mit einer Gruppe Kurrendekinder vor dem Portal des Erfurter Doms. Sie sind zwischen acht und zwölf Jahre alt. Wir erschließen uns die Portalplastiken mit den törichten und klugen Jungfrauen. Schnell merken die Kinder, dass hier etwas nicht stimmt, dass die eine Seite herabgewürdigt wird. Die Gesichter der Figuren zeigen das sehr deutlich. Als die Kinder dann erfahren, dass es sich hier um ein Bild für Christen und Juden handelt, sind sie erschrocken. „Gott hat doch alle lieb“, sagt ein Mädchen. „Ja“, antworte ich ihr. „Leider haben das die Menschen immer mal wieder vergessen, wie man hier sehen kann. Deshalb ist es wichtig, daran zu erinnern. Gott ist viel größer als wir uns das vorstellen können.“
Kurz überlege ich, Paulus zu zitieren, lasse es aber, denn das Mädchen hat im Herzen längst verstanden, worum es geht. Amen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als unser Verstehen, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.