Predigt über Römer 12,17-21

  • 05.07.2020 , 4. Sonntag nach Trinitatis
  • Pfarrer i.R. Christian Wolff

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und unserm Herrn Jesus Christus. Amen.

Christen tun sich schwer damit, es allen recht zu machen. Woran das liegt? Alles, wovon wir als Christen überzeugt sind, hat eine universale Gültigkeit. Wir helfen einem kranken, bedürftigen, verzweifelten Menschen ja nicht, weil er mein Nachbar, ein Christ oder ein Deutscher ist. Wir stehen dem Nächsten bei, weil er oder sie ein von Gott ins Leben gerufener Mensch ist. Doch genau diese Glaubensperspektive ist umstritten. Wie oft hören wir oder denken selbst so: Was sollen wir Fremden helfen, wo es bei uns genug Arme gibt? Oder wir meinen: Wir können uns ja nicht um alles und um jeden kümmern. Wir sind doch nicht die Diakoniestation für die ganze Welt.

Doch die 10 Gebote, die Goldene Regel, das Gebot der Nächsten- und Feindesliebe unterscheiden nicht zwischen Mann und Frau, Weiß und Schwarz, schwul und heterosexuell, Jude, Christ oder Moslem. Gott ist keine nationale Größe und nicht gebunden an unsere religiösen Grenzen. Er ist der Schöpfer des Universums. Die Botschaft Jesu gilt nicht nur für eine bestimmte Menschengruppe, die sich irgendwann einmal zur Kirche zusammengefunden hat. Sie richtet sich an alle Welt. Daraus erwachsen immer wieder Konflikte. Denn in dem Moment, in dem wir versuchen, die Anliegen Jesu konsequent in eine gelebte Ethik umzusetzen, erhebt sich Widerspruch.

Seit Jahren wird das Engagement der Kirchen und vieler Christen für Geflüchtete als „Gutmenschentum“ diffamiert oder als unzulässige Einmischung der Kirche in gesellschaftspolitische Vorgänge kritisiert. Man denke nur an den Shitstorm, dem der Ratsvorsitzende der EKD Heinrich Bedford-Strohm ausgesetzt war. Er hatte sich für die Seenotrettung eingesetzt und die EKD-Synode dazu gedrängt, aus Spendengeldern ein Schiff zur Rettung von Geflüchteten im Mittelmeer zu chartern. Nun wird von den Kritikern nicht das tatenlose Zusehen der EU-Staaten beim Ertrinken von Menschen als Skandal angesehen, sondern das Engagement der Kirche für Geflüchtete. In der öffentlichen Debatte geschieht dann zweierlei:

  • Den Christinnen und Christen wird vorgeworfen, sie würden eben nicht mit jedermann in Frieden leben wollen, da ihre Liebe Streit provoziere. Sie werden sozusagen mit ihren eigenen Waffen angegriffen.
  • Der Kirche wird Realitätsferne, Wunschdenken, Gesinnungsethik unterstellt, und ihr wird abverlangt, sie solle sich doch bitte etwas mehr den Realitäten dieser Welt anpassen. 

Das aber stellt der Apostel Paulus infrage. Er schreibt zu Beginn des 12. Kapitels des Römerbriefes, aus dem der Predigttext für diesen Sonntag entnommen ist: Stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene. (Römer 12,2)

Paulus will, dass sich unser Denken, also die Anschauung der Dinge, erneuern. Eine solche Reform ist immer dann überfällig, wenn wir das Entscheidende und Notwendige aus den Augen verlieren und sich die Maßstäbe verwischen, die uns gemeinschaftliches Leben ermöglichen.

Wir leben in einer Zeit, in der nichts mehr selbstverständlich ist: weder Glaubensüberzeugungen noch die Grundwerte, die sich aus ihnen ergeben und die unserem Zusammenleben Fundament und Orientierung verleihen. Gerade in der Coronakrise erleben wir, wie sehr uns diese Werte fehlen bzw. wie notwendig es ist, uns diese neu anzueignen. Denken wir nur an den Umgang mit Kranken, pflegebedürftigen Alten und Sterbenden und an das Spannungsverhältnis von Gesundheitsschutz und Menschenwürde. Diese Spannung schreit geradezu nach dem Beitrag der Kirchen und fordert unseren Glauben heraus. Gerne verweise ich hier auf einen Gastbeitrag unseres Kirchvorstehers Stefan Hüneburg, den Sie auf meiner Homepage finden: http://wolff-christian.de/der-ungebremste-fall-gastbeitrag-von-stefan-hueneburg/.

Aber auch im Predigttext für den heutigen Sonntag ruft uns der Apostel Paulus dazu auf, uns über unverzichtbare ethische Maßstäbe, über den Beitrag der christlichen Gemeinde für die Gesellschaft, über verantwortliches Leben zu verständigen.

17 vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. 18 Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. 19 Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5.Mose 32,35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.« 20 Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22). 21 Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem. (Römer 12,9-21)

Wann immer und wo immer wir gefragt werden: Was ist das Entscheidende am biblischen Glauben, worum sollte es uns Christen gehen?, empfiehlt es sich, dem Fragesteller diesen Abschnitt aus dem Römerbrief, vor allem den 21. Vers vorzulesen:

Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

Dieses Wort aus dem Römerbrief ist ein Katechismus in Kleinstformat, Evangelium in Kurzform. Denn in diesem Satz steckt alles, was uns der biblische Glaube anzubieten hat. Doch wir merken sehr schnell, wie meilenweit entfernt wir im alltäglichen Leben davon sind - wie erneuerungsbedürftig also unser Leben ist. Unser eigentliches Problem ist ja nicht, ob wir uns der Welt gleich machen. Natürlich folgt jeder von uns den Gesetzmäßigkeiten dieser Welt. Gerade die vergangenen Monate haben gezeigt, wie sehr auch die Kirche als Teil dieser Gesellschaft funktioniert. Auch heute Morgen folgen wir den Vorgaben des Gesundheitsamtes. Für manchen hat sich die Kirche in der Coronakrise viel zu willfährig gegenüber dem Staat verhalten. Darüber lässt sich trefflich streiten. Doch die eigentliche Herausforderung steckt in der großen Aufgabe: Wie können wir mit den Maßstäben der biblischen Botschaft das Zusammenleben auf dieser Welt erneuern?

Ja, wie? Paulus schreibt:

Hasst das Böse, hängt dem Guten an. ... vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann ...

Zwar wird diese Jesus gemäße Lebensstrategie durch die Wirklichkeit mehr als infrage gestellt. Zwar wissen wir, dass Abend für Abend auf dutzenden Fernsehkanälen hundertfach dazu das Gegenprogramm gesendet und propagiert wird. Zwar wird nach wie vor gegen Minderheiten gehetzt, unliebsame Zeitgenossen werden mit Gewalt bedroht, von Terror und Krieg ganz zu schweigen. Doch dies kann und darf uns nicht daran hindern, mit Paulus einer vorschnellen Rechtfertigung, Verherrlichung und dem Zulassen von Gewalt entgegenzutreten. Denn das Böse (und das, was wir dafür halten) wird nicht dadurch aus der Welt geschafft, dass es mit vernichtender Gewalt bekämpft wird. Damit lassen wir uns doch nur die Gesetzmäßigkeiten des Handelns von denen aufzwingen, die wir zu bekämpfen meinen. Das Böse kann nur überwunden werden durch das Gute - genauer: durch den, der für uns Menschen das Böse in Gutes umdenkt. Das ist der lebendige Gott. Dass wir heute noch leben, dass wir in der Lage sind, Visionen zukünftigen Lebens zu entwickeln, dass wir der Kraft der Liebe vertrauen können, dass wir trotz aller Kirchenaustritte, trotz institutionellem Versagen der Kirche auf eine Zukunft der Gemeinde Jesu Christi hoffen können - das hat seine Ursache in drei Gewissheiten:

  1. Gott hat immer und immer wieder das Böse in Gutes umgedacht und tut dies auch heute. Erinnern wir uns an die Begegnung zwischen Josef und seinen Brüdern. Da begründet Josef seine Nachsichtigkeit gegenüber seinen Brüdern, die ihn einst umbringen wollten:

Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen. (1. Mose 50,20)

  1. Gott vergibt uns Menschen unsere katastrophalen Fehlleistungen und begegnet uns mit neuem Vertrauen. Das ist die Botschaft der Sintflutgeschichte; diese wurde erneuert durch das Leben und Wirken Jesu.
  2. Gott kehrt zu uns um, die wir zur Umkehr unfähig sind, wendet sich uns zu, ruft uns zu sich ... so wie Jesus noch am Kreuz für den einen Verbrecher das Böse in Gutes gewendet hat.

Trotz der Sintflut, trotz Sodom und Gomorra, trotz vieler Katastrophen, Kriege und Krankheiten, trotz vieler Grausamkeiten, die die Kirchen im Verlauf ihrer Geschichte im Namen Gottes verübt haben - immer hat Gott der anderen Stimme, der Stimme des Evangeliums, der Stimme Jesu Christi zum Durchbruch verholfen: Ihr könnt das Böse mit Gutem überwinden.

Wenn wir das nicht mehr glauben, wenn wir meinen, dass das Böse in der Welt unbesiegbar ist und dass wir uns darum auf die Ebene rächender Gewalt begeben müssen, uns privat bewaffnen und die Todesstrafe einführen, dann verlieren wir alles: die Liebe, die Fröhlichkeit in der Hoffnung, die Geduld in Bedrängnis, die Unermüdlichkeit im Gebet. Mehr noch: Wir verlieren Gott und damit unseren Glauben. Denn wenn wir das Böse mit Bösem vergelten, dann stellen wir uns selbst auf einen göttlichen Sockel und spielen uns als die Herren über Leben und Tod auf. Darum mahnt Paulus sehr eindringlich:

Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes.

Doch dieser Zorn Gottes hat mit dem gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus eine Kehrseite bekommen: die des Guten. Damit hat uns Gott vom Zauberbann, vom Fluch des Bösen, von der elenden Versuchung zur Rache und Selbstjustiz befreit.

So können wir auf die Gewissheit vertrauen, die Dietrich Bonhoeffer in einer bösen Zeit 1943 so wunderbar in seinem Glaubensbekenntnis zum Ausdruck brachte:

Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.

Darum geht es: In allen Dingen, auch in dem Bedrohlichen, Katastrophalen, eben im Bösen den Keim des Guten zu entdecken. Wenn wir uns dafür in Anspruch nehmen lassen, dann sind uns in dieser Welt andere Lebensweisen möglich, nämlich solche, die sich nach den Maßstäben Jesu richten. Ich nenne drei:

  • Die Gewaltlosigkeit, deren Wert wir uns von niemandem klein reden lassen sollten. Sie ist alles andere als ein passives Hinnehmen von Gewalt und Ungerechtigkeit. Sie ist eine gestalterische Kraft der Liebe und allen Gewaltlösungen im Nutzen und Erfolg hoch überlegen.
  • Die Solidarität, die uns den Blick für die Bedürfnisse des Nächsten öffnet.

Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.

schreibt Paulus. Versetzt euch in die Lage des anderen, um seine Anliegen, seine Freuden und Sorgen, seine Verletztheiten zu verstehen. Versucht, vom anderen her eure eigene Lebenslage zu bedenken und ihn in euer Leben einzubeziehen.

  • Die Feindesliebe. Paulus ist da unmissverständlich:

Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht. … Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken.

Mit der Feindesliebe nehmen wir Abschied von dem ausschließenden: „entweder du oder ich“ und erkennen im Feind das Geschöpf Gottes. Dieses hat das gleiche Lebensrecht wie ich selbst. Feindesliebe ist die Haltung der bewussten Deeskalation, der Entschärfung des Dynamits meiner eigenen Begierden, Aggressionen, Ideologien.

Natürlich: gewaltlos leben, solidarisch handeln, den Feind lieben - das ist schwer zu praktizieren. Wir können daran scheitern, auch im Kleinen. Aber was sollen wir denn sonst beitragen zum Leben hier auf Erden, wenn nicht diese Grundanliegen des Glaubens durch Wort und Tat zu kommunizieren und zu bezeugen? Es ist eben ein Unterschied, ob ich eine Lebenshaltung einnehme, deren Grundlage im Zweifelsfall die Gewalt, das Vernichten, das Nichts ist; oder ob ich mein Handeln nach dem ausrichte, an dessen Ende nicht der Tod sondern das Leben, nicht die Vernichtung sondern die Erneuerung, nicht das Böse sondern der Keim des Guten steht. Lassen wir uns jeden Tag neu in diese Verantwortung rufen.

 Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Christian Wolff, Pfarrer i.R.
www.wolff-christian.de
info@wolff-christian.de