Predigt über Römer 2,1-11

  • 20.11.2019 , Buß- und Bettag
  • Pfarrerin Dr. Heike Springhart

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater und unseren Herrn, Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

Greta sieht alles!

Eine Journalistin der Zeitung Ha’aretz hat auf Twitter Fotos aus verschiedenen Büroküchen in Tel Aviv und Jerusalem gesammelt. Zwischen Pappbechern für den Coffee to go und Plastikstäbchen zum Umrühren stehen Postkarten, von denen Greta Thunberg kritisch auf alle schaut, die zum Plastiklöffel greifen. Manchmal steht dann noch „How dare you“ oder „Are you sure?“ unter ihrem Bild – aber das ist unnötig – denn Greta Thunbergs Blick sagt alles.[1]

Zwei Monate nachdem die junge Schwedin mit den Klimastreiks begonnen hatte, entstand in der schwedischen Sprache ein neues Wort: Flugscham. Inzwischen gibt es Steakscham, Plastiktütenscham, Wasserverschwendungsscham ... Es gibt ein gewachsenes Bewusstsein dafür, wie klimafreundliches Verhalten aussieht und gelegentlich hat man den Eindruck, als seien das neueste Erkenntnisse. Dabei wissen wir es längst.

Schon als ich vor 22 Jahren hier in der Thomasgemeinde als Theologiestudentin Praktikantin war, wurde hier fair gehandelter Kaffee ausgeschenkt, gab es selbstverständlich kein Einweggeschirr beim Kirchcafé und wurde auf nachhaltiges Wirtschaften geachtet. Neu war das auch zu dieser Zeit längst nicht mehr.

 

Neu sind jedoch die Empörungswogen in alle Richtungen. Die einen empören sich über die demonstrierenden und schuleschwänzenden Fridays-for-Future-Jugendlichen, die anderen empören sich über die, die immer noch Kreuzfahrten machen, Blisterpackungen kaufen und Plastikzahnbürsten benutzen.

Neu sind Flugscham, Plastiktütenscham und Steakscham.

Neu ist die moralische Aufladung bestimmter Verhaltensweisen.

Neu ist auch die Mischung aus schlechtem Gewissen bei gleichzeitig unverändertem Verhalten.

Die berechtigten und vehementen Aufrufe zu klimagerechtem Verhalten, die aus den Mündern junger demonstrierender Menschen um den Globus hallen, bringen ein regelrechtes blame game mit sich.

 

Ein Klima von Schuldzuweisungen, Scham und trotziger Schamabwehr. Selbst eingefleischte Vielflieger haben mitunter den Satz auf den Lippen „was würde Greta dazu sagen?“. Andere kleben auf ihre SUVs trotzig-infantile Aufkleber „Fuck you, Greta“.

Die Affekte gegen die jugendliche Schwedin gerade auch von wohlsituierten und ansonsten wohltemperierten Zeitgenossen suchen ihresgleichen. Ich frage mich, warum sich eigentlich so viele so vehement und mitunter in tiefsten sprachlichen Entgleisungen von einer jungen Frau wie Greta Thunberg meinen abwenden zu müssen.

O Mensch, du kannst dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der du richtest.

Denn worin du den anderen richtest, verdammst du dich selbst, weil du ebendasselbe tust, was du richtest.  – so der Apostel Paulus in der Epistel, die wir vorhin gehört haben.

 Du Mensch, mit deinem verstockten unbußfertigen Herzen! – poltert Paulus seinen Adressat*innen und uns entgegen.

Du Mensch mit Herz und Hirn, du weißt längst, was gut und was richtig wäre – aber der Weg vom Wissen zum Tun ist unendlich weit.

Du Mensch, der du immer wieder in dieselben Verhaltensmuster tappst – immer wieder dieselben Worte sagst, von denen schon klar ist, dass sie am Familientisch den Krach provozieren.

Immer wieder dieselbe Spirale aus Nichtverstehen, Neid und Missgunst im Büro, der die Arbeit und das kollegiale Miteinander für alle zur Qual machen.

Immer wieder dieselben Spielchen um Wissensvorsprung, Deutungsmacht oder anzügliche Bemerkungen, die andere zum Schweigen bringen und kleinmachen in Hörsälen und Konferenzräumen.

 

Es ist die menschliche Unwilligkeit, eingefahrene Lösungswege zu verlassen und eingespielte Gewohnheiten zu verändern, die Paulus mit scharfen Worten anprangert.

Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet?

Das ist der entscheidende Satz: es ist Gottes Güte, die den Weg für Lernprozesse und für nachhaltige Veränderungen im Verhalten und Leben ermöglicht. Paulus erinnert daran, dass es einen gehörigen Befreiungsimpuls bedeuten kann, wenn ich mich aus eingefahrenen Verhaltensmustern befreie. Und dass diese Befreiung nicht allein aus meinen Stücken passiert.

Das wissen nicht nur die, die sich aus einer Sucht befreien konnten.

Das wissen auch die, die die Möglichkeit hatten, in ihrem Leben noch einmal ganz neu anzufangen: die sich aus einer beklemmenden Beziehung lösen konnten oder in ihrer Beziehung eine verfahrene Krise überwinden konnten.

Und die, die den schwierigen Schritt auf jemanden zugehen konnten, dem sie Leid zugefügt haben – und ihn oder sie um Verzeihung gebeten haben.

 Der Buß- und Bettag ist ein Tag der Befreiung aus verzwickten und verstrickten Verhaltensmustern.

Und ein Tag des Klimawandels: vom Klima der Beschämung und des Unfriedens hin zu einem Klima, das es ermöglicht, dass wir uns eingestehen, dass wir auf dem Holzweg sind, das einen Blick in die eigene Vergangenheit ermöglicht und das selbstkritische Eingeständnis von Schuld. Hin zum Friedensklima.

Buße ist für Paulus kein einmaliger Akt, schon gar nicht eine Kompensationsleistung für geschehenes Unrecht.

Buße braucht langen Atem und Geduld, ist Umkehr und nachhaltige, mitunter schmerzliche Verhaltensänderung, die sich im Konkreten zeigt.

Solche Buße und Bußfertigkeit wächst nicht in einem Klima aus Hetze und Häme, auch nicht in einem gesellschaftlichen Klima, in dem an den öffentlichen Prangern – seien sie digital, seien sie Rednerpulte oder Kanzeln – jede Schwachstelle beschämend ans Licht gezerrt wird.

Solche Buße und Bußfertigkeit braucht Nachdenklichkeit und Selbstkritik. Braucht Mut für das klare Wort zum richtigen Zeitpunkt. Und Raum für das Ringen um den richtigen Weg. Sie wird möglich, weil Gott selbst geduldig und langmutig den Weg dazu ebnet. Wo wir das ernstnehmen, gibt es einen Wandel hin zu einem Friedensklima – auch in der Kirche. Solches Friedensklima sieht nicht an geschehenem Unrecht vorbei – im Gegenteil: in einem solchen Klima wird es möglich, dem was zu Unrecht geschah, ins Auge zu sehen.

Was Buße als Lernbereitschaft heißen kann, wird derzeit im Umgang der Evangelischen Kirche mit sexualisierter Gewalt deutlich. Bei der EKD-Synode in der letzten Woche in Dresden wurde beides verhandelt: der Friedensauftag der Kirche und der Umgang oder auch die sogenannte „Aufarbeitung“ sexualisierter Gewalt, die auch unter dem Dach der evangelischen Kirche in Jugendarbeit, Seelsorge, Heimen und auf Freizeiten geschah und vermutlich – leider – auch immer noch geschieht. Buße und Lernbereitschaft der evangelischen Kirche hat sich hier im vergangenen Jahr vor allem als Bereitschaft gezeigt, hinzuhören und zu fragen, was Opfer brauchen, um überhaupt erst einmal das Schweigen zu brechen. Buße als Lernbereitschaft heißt hier, das Erschrecken wahrzunehmen und sich dem auszusetzen, dass auch in der evangelischen Kirche sexualisierte Gewalt passiert. Der eingeschlagene Weg ist ein Weg, der weg von der Fixierung auf die Täter, hin zum offenen Ohr und dem Blick auf die Opfer geht.

 Das ist vielleicht das Wichtigste: das offene Ohr und Herz für die Geschichten der Opfer – seitens aller, die in der Seelsorge tätig sind, vor allem aber auch seitens der öffentlichen Vertreter*innen der Kirche. In einem solchen Friedensklima ist kein Platz für das Spiel, das die Opfer immer wieder beschuldigt und vorwurfsvoll fragt: „Warum melden die sich jetzt erst?“ - „Stimmt das überhaupt alles so?“ - „Warum haben die sich nicht gewehrt?“

Buße und Lernbereitschaft bedeutet hier: nicht die Opfer kritisch zu befragen, sondern die Täterinnen und Täter. Herzen, die nicht verstockt sind, lassen das Leid der Opfer an sich heran.

O, Mensch, du kannst dich nicht entschuldigen.

Die Worte aus dem Brief des Paulus an die Gemeinde in Rom richten meinen Umgang mit Buße, aber auch mit Recht und Gerechtigkeit neu aus. Vom Gericht Gottes her werden wir neu ausgerichtet auf einen Lernweg hin zu neuen Perspektiven. Das Gericht Gottes und sein Urteil ist ein Wiederhall von Gottes Güte, Geduld und Langmut. Christfried Böttrich, auch ein ehemaliger Leipziger, hat es prägnant auf den Punkt gebracht: „Gott ist keine Politesse, die am Tag des Gerichts unsere Ordnungswidrigkeiten abkassiert.“

Vielmehr, so möchte ich ergänzen: Gottes Güte, Geduld und Langmut zeigt sich auch im Gericht darin, dass er sich auf die Seite der Geschunden stellt, dass er Recht aufrichtet, dass aus Unfrieden Frieden wird. Gottes Gerechtigkeit und Gottes Barmherzigkeit sind zwei Seiten der Medaille, durch die seine Güte, Geduld und Langmut leuchtet.

Es ist nicht gleichgültig, wie wir handeln und uns verhalten. Paulus schreibt es uns heute ins Stammbuch:

Gott gibt jedem nach seinen Werken: ewiges Leben denen, die in aller Geduld mit guten Werken trachten nach Herrlichkeit, Ehre und unvergänglichem Leben; Zorn und Grimm aber denen, die streitsüchtig sind und der Wahrheit nicht gehorchen.

Das Urteil Gottes richtet Recht auf und uns Menschen aus. Es öffnet den Weg zu einer Richtungsänderung und zu neuen Lernwegen. Das kann unbequem sein, das stellt mich in Frage und fordert mich heraus. Aber es hilft zu einem Wandel hin zum Friedensklima. Für Selbstentschuldigungsrituale ist dann kein Platz mehr – aber auch nicht für selbstgerechtes Anklagen, das anprangernd nur die Schuld beim anderen sucht.

Im Licht der Gerechtigkeit Gottes wird Kirche so als Gemeinschaft spürbar, die die Wahrheit nicht besitzt – sondern die auf der Suche nach Wahrheit und Gewissheit unterwegs ist. Dabei wird sie immer wieder in die Irre gehen – und es kommt darauf an, den selbstkritischen Blick nicht zu verlieren.

So kann sie dann auch prophetisch sprechen und die Stimme mutig erheben – für den Wandel des gesellschaftlichen Klimas und gegen den menschengemachten Klimawandel.

 Und Greta? Sie rüttelt mutig und unerschrocken auf und mahnt zur Umkehr – aber auch dann, wenn wir an dem scheitern, was angesichts der Mahnungen zu tun ist, müssen wir nicht vor Scham im Boden versinken.

Die Verheißung des Reiches Gottes und die Aussicht auf den umfassenden Frieden richtet uns auf und aus.

So können wir unsere Füße auf den Weg des Friedens im Großen und Kleinen richten. Frieden, Zukunft und das Leben in Fülle sind uns verheißen – daran sollen wir unser Handeln ausrichten.

Aber: wir retten die Welt nicht! Die Rettung der Welt ist uns verheißen.

So wächst ein Friedensklima, in dem wir sehr konkrete Lernschritte gehen können –

hin zu einem verantwortungsvollen Leben und Gebrauch der Ressourcen,

hin zu einer Gerechtigkeit zwischen Frauen und Männern,

hin zu einem gesellschaftlichen Klima, in dem Hass und Hetze keinen Raum haben – nicht auf den Marktplätzen und nicht im Netz.

Hin zum umfassenden und vollständigen Frieden Gottes, dem Shalom.

Dieser Friede, der höher ist als all unsere Vernunft bewahre und behüte uns. Er schenke uns mutige Herzen und wache Sinne, in Christus Jesus.

Amen.

Pfarrerin PD Dr. Heike Springhart

Schwarzwaldstr. 61

75173 Pforzheim

heike.springhart@ekiba.de


[1] Quelle: taz, 9./10.11.2019, S. 17.